JACQUELINE VEUVE

NUIT ET BROUILLARD (ALAIN RESNAIS, F 1955)

MOMENTAUFNAHME

1956 war ich Praktikantin im Musée de l’Homme in Paris. Yvonne Oddon, die Bibliothekarin, nahm mich mit zu einer Privatvorstellung von Nuit et brouillard für ehemalige deportierte Frauen. Keine von ihnen hatte bis dahin Bilder von den Konzentrationslagern gesehen. Während der Vorführung begannen sie zu weinen, zu schreien. Sie erkannten die Wärterinnen wieder, zeigten mit dem Finger auf sie wie kleine Mädchen. Damals war man es nicht gewohnt, im Kino Gewaltszenen zu sehen. Im Western wurden zwar immer die Bösen umgebracht, aber das war ja nicht die Realität. Hier dagegen wurde massenhaft getötet, wurden diejenigen deportiert, die als «Untermenschen» oder «Politische» gal­ten, wie Yvonne Oddon und all die anderen, die im Musée de l’Homme ein Netzwerk des Widerstands gegründet hatten. Dreissig Jahre später, 1985, zeigte ich den Film 15-jährigen Schülern. Danach schrie­ben mir Eltern und forderten mich auf, ihre Kinder aus der Klas­se zu schicken, sollte ich den schockierenden Film wieder zeigen.

(aus dem Französischen von Philipp Brunner)

Jacqueline Veuve
Filmemacherin und Ethnologin. Studierte Bibliothekswissenschaft, Film und Anthropologie, bevor sie mit Jean Rouch am Musée de l’Homme in Paris und mit Richard Leacock am Massachusetts Institute of Technology zusammenarbeitete. Seither hat sie rund sechzig Dokumentar- und zwei Spielfilme realisiert, wovon die meisten internationale Auszeichnungen erhielten.
(Stand: 2010)
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