DOMINIK BERNET

EINE FALSCHE BEWEGUNG

ESSAY

Es war ein Auftrag: Harry Horn, 54, Kriminalkommissar. Ich kannte Harry in- und auswendig. Ich wusste, woher er kam und wohin er gehen würde. Harry war meine Marionette. Harry war Routine. Das machte den Auftrag gefährlich. In meinem Metier gibt es nichts Gefährlicheres als absolute Kontrolle. Sie lullt die Instinkte ein, lähmt die Reflexe. Du meinst, du bewegst dich, doch du sitzt fest. Ein Auftrag wie Harry war ein sicheres Geschäft, eine Falle. Doch ich brauchte das Geld. Nun sass ich also an meinem Schreibtisch. Nichts bewegte sich, nur der Countdown lief. Harry lungerte in seinem Stammcafé herum und schaute gelangweilt auf die Uhr. Er wartete auf den nächsten Mord. Den konnte er haben. Die Kugel drang in Harrys rechtes Auge, mit dem er eben noch der Kellnerin zugezwinkert hatte, und verteilte sein Hirn auf dem Kuchenbuffet.

Die Vorstellung war süss, aber zu simpel. Sie brachte mich dennoch weiter. Wenigstens bis zum Kühlschrank, in dem ich ein Stück Quarktorte vermutete. Ich konnte Harry nicht einfach so erledigen. Auch wenn ich ihn jetzt hasste, hatte ich ihn einst geliebt. Seine Eitelkeit, sein Wahn und seine Methode waren meine Erfindung. Ich hatte Harry zu dem gemacht, was er war. Er hatte mir so manches Stück Quarktorte beschert und würde mich auch dieses Jahr über die Runden bringen. Wenn ich den Auftrag erfüllte.

Wenigstens hasste ich Harry. In meinem Metier gibt es nichts Tödlicheres als Gleichgültigkeit. Nur wenn mich etwas bewegt, mich berührt oder aufregt, kann ich auch andere bewegen: die Figuren, die Schauspieler, die Zuschauer. Ob es nun Hass war oder doch eher Neid oder gar Missgunst, es würde mich in Gang halten. Die Emotion war jedoch erst der Treibstoff. Ich brauchte noch einen Zünder. Ein Schuss, ein Stich, ein Schnitt. Nur schade, dass es nicht Harry treffen durfte. Dafür waren die Täter und die Opfer da.

Eva fand, ich würde mich in beiden Positionen gut machen, am besten gleichzeitig. Eva war meine Freundin. Sie hasste Harry noch eine Spur mehr als ich, wenn auch aus andern Motiven. Sie hasste, was Harry aus mir machte. Wenn ich an einem Harry-Horn-Drehbuch schrieb, schrieb Eva mich ab. Harry war der Hauptgrund, weshalb Eva und ich nicht zusammen wohnten. Entweder er oder ich, postulierte sie. Zu dritt würden wir mindestens drei Stockwerke benötigen, und die konnten wir uns nicht leisten. Eva hatte so viele Gründe wie ich, Harry umzubringen. Trotzdem hatte sie mehr als einmal dafür gesorgt, dass er weiterlebte. Das verdankte Harry nicht Evas grossem Herz, sondern ihren guten Ideen. Wie zum Beispiel jene, dass ich mich als Täter wie auch als Opfer anböte.

Prompt sah ich mich bäuchlings im Pool treiben, Blutschwaden trübten türkisblaues Wasser, die Luftmatratze hatte ein Loch. Als man mich wendet, glotze nicht ich, sondern Charles Lehm in den Himmel. Lehm ist fünfundsiebzig und einer jener beneidenswerten Schriftsteller, die sowohl bei den Kritikern als auch beim Publikum ankommen. Selbst Harry Horn liest Lehm. Deshalb erkennt der Kommissar sofort, dass der Schriftsteller auf dieselbe Art ermordet wurde wie eines der Opfer in dessen jüngstem Roman. Diese Idee sei mindestens so alt wie Agatha Christie, erinnerte mich Eva. Doch Harry Horn ermittelte bereits. Bald würde er begreifen, dass er es mit einem Serientäter zu tun hatte. Genau wie sie auch, bemerkte Eva. Lehm wäre in ein paar Wochen für den Muselin-Literaturpreis nominiert worden, den grössten und wichtigsten seiner Art im deutschsprachigen Raum, der nur alle vier Jahre verliehen wurde. Nicht noch mehr Autoren, stöhnte Eva. Es half nichts. Denn einer der Mitnominierten für den Muselin-Literaturpreis war das nächste Opfer – das Harry in letzter Sekunde vor den Kugeln eines Profikillers rettet. Letzterer führt den Kommissar schliesslich zum eigentlichen Drahtzieher. Ich solle sie raten lassen, gähnte Eva. Ein frustrierter, vom lebenslangen Neid zerfressener Autor, der diesen Muselin-Literaturpreis unbedingt wollte, da er nur noch ein Jahr zu leben hatte.

