DORIS SENN

POLAR (MICHAEL KOCH)

SELECTION CINEMA

Luis fährt in die Berge. Sein Vater holt ihn vom Postauto ab und bringt ihn mit dem Wagen zu seinem abgelegenen Hof. Offenbar haben die beiden sich seit Jahren nicht mehr gesehen, und so sitzen sie wie Fremde nebeneinander. Luis erzählt – nicht ohne Stolz –, dass er bei einer renommierten Schlagzeugschule die Aufnahmeprüfung geschafft hat, während sein Vater ein paar Mal ansetzen muss, bis es ihm über die Lippen kommt: Er hat eine neue Frau, Sophie, und – wie sich wenig später herausstellt – auch einen kleinen Sohn, Elias.

So landet Luis unversehens in einem neuen, ihm fremden Familienkosmos: mit Sophie, die nur wenig älter ist als er und mit der er sich auf Anhieb versteht, und Elias, dem schreienden Sprössling, den die frisch gebackenen Eltern immer mal wieder Luis’ (desinteressierter) Obhut übergeben. Luis sucht nach Nähe und Anerkennung seitens des Vaters, der aber lässt ihn ins Leere laufen, werkelt mürrisch und wortkarg im und ums Haus herum und hat weder Augen noch Ohren für seinen mittlerweile erwachsenen Sohn. So entspinnt sich von Beginn weg ein spannungsreiches Beziehungsgeflecht, für das programmatisch der Titel Polar steht: mit Anklängen einerseits an das «Antagonistische» der Hauptfiguren, andererseits das französische «polar» für «Krimi».

Im Vordergrund von Michael Kochs Abschlussfilm an der Kölner Kunsthochschule für Medien steht ein Vater-Sohn-Konflikt – überlagert von den Spannungen, die im Schoss einer Patchwork-Familie entstehen können. Prägend ist – wie in seinem vorangehenden Kurzspielfilm Beckenrand (CH 2006) –, dass Michael Koch es auch in Polar versteht, aus scheinbar Unspektakulärem brisante Erzählknoten zu knüpfen und die Protagonisten in Interaktionen zu verwickeln, die vieles implizieren. Eskalation und Deeskalation alternieren – der Film mutiert vom Drama zum Thriller, zur augenzwinkernden Komödie. So etwa wenn Luis mit dem Stiefbrüderchen im Kinderwagen gefährlich nah am Abgrund spazieren fährt, um den Kleinen dann doch wieder heil nach Hause zu bringen. Oder wenn die handgreifliche Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn unterbrochen wird von einem skurrilen Spektakel: einer Kuh, die von einem Helikopter durch die Luft geflogen wird. Den Hintergrund für das sich zuspitzende Familiendrama gibt eine neblige Glarner Bergwelt ab – eine ebenso grossartige wie abgründige Kulisse.

Die Stärke von Polar sind die schillernden Zwischentöne, und dass bis zum Schluss vieles in der Schwebe bleibt. Das macht den Film zwar etwas unfertig (und weniger pointiert als Beckenrand), stellt aber einmal mehr unter Beweis, dass der Jungregisseur mit Erzähl- und Schauspielführung umgehen kann. Mit Spannung darf deshalb der erste lange Film des Jungregisseurs erwartet werden.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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