Lange schon trage ich die Träne mit mir. Bisher standen mir die Tropfen hochkonzentrierter Gefühle reichlich zur Verfügung: Viele waren es, als ich einst Schokolade, eine Katze und ein eigenes Zimmer erpressen wollte, einige waren es später für den einen oder anderen Liebeskummer, und nur noch ein paar blieben schliesslich übrig fürs Zwiebeln schneiden, einen spontanen Lachanfall und zum Glück selten traurige Angelegenheiten. Je älter der Mensch wird, umso spärlicher will er weinen. Ich wertete das keineswegs als schlechte Entwicklung, es kam mir ganz gelegen. Und doch – sitze ich im Kino inmitten eines Tränenmeers, so beschleicht mich das mulmige Gefühl des Tränenneids.
«Ich bringe mich zum Weinen, um mir zu beweisen, dass mein Schmerz keine Illusion ist», war etwa Barthes der Meinung.1 Und genau das ist das Problem mit den kostbaren salzhaltigen Tropfen. So wie die Tränen als Beweise für das im Moment gelebte Leben gelten, sind sie auch das Gegenteil: Was, wenn man gerne möchte, sich aber nicht zu Tränen rühren lässt und man verschämt mit der Frage heimgeht, ob man etwa ein an Gefühlsbekundungen geiziger Mensch sei? Schliesslich beweisen die zu Tränen gerührten Zuschauer die Glaubwürdigkeit eines Films. Sie sind ein Ausdruck von Mitgefühl für das, was sich auf der Leinwand abspielt. Und sind dem Regisseur damit oft wertvollere Anerkennung denn manch teuer bezahlte Eintrittskarte.
Etwa wenn selbst gestandene Männer mit Tränen in den Augen beobachten, wie Ennis zum Ende von Brokeback Mountain (Ang Lee, USA 2005) die Schranktüre öffnet und traurig zwei alte Hemden und eine Postkarte erblickt. Gute 130 Minuten lang erzählt Brokeback Mountain, wie sich aus einer Freundschaft zwischen den beiden Cowboys Ennis (Heath Ledger) und Jack (Jake Gyllenhaal) Liebe ergibt. So sehr der Film ein Statement gegen die amerikanische Doppelmoral ist, so wenig bewegt der Film alleine deswegen. Der Moment ist so berührend, weil er an die grosse Liebe – unabhängig der Geschlechter – erinnert, für die es jetzt zu spät ist. Zwar käme für Ennis der Romeo-und-Julia-Ausweg infrage, doch würde er seinem Geliebten ins Jenseits folgen, müsste er zur Liebe stehen, die er nicht hat wahrhaben wollen; und damit seinen eigenen Lebensbetrug einsehen und akzeptieren, dass Homosexualität kein Fluch sein kann. Daher bleibt Ennis einzig die im Schrank verstaute Erinnerung, der er mit Tränen in den Augen zugesteht: «... Jack, I swear ......» Da bin auch ich kurz davor, meine Träne zu rufen. Doch ich rutsche nur nervös im Sessel herum und sehe beunruhigt die tränennassen Gesichter meiner Sitznachbarn – genau so viele männliche wie weibliche. Die Tränen rühren von der emotionalen Bewegtheit ihrer Betrachter und werden als Indiz verstanden, dass man am Film teilgenommen hat. Der Regisseur fühlt sich darin bestätigt, dass er mit seinem Stoff die Menschen in ihrem Innersten bewegte, und sie kurzzeitig die Kontrolle über ihre Gefühlsleben verloren. Das macht die Kinotränen zu den besonders stolzen ihrer Art.
Stellvertreter im Publikum
Das Kino ist ein Zufluchtsort für Tränen. Dort werden sie Zeugen von der Komplizenschaft zwischen dem Publikum und den leidenden Filmfiguren, die – insbesondere im Melodrama – isoliert gegen ihren Kummer ankämpfen. Nur der Zuschauer kennt das wahre Ausmass ihrer Pein. Und anders als bei Hochzeiten oder Beerdigungen zeugen die Tränen zwar von emotionaler Bewegtheit, jedoch ausschliesslich für das Leid oder die Freude anderer. Das ist Mitgefühl light: Nicht ich leide, sondern die da oben auf der Leinwand, die unglücklichen Liebschaften nachtrauern oder die Ungerechtigkeit der Welt in Würde ertragen.
Wie wenn die schöne Cathy (Julianne Moore) in Far From Heaven (Todd Haynes, USA/F 2002) tragisch zitternd vor ihrem Gärtner Raymond Deagan (Dennis Haysbert) auf der Strasse vor einem Kino in Hartford steht. – Im Sommer 1957 repräsentiert Cathy Whitaker mit ihrem Mann Frank (Dennis Quaid) die ideale Familie der amerikanischen Kleinstadt. Just bis Franks Homosexualität unleugbar wird und sich Cathy in ihren afroamerikanischen Gärtner verliebt.