Die Idee mit dem letzten Lebensjahr war neu und vielleicht etwas forciert, ansonsten hatte Eva wie gewohnt richtig kombiniert. Sie fand den Plot peinlich. Meine Produzentin hingegen erkannte das Potenzial. Autoren seien stets dankbare Opfer. Lediglich die Liebesgeschichte fehlte ihr noch. Auch die Fernsehredaktion hatte keine grundsätzlichen Einwände. Schliesslich lebte ein Harry-Horn-Film vor allem von der Präsenz Christian Krons, der bereits zum siebten Mal in die Rolle des launigen Kommissars schlüpfen würde. Mit einem Publikumsliebling wie Kron in der Hauptrolle könne man eigentlich auch das Telefonbuch verfilmen. Vermutlich waren es solche Aussagen, die mein Verhältnis zu Harry Horn über die Jahre hinweg getrübt und mein Interesse an Profikillern genährt hatten. Immer wieder hatte ich versucht, Harry ins Fadenkreuz eines Berufsmörders zu schreiben, doch die Redaktion hatte stets wohlbegründete Einwände. Sie warnte mich auch dieses Mal – zwei Sätze nach dem Tiefschlag mit dem Telefonbuch – meinen Killer nicht zu gross werden zu lassen. So sassen wir dann an meinem Schreibtisch, mein Ingrimm und ich, und entwarfen unsere bisher üppigste Killerbiografie. Lino Campoleone war Dop­pelbürger, die Mutter Zürcherin, der Vater Sizilianer. Diese Verbindung von Schweizer Präzision und italienischem Brauchtum schien mir eine solide Grundlage für erfolgreiches Handwerk. Der frühe Tod der Mutter, die Umsiedlung nach Süditalien und die väterliche Verknüpfung zur Cosa Nostra halfen massgeblich dabei, einen effizienten Berufsmörder heranwachsen zu lassen. Keine Bestie, kein Psychopath, kein kalter Fiesling, ein einfacher Handelsreisender mit dem ultimativen Angebot. Lino tötet, wie andere Versicherungen verkaufen oder Drehbücher schreiben. Er versteht sein Handwerk, er ist stolz darauf. Bei Lino trifft die erste Kugel, sitzt der erste Stich, sein Gift wirkt beim ersten Bissen tödlich. Seine Kunden – so nennt Lino seine Opfer – wären ihm dankbar, wenn sie seine Arbeit mit jener der Konkurrenz vergleichen könnten. Denn sterben würden sie ohnehin, es fragte sich lediglich, wie gut. Lino meint dies keineswegs zynisch. Er ist ein Perfektionist, ein Pedant. Das macht seinen Erfolg aus. Er lebt sich in seine Kunden hinein und lässt sie bedürfnisgerecht sterben. Für Lino ist das Leben ein Handwerk, das in glücklichen Momenten zur Kunst avanciert. In einem tadellosen Tod etwa.

Nicht jeder seiner fünfunddreissig Kunden hatte dieses Glück. Wenn das Leben dem sicheren Tod noch ein paar Sekunden abrang, entschuldigte sich Lino bei der Leiche. Auch wenn er ein schönes Sofa bespritzte oder ein Kristallglas zerbrach. Linos sechsunddreissigster Auftrag hatte ebenfalls einen Schönheitsfehler. Waren es die Blutschwaden im Wasser, war es das Loch in der Luftmatratze? Ein diffuses Nörgeln lag in der Luft. Was immer ich auch änderte an Lehms Todesart, der Protest in meinem Kopf wurde lauter. Am Ende liess ich Lehm im Pool und das Loch in der Luftmatratze und ging ins Bett. Dieser Killer hatte sich schon viel zu breit gemacht in meinem Kopf. Ich musste mich auf das Wesentliche konzentrieren. Lino und Lehms Leiche waren bloss der Anlass für Harry Horns Auftritt. Ein Schuss, ein Liter Blut, ein Toter. Reine Routine, am nächsten Tag konnte es weitergehen.

