WALL∙E, der kleine Roboter im gleichnamigen computergenerierten Animationsfilm von Andrew Stanton (USA 2008), ordnet tagein, tagaus auf der verlassenen und hoffnungslos zugemüllten Erde Abfall zu Wolkenkratzer-Türmen. Als Letzter seiner Art hat er eine Sammelpassion für kleine Objekte, die die Menschen achtlos weggeworfen haben, entwickelt. Eines Tages entdeckt er hinter einer schweren Kühlschranktüre aber etwas Ungewöhnliches: In zwei Einstellungen wird uns gezeigt, wie WALL∙E die Türe aufschweisst und aus dem Weg räumt. Kaum ist die Türe beseitigt, wechselt die Kamera von der Totalen in eine Grossaufnahme von WALL∙E, der leicht an der Kamera vorbei auf etwas blickt, das sich im vorderen Off verbirgt. Wir sind gespannt. Seine «Augen», zwei Objektive, fokussieren nun sicht- und hörbar. Die Neugier des sammelfreudigen, knuddeligen Roboters scheint geweckt. Und während die Kamera langsam zurückfährt, gerät eine grüne, unscharf abgebildete Gestalt von links her in den Bildausschnitt. Kurz darauf wird sie von der Kamera fokussiert und ist als zartes Pflänzchen deutlich erkennbar, während WALL∙E im Hintergrund verschwimmt (Abb. 1–2). Damit verlagert sich auch das Zuschauerinteresse vom rostigen Roboter auf das von ihm entdeckte kleine Wunder, das eine niedliche Liebesgeschichte und eine Rettungsaktion der unterdessen seit Jahrhunderten auf Raumschiffen immer dekadenter, fetter und fauler werdenden Menschheit ins Rollen bringt.
Die eben beschriebene Bewegung der Schärfe vom Hinter- zum Vordergrund dauert kaum eine halbe Sekunde und dennoch bildet sie ein Ausrufezeichen in mehrfacher Hinsicht. WALL∙Es Interesse und sein Blick sind beides erst sekundär erfahrbare Handlungen, sie können sich im Gesichtsausdruck und in der Relation zwischen Blickendem und Objekt äussern. Hier aber kristallisieren sie sich in dieser kurzen Bewegung heraus und materialisieren sich in einer filmischen Form, in der Schärfenverlagerung. Diese stellt im Grunde eine unechte Bewegung dar, da die Kamera ihre Position und Lage nicht verändert; mit dem Fokusring am Objektiv wird lediglich der Schärfenbereich verschoben, was wir aber als Bewegung wahrnehmen. So wie WALL∙E seine beiden Augen/Objektive scharf stellt, so tut dies auch die Kamera in diesem Moment. Sie spielt zwar mit unserer Neugier, verzögert die Enthüllung durch die anfängliche Unschärfe, befriedigt sie jedoch mit der Fokussierung unmittelbar. Dadurch lenkt sie unsere Aufmerksamkeit unmissverständlich auf ein Objekt, das durch diese Einführung besondere Bedeutung erhält.
Die Bewegung stellt zwischen dem Roboter und dem einzigen Zeichen für neues Leben auf der verlassenen Erde eine besondere Relation her. Die Geschichte kommt damit ins Rollen: WALL∙E nimmt das Pflänzchen in sein museales Zuhause. Kurz darauf landet ein modernerer und makelloser Roboter namens EVE auf der Erde, mit der Mission, neues Leben zu suchen – also WALL∙Es grünen Schatz. Das ältere Modell verliebt sich in die glänzende, weisse Schönheit im Apple-Computer-Look und folgt ihr ins All, wo sie gemeinsam die Menschheit auf den richtigen Weg bringen.
Die Schärfenverlagerung erfüllt in diesem Fall also eine Reihe von Funktionen: von der wohl am häufigsten wahrgenommenen Aufmerksamkeitslenkung über die Erfahrbarkeit der räumlichen Situation bis zur Herstellung von Beziehungen. Der computergenerierte Film eignet sich besonders gut, um den Status quo der Verwendung dieses Gestaltungsmittels aufzuzeigen, weil er sich an heutigen Sehgewohnheiten und narrativen Standards orientiert, um damit auf der Ebene der Materialität des Films einen Wirklichkeitseindruck zu schaffen.
