Düsteres Mittelalter. Ein Mann bricht aus der Festung seines bisherigen Daseins aus, um die Welt jenseits der kahlen Mauern zu erkunden. Sein Weg führt in eine Stadt, wo sich auf dem Marktplatz Bettler tummeln und ein Jongleur seine Kunststücke vorführt. Tanzend nähert sich eine Zigeunerin – wallendes Haar, verführerischer Blick, sinnliche Lippen. Noch während sich die beiden küssen, stürzt der Ehemann herbei und fordert seinen Rivalen zum Kampf heraus. Dieser ersticht seinen Angreifer, doch muss er nun um sein Leben rennen.
Vor den Stadttoren, wo die Häscher über Recht und Ordnung wachen, stiehlt er ein Pferd und glaubt sich bereits in Sicherheit, erneut dicken Mauern entronnen. Einzig die draussen vor der Stadt Gehängten, die seinen Fluchtweg säumen, lassen ihn erschauern.
Scharenweise nehmen die Wachen die Verfolgung auf und hetzen die Jagdhunde ihm hinterher. Die Flucht endet jäh, als ein Bogenschütze aus dem Hinterhalt das Pferd des unfreiwillig zum Mörder Gewordenen niederstreckt. Und so ereilt ihn dasselbe Schicksal wie jeden Verbrecher: Man hängt ihn öffentlich. Seine Leiche aber wird von krächzenden Raben – «les corbeaux» – bis auf den letzten Knochen zerhackt und aufgezehrt.
Kaum zu glauben, dass diese mittelalterliche Welt aus Sand besteht, einem unbelebten Material, allein durch Bewegung zum Leben erweckt. Von Aufnahme zu Aufnahme wird der Sand «bewegt» und die Veränderung im Stop-Motion-Verfahren sichtbar gemacht. Nur wenige Trickfilmer haben sich dieses Materials bedient. Man geht zwar davon aus, dass der französische Karikaturist und Animationsfilm-Pionier Emile Cohl in Les beaux-arts mystérieux (Emile Cohl, F 1910), in seinen filmischen Experimenten mit verschiedenen Materialien bereits Sand animiert hat, doch die Schweizer Filmemacher Gisèle und Ernest (Nag) Ansorge haben die Sandanimation erst bekannt gemacht. In ihren Filmen verbindet sich die Stop-Motion-Technik mit den natürlichen Eigenschaften des Sandes zu einem Bilderfluss von bestechender Schönheit.
Nag2, diplomierter Maschineningenieur (EPUL), und Gisèle – sie hatte Pharmazie studiert – begannen ihr filmisches Schaffen als Amateurfilmer mit der Spielzeuganimation Pam et Poum (CH 1957). Bereits 1958 fand das Ehepaar mit der Puppenanimation La danseuse et le mendiant (CH 1958) am Concours de l ’ Union Internationale des Cinéastes Amateurs (UNICA) in Bad-Ems einige Beachtung. Dennoch spürten beide, dass sie mit dem Puppentrick ihre persönliche Filmsprache noch nicht gefunden hatten. Während fünf Jahren stellte Nag nun für das Kino Cinéac in Lausanne kurze dokumentarische Berichte über aktuelle Ereignisse in der Umgebung her, drehte mehrere Auftragsfilme wie Werbe-, Informations- und technische Industriefilme, wirkte als Kameraassistent bei der Grossproduktion An heiligen Wassern (Alfred Weidenmann, CH 1960) mit und erlernte so das Filmen. Für die gemeinsame Arbeit mit seiner Frau aber wollte er sich dem Independent-Kino verschreiben.
Auf Sand als ästhetisches Ausdrucksmittel stiessen die Ansorges eher durch Zufall. 1964 sollten sie im Rahmen einer Ausstellung für den Pavillon der Medizin einen kurzen Lehrfilm über die Blutzirkulation von Kindern mit einem Herzfehler machen und animierten dafür, was ihnen an Material in die Hände geriet: Salz, Pfeffer, Instant-Kaffeepulver und Sand. Die aussergewöhnlichen Eigenschaften dieses Materials bestimmte ihr weiteres Filmschaffen. Die Drehbücher der Sandanimationsfilme schrieb das Ehepaar bis auf Anima (CH 1977) gemeinsam; bei der technischen Herstellung jedoch verfolgten die beiden eine klare Arbeitsteilung: Gisèle animierte auf der Grundlage ihrer vorgefertigten Zeichnungen den Sand, Nags Bereiche waren Kamera und Editing, wobei er die einzelnen Sequenzen direkt während der Aufnahme schnitt.