Es ging auch weiter, auf Harry war Verlass. Ganz im Gegensatz zu Lino, der sich gegen seine Festnahme sträubte. Dabei hatte ich alles in die Wege geleitet: Harry höchstpersönlich überwachte Linos zweites Opfer, sodass er den Killer auf frischer Tat ertappen würde. Doch der liess sich nicht ertappen. Harrys Falle war gut, Linos Instinkt besser. Er widersetzte sich selbst meiner auktorialen Autorität. Als ich Harry von hinten an den Killer anschleichen liess, war der einfach nicht mehr da. Dabei hatte ich ihn eigens dort positioniert, den Gewehrkolben an der Wange, den Finger am Abzug. Harry hätte ihm die Dienstwaffe ins Genick gedrückt und keine Bewegung gesagt. Nun stand der Kommissar im Gebüsch und fluchte in sein Funkmikrofon, der Verdächtige sei flüchtig.

Dass Figuren sich verselbständigten, war eigentlich erfreulich. Aus Marionetten werden Lebewesen, Schreiben wird zum Dialog. Dass sich eine Figur aber gänzlich meinem Willen entzog, war eine neue Erfahrung. Lino war spurlos verschwunden, die Ermittlungen stockten, ich sass fest. Dieser kleine Killer, dieses Mittelchen zum Zweck, hatte die Frechheit, Harry Horns grossen Erzählbogen zu stören. Er hatte sich offensichtlich an die Aufmerksamkeit gewöhnt, die ich ihm geschenkt hatte. Was immer ich auch versuchte, die Geschichte stagnierte. In meinem Metier gibt es nichts Berüchtigteres als Stillstand. Sind die Segel leer, beginnt das Rudern im Kreis. Dabei gibt es nichts Verheissungsvolleres als eine Flaute. Ich hatte mit den Jahren gelernt, die Ruder gar nicht erst auszulegen. Ich lehnte mich zurück und wartete auf Wind. Alles, was ich bei Stillstand brauchte, war genügend Proviant, ein weiches Sofa und einen gesunden Schlaf. Der Rest würde sich von alleine ergeben.

Ich erwachte mit akuter Atemnot und einem metallenen Gegenstand an der Schläfe. Es war eine Pistole, eine Hand über meinem Mund verhinderte, dass ich schrie. Mein Herz raste, Schweiss drang aus meinen Poren, meine Zunge klebte am Gaumen. Ein Mann knurrte meinen Namen, ich bestätigte mit einem Nicken. Seine Stimme, sein Gesicht, selbst seine Fünfundvierziger waren mir seltsam vertraut. Da bedrohte mich ein Bekannter, den ich noch nie gesehen hatte. Als er auf meinen Schreibtisch deutete und mich fragte, ob ich das geschrieben habe, begriff ich, dass ich träumte. Wie sonst könnte mir Lino Campoleone seine Knarre an den Kopf drücken? Ich schloss die Augen, ich wollte aufzuwachen. Aber Linos Ohrfeige machte mir unmissverständlich klar, dass ich wach und er real war.

Unglaubliches glaubhaft zu machen, gehört zu meinem Job. Doch das ging zu weit. Das konnte und wollte ich nicht glauben. Lieber wollte ich mich in die geschlossene Abteilung der Psychiatrischen Universitätsklinik einweisen als in meinen eigenen vier Wänden von einem fleischgewordenen Hirngespinst in Schach gehalten zu werden. Ich richtete mich auf, das Produkt meiner Fantasie drückte mich ins Sofa zurück. Beim nächsten Anlauf fand ich mich auf dem Parkett wieder, meine Nase blutete. Kein Zweifel, Lino existierte. Und er war über meine Existenz mindestens so aufgebracht wie ich über seine.