WALL∙Es sentimentaler Vorliebe für das Vergangene entsprechend, präsentiert sich auch die computergenerierte Welt dieses Sci-Fi-Films im nostalgischen Stil der Cinemascope-Filme der 1970er. Er ist geprägt von einer sehr geringen Schärfentiefe, und es lassen sich kaum Einstellungen finden, in denen nicht Fokusveränderungen stattfinden. Diese durch die Optik bedingten Eigenschaften der Cinemascope-35-mm-Kamera wurden in aufwendigen Tests und Berechnungen erreicht. Roger Deakins, der «Hauskameramann» der Coen-Brüder, ist dem Team zur Seite gestanden. Zwar hat man schon bei früheren CGI-Filmen versucht, die perfekte, kühle geometrische Anordnung der Pixel durch Unordnung und Mängel des echten Lebens zu ergänzen und die unendliche Schärfentiefe zu reduzieren,1 aber bei WALL∙E sind Stanton und sein Team noch einen Schritt weiter gegangen. Sie haben beispielsweise das virtuelle Kamerasystem und dessen Imitation der Optik und der Beleuchtung durch optische Abbildungsfehler echter Linsen vervollständigt. Effekte, die die Objektivbauer eigentlich seit Jahren zu eliminieren suchen. Dazu gehört beispielsweise die typische, längliche Verzerrung von Zerstreuungskreisen durch anamorphotische Panavision-Linsen (Abb. 3).2 Zudem wurden Bewegungen einer echten Kamera, die sich durch ein unebenes Gelände auf einem Dolly bewegt und entsprechend ruckelt oder wie eine Steadicam durch die Räume des Raumschiffs schwebt, nachgeahmt. Ziel war es, einen wiedererkennbaren fotografischen Look zu schaffen, den die Zuschauer von Cinemascope-Filmen her gewohnt sind. Damit sollte der Realitätseindruck und die Glaubwürdigkeit der künstlichen Welt und einer eher unwahrscheinlichen Roboterliebe verstärkt werden.
Im Folgenden soll ein kleiner, aber wesentlicher Teil dieses Verfahrens behandelt und gezeigt werden, wie die normalerweise wenig thematisierte Schärfenverlagerung, die oft eine ganz kurze Bewegung darstellt, zu dieser angestrebten Glaubwürdigkeit beiträgt. Der fotografische Stil des Films sollte sich an die heutigen visuellen Tendenzen anlehnen. Stanton wollte sich zudem explizit an die Tradition der Sci-Fi-Klassiker der späten 1960er- und 70er-Jahre anschliessen,3 die auch als die Blütezeit des Teleobjektivs bezeichnet werden kann. Der häufige und durchaus als experimentell zu bezeichnende Einsatz von damals noch eher lichtschwachen Zoom-Objektiven hatte eine geringe Schärfentiefe und damit auch die Notwendigkeit von Schärfenmitführung und -verlagerung zur Folge. Neue, bis dahin ungenutzte Gestaltungsmöglichkeiten, die heute zum Standardrepertoire der kommerziellen Grossproduktionen gehören, wurden ausprobiert. Was damals noch freche Auffälligkeit und Grund für Kopfschütteln bei der älteren Generation der Hollywood-Kameraleute darstellte, erscheint heute als Stil, der auf ein ständiges «Suchen und Enthüllen»4 setzt und damit eine «intensified continuity»5 schafft. Dies entspricht auch einer dynamischen Kameraführung, wie sie in den letzten beiden Jahrzehnten häufig geworden ist.
Dieses «Suchen und Enthüllen» lässt uns WALL∙Es dystopische Welt und das Leben auf dem Raumschiff Stück für Stück entdecken. Wir sind sozusagen auf Tuchfühlung mit den Objekten, die durch die geringe Schärfentiefe aus dem Ganzen herausgelöst werden, ohne dabei die räumliche Relation zu verlieren. Das Kameraauge führt uns ganz eng, lässt uns aber gleichzeitig die differenzierte Räumlichkeit der künstlich erschaffenen Welt erfahren. Sehr grosse Schärfenunterschiede lassen sich durch eine Umfokussierung verwandeln und gewinnen so an Dynamik. Je nach Geschwindigkeit wirkt die Transformation eher fliessend und weich, lässt das eine aus dem anderen entstehen, oder aber die Verwandlung wirkt überraschend und die Betonung liegt auf dem enthüllten Objekt.