Fliessende Bewegung aus Sand
Bei der Sandanimation wird auf einem Leuchttisch mit mehreren gestaffelten, durch Unterlicht beleuchteten Glasplatten gearbeitet (Abb. 1). Der Künstler streut den Sand auf die oberste Glasplatte und arrangiert ihn mit Pinseln verschiedener Dicke; unter die eigentliche Arbeitsfläche lässt sich ein ebenfalls aus Sand gestalteter Hintergrund oder ein weiteres Sujet schieben. Die Kamera ist senkrecht über dem Tisch fixiert und hält, durch einen manuellen Auslösemechanismus gesteuert, die subtilen Veränderungen Bild für Bild fest (Abb. 2). Im vollendeten Film zeichnet sich der Sand als dunkles Schattenbild ab.
An Les corbeaux (CH 1967), ihrem ersten Sandanimationsfilm (nach einer mittelalterlichen Ballade), hatten die Ansorges fast ein Jahr gearbeitet. Seine meist unscharfen Konturen, die Schattierungseffekte übereinander gestaffelter Bildebenen aus schwarzem Sand und die teilweisen Überblendungen erinnern an Kohlenstiftzeichnungen (Abb. 3–4). Der durchlässig gestreute Sand verleiht dem filmischen Universum eine poröse Zerbrechlichkeit und Flüchtigkeit, als wäre es bloss ein gehauchtes Trugbild. Mit diesem Film beeindruckten Gisèle und Nag 1967 selbst den russischen Animationsfilmemacher und Erfinder der Nagelbrett-Animation, Alexander Alexeïeff. Für ihn gehörten sie von nun an zur «Familie» der Trickfilmer.
Bereits in Les corbeaux nutzte Gisèle die Sandtechnik auf eine entgegengesetzte Weise: die Konturen der Sujets wurden nicht gestreut, sondern umgekehrt der schwarze Sand über die gesamte Glasfläche verteilt und die Konturen mit Pinseln herausgearbeitet. Gerade Le petit garçon qui vola la lune (CH 1988) schöpft mit seinen nächtlichen Szenerien aus dem ästhetischen Effekt dieses Vorgehens. Der Film basiert auf einer Novelle von Charles-François Landry und erzählt von einem kleinen Jungen, der – fasziniert vom unbeschreiblichen Leuchten – den Mond stiehlt. Während der König mit Gott telefoniert, macht sich seine kleine Tochter auf, den Jungen zu suchen. Dieser versteckt seinen wertvollen Schatz in einem Lederbeutel, doch leider verliert der Mond – den physikalischen Gesetzen folgend – dadurch seine ganze Kraft. Der Junge kann keine Freude mehr daran haben und lässt ihn wieder zum Himmel aufsteigen. Gott gefällt die Idee mit dem Lederbeutel jedoch so gut, dass er den Mond von nun an jeden Abend ein bisschen mehr mit dem Leder verhüllt und dann wieder enthüllt.
Durch die Leuchtkraft des Unterlichts strahlen die hellen, sandfreien Flächen geheimnisvoll aus der Finsternis hervor und tauchen Figuren und Landschaften tatsächlich ins kalte Licht des Mondscheins (Abb. 5–6). Beklemmende Bilder von Verlorenheit.
Mit der Dichte, Körnigkeit und Farbe des Sandes oder dem Einsatz zusätzlichen Oberlichts können die Sandbilder weiter schattiert und strukturiert, der Hintergrund mithilfe farbiger Glasplatten oder farbigen Lichts bunt gestaltet werden. In Le chat Caméléon (CH 1974) etwa überlagern sich mehrere bunte Hintergrundflächen, aus deren sanften Konturen sich die Sujets aus Sand gestochen scharf wie bei einem Hinterglasbild hervorheben (Abb. 7). Andere Filme wie etwa Das Veilchen (CH 1982) streute Gisèle teilweise oder ganz mit farbigem Sand.