Seit ein paar Tagen fühlte sich Lino besessen. Er tat Dinge, die er sonst niemals tun würde. Zum Beispiel Lehm liquidieren. Er hatte dessen jüngsten Roman gelesen. Über eine Woche hatte er für die 320 Seiten gebraucht, er las sonst nie. Das Buch hatte ihm gefallen, auch wenn der Serientäter sich wie ein Amateur aufführte. Der wäre bereits nach der ersten Tat geschnappt worden. Lino konnte die Autoren auf seiner Liste unmöglich wie vom Auftraggeber verlangt nach dieser Romanvorlage eliminieren. Er hätte Lehm niemals liquidiert, zumindest nicht derart dilettantisch. Wie ferngesteuert kam er sich vor, redete sich widersinnige Befehle ein, denen er sich trotz grösster Willensanstrengung nicht widersetzen konnte. Beim zweiten Kunden wäre er gefasst worden, wenn sich Harry Horn nicht so stümperhaft verhalten hätte. Lino googelte den Kommissar. Zuerst glaubte er an einen Scherz. Wenn Harry Horn ein Filmkommissar war, was war denn er? Lino war es wie ich gewohnt, am Drücker zu sein. Lino war stets Herr der Lage. Er war der Täter, die andern waren die Opfer. Nun sollte er plötzlich eine Filmfigur sein? Eine derart grundsätzliche Verkehrung der Umstände verunsicherte selbst einen Mann wie Lino. Er dachte an seinen Onkel Benito. Der hatte auch die seltsamsten Dinge gesehen und gehört. Kopflose Carabinieri verlasen mehrbändige Haftbefehle, kürbisgrosse Kakerlaken tanzten Tarantella, sein Namensvetter Mussolini spie im Papstgewand schleimgelbe Flüche an die Tapete. Eines Morgens beendete Onkel Benito seinen Wahn mit einer Ladung Schrot. Lino würde seine 45er benutzen. Aber erst wollte er sicher sein, dass er wirklich Onkel Benitos Erbe angetreten hatte.

Ich rang mit derselben Frage, die Pistole an meiner Schläfe machte mir das Denken nicht einfacher. Lino, berufsbedingt pragmatischer als ich, stellte sich schneller auf die neue Situation ein. Ich hatte seine Arbeit versaut, ich sollte sie wieder in Ordnung bringen. Kein Problem, log ich und schlug vor, Linos Tötungsauftrag zu stornieren. Ich wollte Zeit gewinnen. Vielleicht war dieser Eindringling auch einfach ein Irrer, der meine Drehbuchentwürfe in die Hände bekommen hatte. Ein verschmähter Schauspieler, der mich für einen Regisseur hielt und sich gewaltsam eine Rolle ergattern wollte. Einen Tötungsauftrag könne man nicht stornieren, brummte Lino. Seine Mitwisserschaft zwinge den Killer zur Tat, sonst wäre er selbst fällig. Lino schüttelte unwirsch den Kopf. Würde er seinen Job derart nachlässig erledigen, wäre er längst im Kittchen oder tot. Ob Autoren denn gar keine Berufsehre hätten?

Ich war sprachlos. Doch Lino erwartete keine Antwort von mir, sondern ein neues Drehbuch – und zwar nach seinen Vorstellungen. Er wusste allerdings auch noch nicht viel mehr, als dass Lehm am Leben bleiben müsse. Ich sah meine Chance gekommen, diesen Spuk zu beenden. Ich folgte Linos Anweisungen und setzte mich an den Schreibtisch. Ich löschte jedoch nicht nur Lehms Liquidation, sondern das ganze Dokument, entfernte es von der Festplatte, zerstörte die Sicherungskopie. Lino hinderte mich nicht. Er löste sich aber auch nicht in Luft auf, wie ich gehofft hatte. Er lobte mich vielmehr für meinen Willen, ganz von vorn zu beginnen.

Auch für die Qualität meiner Quarktorte lobte er mich und für meinen Espresso. Lediglich mit meinem Arbeitstempo war er unzufrieden. Er sass auf dem Sofa, die Fünfundvierziger auf dem Schoss, und feuerte mich an. Lino sprühte nur so vor Ideen, von Dramaturgie hatte er allerdings wenig Ahnung. Wir ergänzten uns prächtig. Bald gab ich meine Fluchtgedanken auf. Selbst im Schlaf hatte Lino tödlichere Reflexe als ich nach drei doppelten Espressi. Und mein Schreiben hatte sich kaum je dynamischer angefühlt als unter Linos Observation.