Durch die Schärfenverlagerung werden ebenfalls Distanzen zwischen dem Betrachter und einem Objekt oder zwischen den Objekten spürbar und damit – durchaus körperlich – nachvollziehbar. Die phänomenologische Filmtheorie geht davon aus, dass wir den Film nicht nur über das Sehen und das Hören erleben, sondern dass der ganze Körper in das Filmerleben, das für die Illusionsbildung verantwortlich ist, involviert ist. Es ist ein sinnliches Erleben, in dem sich Bewegungen direkt auf unser Empfinden und unser Raumerleben auswirken und das zum Wirklichkeitseindruck beiträgt. So ist das Miteinander von WALL∙E und seiner blecherner Kakerlake, die in Reminiszenz an den Stummfilmproduzenten Hal Roach6 und auch an Kubricks Space Odyssey 2001 (GB 1968) HAL heisst, durch die Schärfenverlagerungen geprägt. Während etwa das Tierchen den Weg in den Container über die Lüftung wählt, um dann im Bildvordergrund stehen zu bleiben, sehen wir hinten noch unscharf WALL∙E, der hineinfährt. Eine Schärfenverlagerung von HAL zu WALL∙E verbindet die beiden wieder und leitet zur nächsten Handlung des Roboters über (Abb. 4–5). Jeremy Lasky, der Chef-Kameramann, nennt diesen Prozess, in dem die Schärfe über grössere Distanzen verändert wird, «optical breathing» .7 Auch diesem Ausdruck liegt die Idee zugrunde, der computergenerierten Welt und den Wesen über optische Anlehnung an die echte Kamera Leben einzuhauchen. Der Fokus trägt aber nicht nur über den Wechsel zwischen zwei Bereichen zur räumlichen Plastizität bei, durch ständige Schärfenmitführung werden die Bewegungen der kleinen Wesen über den staubigen Boden in einer Art haptischer Visualität greifbar. Auf diese Weise verlieren wir insbesondere den flinken HAL nie aus den Augen und gleiten mit ihm über das Terrain.
Die ständige Fokussierung auf einen sehr begrenzten Bereich des weiten, offenen Raumes lässt fast vergessen, wie einsam diese beiden Kreaturen in der Müllwüste sind. Durch den minimalen Schärfenbereich entsteht nämlich ein intimer Raum, in dem wir uns sozusagen mit den Figuren befinden; der Rest wird durch Entfokussierung gedämpft und in der Aufmerksamkeit meist ausgeblendet. Auch der Blick der Figuren ist so gestaltet, dass nur das Wichtige deutlich gezeigt wird. Mit der Verschiebung des Interesses verlagert sich auch die Schärfe. Auf diese Weise werden die Zuschauer auch eng an die mentalen Prozesse der Figuren gebunden und darüber hinaus dabei unterstützt, den Ereignissen zu folgen.
Als WALL∙E EVE das erste Mal sieht, ist es Liebe auf den ersten Blick, und nachdem er ihre anfänglichen Angriffe überstanden hat, nähern sich die beiden einander an. Die verbale Verständigung beschränkt sich dabei allerdings auf wenige Worte, Seufzer und Ausrufe, vieles kommunizieren die beiden über ihre Mimik und Gestik. Hier orientierten sich die Animatoren an der Pantomime und am expressiven Stil der frühen Stummfilmschauspieler. Die fehlende Sprache wird jedoch nicht nur dadurch kompensiert, sondern sie wird auf einer anderen visuellen Ebene auch durch die Schärfenverlagerung unterstützt. Als WALL∙E beispielsweise seine neue Freundin das erste Mal in sein Zuhause mitnimmt, präsentiert er ihr all seine Schätze. EVE scheint von diesen kleinen, scheinbar unnützen Dingen verzaubert, die von der menschlichen Emotionalität und Irrationalität zeugen. Auch sie kann WALL∙E etwas Neues zeigen, als sie ein Feuerzeug anzündet und ein Flämmchen erscheint. Und während wir ein Liebeslied aus dem Musical Hello Dolly! (Gene Kelly, USA 1969) hören und die beiden im warmen Licht der Flamme stumm das kleine Wunder betrachten, verschiebt sich die Schärfe von EVE und dem Feuerzeug zu WALL∙E im Hintergrund (Abb. 6–7). Sie verbindet die beiden in diesem romantischen Moment. Auch hier wird eine nicht beobachtbare emotionale Reaktion visuell auf die Filmoberfläche gebannt.