Das Besondere an einer Sandanimation sind die fliessenden Übergänge der Bilder. Im letzten Akt des dreiteiligen Films Smile 1,2 & 3 (CH 1976) lockt ein Ungeheuer eine badende Jungfrau in böser Absicht ans Ufer (Abb. 8). Im erbitterten Kampf verwandeln sich die beiden in rasender Geschwindigkeit von Mädchen und Teufel in Tiere und Pflanzen, um dem Gegner jeweils überlegen zu sein. Doch das Ungeheuer verschlingt das Mädchen und fortan leben sie in einem einzigen Wesen. Auf der Bildoberfläche wirken die Sandzeichnungen in Smile 3 wie Radierungen. Doch anders als bei der Animation vorgefertigter Zeichnungen oder Drucke gelingt die Metamorphose nur mit dem Sand so nahtlos. Die stofflichen Eigenschaften «fluider» Materialien wie Salz, Puder, Gewürze oder Sand erzeugen eine Bewegung besonderer Art: Durch den losen Zusammenhalt ihrer einzelnen Körner, ihre Formbarkeit und Flexibilität ist ihnen Bewegung immanent. Sie lassen sich sehr subtil bearbeiten, ihre Konturen sich mühelos verschieben. Kombiniert mit der Stop-Motion-Technik verwandeln sich die Sandbilder, von unsichtbarer Hand bewegt, ähnlich, wie wir es heute von der digitalen Technik des Morphing kennen (Abb. 9–10).
Fast zur selben Zeit wie Gisèle und Nag Ansorge begann in Nordamerika die damals zweiundzwanzigjährige Caroline Leaf (geb.1946) mit ihren Sandanimationen. Auch Leaf erkannte die Ausdruckskraft des Sandes zufällig, als sie während ihres Studiums der visuellen Künste an der Universität Harvard für einen Silhouettentrick verschiedene Materialien zusammentragen sollte. Das Animieren von Sand faszinierte sie, weil hier der Schaffensprozess gleichzeitig an seine Zerstörung und Vergänglichkeit gebunden ist. Der Sand wird «unter der Kamera» bearbeitet, jedes neue Bild löscht das vorhergehende unwiderruflich aus, «übrig bleibt lediglich der Film».4 Dabei muss nicht nur das eben verwischte und das neu entstehende Bild, sondern der ganze Bewegungsablauf der Sujets stets präsent sein. Anders als Gisèle Ansorge benutzte Leaf hauptsächlich ihre blossen Hände und einen Pfeifenputzer, um den Sand zu animieren. Wenn sie zusätzlich mit Oberlicht arbeitete, wurden auch die Struktur des Sandes und die Spuren seiner Formung erkennbar, etwa in ihrem ersten Film Sand or Peter and the Wolf (USA 1968). In The Metamorphosis of Mr. Samsa (USA/CA 1977) setzte sie für die Effekte unterschiedlicher Modellierungsmuster, Dichte und Schattierungen des Sandbildes Stempel, Kamm und Gabel ein.
Leafs Umgang mit dem Sand war ein anderer als Gisèles. Sie zeichnete nicht, sondern formte ihn – ähnlich wie Kinder im Sandkasten «Kuchen backen». Deshalb die andersartige ästhetische Wirkung: Ihre Bilder haben deutlich weniger Detailschärfe und gleichen damit eher Scherenschnitten; sie sind von anmutiger Schlichtheit und Klarheit. Und mit dem Oberlicht gewann Leaf eine zusätzliche Gestaltungsebene, nämlich das Relief des Sandbildes. Gisèle dagegen machte sich die «fluiden» Eigenschaften des feinkörnigen Materials zunutze, um ihren Sandzeichnungen diese unglaubliche Detailliertheit, gleichzeitig aber Fragilität und Flüchtigkeit zu verleihen. Die beiden Künstlerinnen drückten sich mit demselben Material sehr unterschiedlich aus, gemeinsam ist ihnen aber die Poesie des fliessenden, wandlungsfähigen Stoffs.