Es las sich auch ganz gut. Eine etwas bizarre, aber durchaus bekömmliche Mischung aus Thriller, Drama und Komödie. Anstatt Lehm killt Lino seinen Mittelsmann, von dem er den Auftrag erhalten hat. So gelangt er an den Namen des Auftraggebers Simon Presser, jenes frustrierten, von lebenslangem Neid zerfressenen Autors, der unbedingt den Muselin-Literaturpreis gewinnen will. Doch Lino legt Presser nicht um, er liest ihn. Dann sucht er ihn heim. Nun passiert Presser, was mir mit Lino passierte. Erst lehnt er sich gegen den impertinenten Eindringling auf, dann lernt er ihn schätzen. Sie arbeiten an seinem Romanmanuskript, Presser ist begeistert. Ganz im Gegensatz zu seiner Lebenspartnerin, die den neuen Hausgast nicht ausstehen kann.

Auch Eva stand mit Lino vom ersten Besuch an auf Kriegsfuss. Dies war zwar ein schöner Beweis für ihre Menschenkenntnis, ich fürchtete jedoch um ihr Leben. Eva in Linos wahres Wesen einzuweihen, gab ich rasch auf. Wie erklärt man einem halbwegs normalen Menschen, dass man mit einem bewaffneten Berufskiller aus einem Drehbuchentwurf die Wohnung teilt? Und wie hält man diesen davon ab, die aufmüpfige Freundin zu liquidieren? Zwar behauptete Lino, er bediene nur zahlende Kunden. Es war aber sein Vorschlag, Pressers Partnerin im Pool verunfallen zu lassen. Obwohl ich keinen Pool hatte, war ich erleichtert, als Eva uns verliess – auch wenn sie ihr Kleiderdepot in meinem Schrank auflöste. Lieber keine Freundin als eine tote. Denn Linos Mordlust nahm zu. Nun wollte er Lehm und die anderen Konkurrenten doch beseitigen, um Presser den Muselin-Literaturpreis zu sichern. Mit seinem neuen Roman hätte er diese Auszeichnung zweifellos verdient. Bis er Lino die Koautorenschaft verweigern würde. Dann müsste Lino auch Presser umlegen. Als einziger lebender Urheber würde er den Roman unter seinem Namen veröffentlichen. Lino war überzeugt von seinem kreativen Potenzial. Er entdeckte immer mehr Parallelen zwischen dem Schreiben und seinem Beruf. Die akribische Planung etwa. Oder die empathische Annäherung an die Zielpersonen, in denen man sich aber auf keinen Fall verlieren durfte. In unseren Metiers gab es nichts Tollkühneres als totale Identifikation.

Genau das war mir mit Lino passiert. Er musste mich längst nicht mehr in Schach halten, wir waren Komplizen. Während er in der Küche Sugo kochte, überarbeitete ich unsere Geschichte. Und wenn ich schlief, setzte er sich an den Schreibtisch. Anfangs waren seine Eingriffe stümperhaft. Kritisierte ich ihn, zog er seine Fünfundvierziger. Er lernte trotzdem erstaunlich schnell. Je eifriger er mitschrieb, desto grösser wurde der Killer. Harry hingegen schrumpfte zu einer Nebenrolle zusammen, noch unbedeutender, als es Lino gewesen war. Mir gefiel das, obwohl ich wusste, dass wir uns in ein Desaster schrieben. Das war längst kein Harry-Horn-Film mehr, sondern eine schallende Ohrfeige für dessen Darsteller, den Publikumsliebling Christian Kron. Und für die Redaktion, deren Warnung ich auf geradezu groteske Art in den Wind geschlagen und den Killer zur Hauptfigur aufgeblasen hatte. In ein paar Tagen musste ich das Buch abgeben. Das beste meiner Karriere, das diese zweifellos beenden würde.

Lino belächelte meine Ängste. Sie würden von einem unterentwickelten Selbstbewusstsein zeugen. Daran litt Lino bestimmt nicht. Für ihn stand ausser Frage, dass er neben der Koautorenschaft auch die Hauptrolle im Film übernehmen würde. Er müsste nur Christian Kron überzeugen, und darin habe er Erfahrung. Zu meinem Entsetzen sollte diese Überzeugungsarbeit in meiner Wohnung stattfinden. Nun hatte ich Harry Horn, wo ich ihn immer haben wollte: Im Fadenkreuz eines Killers. Ich sah ihn bereits zerstückelt in meiner Badewanne liegen, das Debakel war vollkommen. Ich hatte nicht nur meine Freundin und mein Einkommen verloren, nun würde ich als Komplize eines Mörders auch noch im Gefängnis landen. Wenigstens konnte ich Lino davon überzeugen, Kron nicht in meiner Wohnung zu liquidieren. Er sei doch kein Amateur, beschwerte sich Lino. Über seine Pläne liess er mich jedoch im Dunkeln.