In solchen Fällen kommt der besondere filmische Raum zum Tragen: Die geringe Schärfentiefe sorgt für einen nicht unbedingt flächigen, sondern durchaus tiefen Raum, der aber fragmentiert erscheint. Die unterschiedlichen Schärfenabstufungen bilden Raumschichten, in denen Objekte und Figuren situiert sind. Auf diese Weise können Figuren, die eigentlich nah beieinander stehen, visuell voneinander getrennt sein. Die Umfokussierung von einem Raumfragment zum nächsten stellt wiederum eine Verbindung zwischen ihnen her. Durch die paradoxe räumliche Situation werden solche materiell gewordenen Relationen der Figuren betont.
Die Emphase kann in verschiedenen Situationen genutzt werden und in WALL∙E, in dem Schärfenverlagerungen häufig eingesetzt werden, ist die Palette entsprechend breit. So kann mit dem gleichen Verfahren die Nähe einer drohenden Gefahr und das knappe Entkommen unterstrichen werden. Wichtig sind auch Relationen, die durch Montage hergestellt werden können, hier aber als innere Montage nicht nur die räumliche und zeitliche, sondern auch die direkte Beziehung hervorheben. Während zum Beispiel zunächst im Vordergrund in Grossaufnahme EVEs Hand und dahinter unscharf WALL∙E zu sehen ist, wechselt die Schärfe auf ihn, worauf er auf seine eigenen Hände blickt. Wiederum unterstützt das Fokussieren auf seine Augen die Blickstruktur. Sein Wunsch, EVEs Hand zu halten, wie er es beim Liebespaar in Hello Dolly! gesehen hat, verdeutlicht seine Verliebtheit. Da EVE in der folgenden Szene den kleinen Roboter aus der Gefahrenzone auf das Raumschiff bringen und ihn auf die Erde zurückschicken will, soll das Vorangehende WALL∙Es Sehnsucht deutlich darstellen. Die Schärfenverlagerung als visuelle Form ergänzt und verdeutlicht die wortlose Handlung. Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit, vermittelt Informationen, macht aber auch WALL∙Es Blick und die Verbindung zwischen den beiden Hauptfiguren spürbar.
Man könnte hier noch viele Beispiele aufführen, denn der Film nutzt die häufigsten Funktionen der Schärfenverlagerung, sei dies in ästhetischer oder narrativer Hinsicht. So tragen die wiederholten kurzen Bewegungen zu einem filmischen Raumerleben bei, das die künstlich geschaffene Welt lebendig werden lässt. Für die Plausibiliät der Roboterliebe sind zudem Intimität und der Aufbau einer starken Beziehung wesentlich. Die Zuschaueraufmerksamkeit des dynamischen Films wird genau geführt, um Verständnis trotz wortkarger Hauptfiguren zu gewährleisten. Wiedererkennbarkeit der fotografischen Materialität dieser Bilder unterstützt die Glaubwürdigkeit der fiktionalen Welt. Nicht zuletzt spielt der Film mit Konventionen, etwa wenn WALL∙E nach dem Aufwachen erstmal unscharf sieht, um kurz darauf zu fokussieren. Darstellungen solch subjektiver Zustände lassen sich bis in die 1930er-Jahre zurückverfolgen.8 Sie gehören schon lange zum festen Gestaltungs- und Erzählrepertoire. Durch die Einbindung dieser Formen stellt sich der Film in die Tradition der «echten» Spielfilme und erreicht über den Einsatz von kleinen Bewegungen eine grosse Wirkung.