Gisèle schöpfte aus der Ästhetik des Flüchtigen und der fliessenden Bewegung ihre starke Symbolsprache, um des Menschen Innerstes in Bilder zu fassen – seine Ängste, Wünsche und Triebe. Sie rückte ihre Bilder in die Bereiche des Traums und des Unterbewusstseins; diese huschen vorüber, sich unablässig verwandelnd, und sind bereits wieder weg, noch ehe sie wirklich da waren oder hätten festgehalten werden können. Selbst jene Filme, die auf Textvorlagen, Novellen, Märchen oder Gedichten basieren, setzen sich (auf manchmal poetische, manchmal ironische, gewitzte und freche Art) letztlich mit dem Mensch-Sein auseinander, mit dem Erwachsen-Werden, dem Ausbrechen, dem Ausgeschlossensein, der Einsamkeit, dem ungestillten Verlangen, mit Mann und Frau. Es ist aber ebenso Gisèles und Nags persönlicher Blick auf die Welt.
Die Filme spiegeln auch Nags zwanzigjährige Auseinandersetzung mit Psychiatriepatienten der Psychiatrischen Universitätsklinik Cery in Lausanne. Beginn der Zusammenarbeit (1962–1981) war ein kurzer Werbefilm, in dem Nag die Klinik zu deren feierlichen Eröffnung vorstellte. Professor Christian Müller, einer der frühen Psychiatrie-Reformer, brachte Nag später mit sechs schizophrenen Patienten zusammen, die sich vor einem therapeutischen Hintergrund mit dem Filmen als Ausdrucksmöglichkeit beschäftigen sollten. In den fast zwanzig Jahren entstanden bemerkenswerte Filme, von denen vor allem die Animationsfilme der Öffentlichkeit gezeigt wurden. (1963 gründete Dr. Alfred Bader innerhalb der Klinik das «Centre d’études de l’expression plastique».) Nicht nur thematisch beeinflussten die Psychiatriepatienten das Werk der Ansorges – die Sensibilität dafür, was den Menschen beschäftigt, wie er Dinge analysiert und beurteilt –, sondern auch die impulsive und assoziative Art, seinem Empfinden Ausdruck zu verleihen.
Die Meister der Sandanimation
Gisèle und Nag Ansorge gehörten zu den ersten Schweizer Trickfilmern, die an spezialisierten internationalen Festivals teilnahmen, und haben, so der Filmhistoriker Roland Cosandey, auch als erste Schweizer Trickfilmer internationale Bekanntheit erlangt.5 Ihre Preise gaben der Schweizer Trickfilm-Kultur Auftrieb und als Gründungsmitglied (1968), langjähriger Sekretär und späterer Präsident der Schweizer Trickfilmgruppe (Groupement Suisse du Film d’Animation GSFA-STFG) förderte Nag den helvetischen Trickfilm intensiv.6 In den vergangenen fünfzehn Jahren waren den Ansorges im In- und Ausland diverse Retrospektiven und Werkschauen gewidmet. Im Oktober 2006 etwa präsentierten die 5e Journée mondiale du cinéma d’animation im Centre Pompidou in Paris «Les maîtres de la poudre». Das Ehepaar Ansorge und die Bedeutung ihres Filmschaffens wurden dabei besonders hervorgehoben.
Gisèle Ansorge verstarb 1993. Ihr reiches Schaffen als Künstlerin und Schriftstellerin umfasst Gravuren, Zeichnungen, Monotypien sowie eine preisgekrönte Novellen-Sammlung, einen Erzählband und drei Romane, für deren einen sie 1992 den Schillerpreis erhalten hatte. Vor allem aber hat sie die Sandanimation mit ihrer unverkennbaren Handschrift geprägt und zusammen mit Nag ein eigenwilliges und einzigartiges Werk hinterlassen. Die Meister der Sandanimation sind technisch und ästhetisch neue Wege gegangen – sowohl im Schweizer Trickfilm wie im Animationsfilm überhaupt. Gisèles akribisches Arbeiten, zusammen mit Nags rhythmischem Schnitt, entführen den Zuschauer in entrückte, verzauberte Welten. Ihre Filme sind von seltener Poesie und vermögen mit ihrer assoziativen, symbolischen Ausdruckskraft stets aufs Neue zu erstaunen.