Lino und Kron verstanden sich auf Anhieb. Ich sass konsterniert daneben, während Lino unsere Geschichte erzählte. Kron war begeistert. Dieser Harry Horn langweile ihn seit Jahren. Und es sei schon immer sein Traum gewesen, einen Berufsmörder zu spielen. Besonders Jim Jarmuschs Killer begeisterten ihn. Ob Lino The Limits Of Control gesehen habe? Lino ging nie ins Kino. Und den Killer würde er selbst geben. Pressers und Lehms Rollen seien aber noch zu haben. Irritiert erkundigte sich Kron über Linos Erfahrungen als Filmschauspieler. Er brauche den Killer nicht zu spielen, antwortete Lino. Er sei ein Killer. Kron lachte. Dieses überlegene, schallende Kron-Lachen – sein Markenzeichen – war sein Todesurteil.

Meine dunkelsten Tagträume standen kurz vor ihrer Realisierung. In meinem Metier gibt es nichts Verhängnisvolleres als verwirklichte Fantasien. Ich sollte Lino sogar bei seiner Tat assistieren. Wir lagen vor Krons Villa auf der Lauer und warteten, bis der Star ins Bett ging. Dann schlichen wir uns an den Pool an. Ich kannte das Becken, es hatte mir bei Lehms Mord als Vorbild gedient. Lino tauchte unter, ich reichte ihm die Werkzeuge. Hammer, Stemmeisen, Zange. Beinahe lautlos demontierte er die Poolbeleuchtung, legte die Drähte frei. In ein paar Stunden würde Kron sich an den Poolrand stellen, tief einatmen und in sein Ende springen. Ein verhältnismässig schneller Tod, wie mir Lino versicherte. Nicht der schnellste, aber erträglich. Ich sah Kron bäuchlings im Pool treiben. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Keine Blutschwaden würden das türkisblaue Wasser trüben, die Luftmatratze wäre prall gepumpt. Christian Kron war unschuldig, es würde einmal mehr den Falschen treffen. Harry Horn war nicht totzukriegen. Er würde am nächsten Morgen am Poolrand stehen und zusehen, wie die Leiche gewendet wurde. Dann würde nicht Christian Kron, sondern Lino in den Himmel glotzen. Ich drückte auf den Lichtschalter, um meine Geschichte wieder ins Lot zu bringen.

In meinem Metier gibt es nichts Verführerisches als eine überraschende Wende. Man weiss allerdings nie, ob sie nicht direkt ins Elend führt. Linos Leiche beschäftigte die Medien wochenlang, seine Identität blieb ein Rätsel. Er war in keinem Register vermerkt, hatte keinen Geburtsort, keine Verwandten. Ein geheimnisvoller, höchst eigensinniger aber auch höchst talentierter Autor, wie Kron den Journalisten mit gewohntem Pathos zu verstehen gab. Lino habe sich mit seiner letzten Figur, einem Profikiller, überidentifiziert. Kron kenne diese Gefahr aus eigener Erfahrung. Lino habe ihn nicht töten wollen, er habe ihm eine neue Rolle geschenkt.

Dass ich Lino liquidiert hatte, behielt ich für mich. Ich konnte mit meinen Figuren schliesslich tun und lassen, was ich wollte. So lange sie es zuliessen. Aber Lino war nicht totzukriegen. Harry Horn hingegen lag in den letzten Zügen. Wer interessiert sich noch für den Kommissar, wenn der Killer zum Held wird? In meinem Metier gibt es nichts Fataleres als eine verkannte Figur. Sie kann eine ganze Geschichte ruinieren. Eine falsche Bewegung, und deine Welt ist aus den Angeln.

Dominik Bernet
*1969 in Basel, lebt in Zürich. Er schreibt Drehbücher für Kino (Marmorera) und Fernsehen (Hunkeler-Verfilmungen) sowie Romane (Marmorera, Der grosse Durst).
(Stand: 2011)
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