Nun steht sie mit ihm zum Abschied vor dem Kino, weil sie sich dem sozialen Druck nicht mehr stellen mag. Als Raymond ihr zum Abschied die Hand auf den Arm legt, ruft erbost ein Mann von der gegenüberliegenden Strassenseite: «Hands off!» In diesem Moment möchte man mit Cathy mitweinen, wenn sie zu ihm stockend flüstert: «You are so beautiful.» Das ist so wahr wie kitschig, doch die Träne kullert einzig bei Cathy über die Wange – und bei meiner Sitznachbarin, die laut leer schluckt und verstohlen ein Taschentuch hervorkramt. Haynes’ Far From Heaven ist eine Referenz an Sirks All That Heaven Allows (USA 1955): Hier verliebt sich die verwitwete Carey Scott (Jane Wyman) in ihren (weissen) Gärtner Ron Kirby (Rock Hudson). Bei Haynes bezieht sich die Sirk’sche Hoffnungslosigkeit nicht mehr alleine auf Rassen- und kulturelle Unterschiede, sondern ebenso auf jene der Geschlechter: «[...] you see the men are able to kind of go away and make different lives for themselves and the women want to stay», erklärt sich Julianne Moore in einem Interview das Zögern von Cathy.2 Besonders die Melodramen gelten gemeinhin als Garanten für Tränen. In den Dreissigerjahren rannten Millionen von Frauen zum Weinen in die Kinos ihrer Kleinstädte und erwiesen damit den Weepies respektive Tearjerkers ihre Ehre. Diese waren bewusst an ein weibliches Publikum adressiert. Gekürt hat das Weepie in den Fünzigerjahren Douglas Sirk, etwa mit Imitation Of Life (USA 1959). Das exzessive Meisterwerk ist der bekannteste und zugleich letzte Film von Sirk, der von der zeitgenössischen Kritik als rührseliger Melodramen-Regisseur mit schlechtem Geschmack verkannt wurde und erst durch Fassbinder zu seiner Anerkennung fand. Sinnigerweise meinte Sirk selber über seinen Film: «I would have made it for the title alone.»3
Wasserstoffblondes Haar, weite Ballonröcke, pastellfarbene Schlafzimmer – kleinbürgerliches Amerika in den Fünfzigern, inszeniert in kitschigstem Technicolor: Zwei alleinerziehende Mütter schliessen sich zu einer Zweckgemeinschaft zusammen und ziehen gemeinsam ihre beiden Töchter gross. Die eine, Lora Meredith (Lana Turner), ist weiss – respektive wasserstoffblond – und verschreibt sich voll und ganz ihrer Karriere, die andere ist schwarzer Hautfarbe und mimt die aufopfernde Haushaltshelferin Annie Johnson (Juanita Moore). Es zerreisst einem schier das Herz, wenn deren hellhäutigere Tochter Sarah Jane (Susan Kohner) ihre Mutter vor den Kolleginnen verleugnet, um als Weisse durchzugehen. Das war lange vor dem Slogan «Black is Beautiful» und relativiert mit historischer Distanz immerhin den sozialen Druck, an dieser Stelle weinen zu müssen. Liess Sirk damals seine Zuschauer «Kino spüren», um sich mit den Protagonisten zu identifizieren, erkennt man heute die Sirk’sche Ironie, die letztlich die Werte der Mittelklasse infrage stellt, die der Film vermeintlich zu bestätigen vorgibt. Gerade, wenn zum Schluss Sarah Jane an Annies Beerdigung zu Mahalia Jacksons Gospelsong «Trouble of the World» ihre Mutter schliesslich – wenn auch zu spät – doch noch anerkennt. Was vordergründig als versöhnliches Happy End scheint, ist ein zynisches Quasi-Happy-End, das keine Zweifel offen lässt: Amerika ist das Land der begrenzten Möglichkeiten. Zumindest 1959, damals als die Kinoverkäuferin noch beim Ausgang eine Schachtel Kleenex bereithielt.4
Barometer der Gefühle
Das Kino ist ein idealer Ort, um zu weinen. Hier brauchen die Tränen keinen exakt benennbaren Grund für ihre Anwesenheit. Ob die Tränen aus Rührung, Mitleid, Trauer oder aber aus Freude fliessen, das Weinen im Kino ist ein sozialer Habitus, ja gehört gar zur Rezeption gewisser Filmgenres. Denn sei das Weinen stumm zurückhaltend oder laut schluchzend: Der Tränenausbruch ist eine mögliche Form, im öffentlichen Raum Anteilnahme zu zeigen und funktioniert als Barometer der Gefühle.
Besonders schwer lastet da der Druck, zu weinen, wenn der Kinobesuch von Lars von Triers Dancer in the Dark (DK/USA 2000) in einem Internetforum mit «Wer am Ende nicht heult, ist kein Mensch» angekündigt wird.5 Und tatsächlich, das als maternal melodrama angelegte Musical hat das Potenzial, einem den Abend zu verderben. Es erzählt die aufopfernde Passionsgeschichte von Selma (Björk), die Mitte der Sechzigerjahre als tschechische Einwanderin am Rande von Washington lebt und mit bedingungsloser Mutterliebe wegen der Erbkrankheit ihres Sohnes alles in Kauf nimmt. Wie betäubt sitzt man im Publikum und kann kaum fassen, wie sie naiv und unbeirrbar für schier Unmögliches kämpft. Hin und her gerissen zwischen Mitleid und Unverständnis siegen schliesslich bei den meisten im Kinosaal die Tränen, wenn Selma in der Todeszelle ihr letztes Lied singt.
Nach solchen Filmszenen verlasse ich niedergeschlagen das Kino mit dem Komplex, ein gefühlskalter Mensch zu sein. Die Träne will meinem Impuls nicht folgen und bleibt, wo sie ist. Erst draussen, in der Kälte der Nacht, trübt sich plötzlich mein Blick und meine Wange wird feucht: Da legt eine ältere Frau ihrem tattrigen Mann sanft die Hand auf den Arm, weil er seine Gefühle nicht mehr halten kann. Ich drehe mich vorsichtig um, gehe langsamen Schrittes zum Kasten mit den Filmbildern und sehe eine einzige, klare Träne in der Spiegelung. Den Zeitpunkt hat sie verpasst, aber gekommen ist sie doch noch.