JULIA ZUTAVERN

MEINE SCHWEIZ, MEIN FILM — INTERVIEWS MIT NICOLAS BIDEAU UND JÜRG HASSLER

ESSAY

Der Schweizer Film in Dauerkrise, die Filmförderung in andauernder Kritik – wo kommt das her, wo führt das hin? Nicolas Bideau, seit 2005 Leiter der Sek­tion Film des Bundesamtes für Kultur, und Jürg Hassler, seit 1967 unabhängiger Filmemacher, über das Verhältnis zwischen Schweizer Filmpolitik und politischem Schweizer Filmschaffen.

Interview I

Nicolas Bideau, Leiter der Sek­tion Film des Bundesamtes für Kultur: «Wir brauchen Verrückt­heit gebunden an Professionalität.»

Julia Zutavern: Herr Bideau, was ist ein politischer Film?

Nicolas Bideau: Ich würde sagen, ein politischer Film ist ein Film, der eine Wirkung auf die Gesellschaft hat. Das ist zwar eine ziemlich anthropologische Definition von Politik, aber im Zusammenhang mit Kunst und Kultur halte ich eine solche Definition für angemessen. Ein Film wie Giulias Verschwinden von Christoph Schaub [CH 2009] ist genauso politisch wie ein Film über das Bankgeheimnis. Der Film bringt einen zum Nachdenken – zumindest wenn man, wie ich, über vierzig ist.

Ein Film muss also nicht von Politik handeln, um politisch zu sein?

Genau. Es kann sogar umgekehrt sein, dass ein Film, in dem es um Politik geht, überhaupt nicht politisch ist. Gestern habe ich zum Beispiel die beiden Che-Filme von Steven Soderbergh [USA/F/E 2008] gesehen – vier Stunden lang. Das ist für mich kein politischer Film.

Warum?

Weil wir das alles schon kennen: den Marxismus, Kuba, die Revolution ... Der Film erzählt einem nichts, was man nicht schon gewusst hätte. Er sieht zwar sehr politisch aus – und wurde ja auch in Cannes und Berlin entsprechend gefeiert –, er stellt aber keine einzige politische Frage, die eine Debatte auslösen könnte. Giulias Verschwinden hingegen kommt zwar als eine Romanze daher, behandelt aber wichtige politische Fragen: Wie gehen wir mit unserem Alter um, was wird aus der AHV etc.

Muss ein politischer Film denn auch Antworten geben?

Nein, es reicht, wenn er Fragen stellt. Aber es müssen Fragen sein, die alle etwas angehen. Ein Film ist dann politisch, wenn er eine Frage stellt, die unsere Gesellschaft betrifft. In der Schweizer Filmgeschichte gibt es viele politische Filme. Nehmen Sie zum Beispiel den Film Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. von Richard Dindo und Niklaus Meienberg [CH 1976]. Der Film war in den 1970er-Jahren total politisch, sogar doppelt politisch. Er beschäftigt sich mit einem politischen Thema – die Schweiz während des Nationalsozialismus – und hat damals das ganze Land infrage gestellt: unsere Justiz, unsere Geschichte und unseren Umgang mit dieser Geschichte. Das war ein politisches Thema in Kombination mit einer politischen Haltung.

2005, als Sie noch Leiter des Kompetenzzentrums für Kulturaussenpolitik des EDA waren, haben Sie in einem Interview mit dem Ciné-Bulletin gesagt, dass Sie glauben, Kultur könne dort etwas bewirken, wo die klassischen Bemühungen der Politik nichts fruchten.1 Sie sahen sich damals vor der Aufgabe, ‹ein originelles und kreatives Zusammenspiel von Politik und Kultur zu finden›. Wie ist das heute? Inwiefern bringen Sie auch als Leiter der Sektion Film Kultur und Politik zusammen?

Mein jetziger Job ist ganz anders. Damals hatte ich den Auftrag, Kunstprojekte an Land zu ziehen, die eine aussenpolitische Dimension haben. Heute ist es meine Aufgabe, künstlerische Qualität und Kreativität zu fördern. Die Filme, die dadurch entstehen, können eine politische Wirkung haben, diese Wirkung ist aber nicht primäres Ziel unserer Filmförderung.

Ich persönlich habe allerdings ein grosses Interesse an Kunst mit einer politischen Dimension – das hat vermutlich mit meiner Herkunft zu tun. Ich wurde 1969 in Prag geboren, wo Kunst und Kultur einerseits ein Werkzeug der Propaganda waren, andererseits aber auch ein Werkzeug des Widerstands. Dieses Paar, Kunst und Politik, gehört sozusagen zur Familie.

Was glauben Sie, welche Bedeutung dieses ‹Paar› heute in der Schweiz hat?

Es hat eine grosse Bedeutung, gerade jetzt, wo die Schweiz eine politische Krise erlebt. Da brauchen Politiker und Parteien Inspirationen, und in der Kunst beziehungsweise im Film können sie sich diese Inspirationen holen.

Läuft denn die gesellschaftspolitische Relevanz eines Films unter das Förderkriterium ‹künstlerische Qualität›? Oder anders gefragt: Ist der politische Aspekt ein Kriterium bei der Vergabe von Fördergeldern?

Nein. Wissen Sie, ein Drehbuch oder ein Filmprojekt, das auf dem Papier zwar politisch daherkommt, aber keine künstlerische, kreative Dimension hat, ist kein Film für uns.

Für wen dann?

Das weiss ich nicht. Er gehört jedenfalls nicht zu den Filmen, die wir fördern. Für uns sind die künstlerische Qualität und die Kreativität die wichtigsten Kriterien. Das bedeutet, dass der Inhalt eines Filmes, politisch oder nicht, immer mit dem Künstlerischen verbunden sein muss. Sonst würden wir Propaganda fördern, und das geht nicht.

Es gibt in den Kunst- und Kulturwissenschaften ja auch Autoren, die davon ausgehen, dass eine Kunst, die nicht politisch ist, gar keine Kunst ist. Das hiesse, dass die künstlerische Qualität eines Films gerade darin bestünde, Fragen aufzuwerfen, Grenzen zu überschreiten oder neue Perspektiven zu entwickeln. Was haben Sie denn für ein Kunstverständnis?

Für die Theorie mag das stimmen. In der Praxis kann man aber durchaus verschiedene Gruppen von Filmen ausmachen. Es gibt Filme, die eher darauf aus sind, die Zuschauer zu unterhalten, und andere, die es mehr darauf abgesehen haben, gesellschaftliche Fragen zu stellen.

Und unter dem Kriterium ‹künstlerische Qualität› laufen beide?

Selbstverständlich. Auch wenn für mich persönlich die besten Filme jene sind, die beides wollen und können: unterhalten, aber auch intelligente und tiefsinnige Fragen stellen. Diese Filme sind wertvoll, aber rar – leider. Es gibt halt auch immer wieder Filme, die diese Dimension haben, aber ihr Publikum nicht finden. Die Kunst besteht ja immer aus zwei Dimensionen: einem Inhalt und der Vermittlung dieses Inhalts. Denken Sie zum Beispiel an die zeitgenössische Kunst. Es gibt jene Werke, die einem ihre politischen und künstlerischen Qualitäten unter die Nase reiben, und andere, die sofort und auch nicht leicht verständlich sind. Die Frage der Vermittlung ist daher sehr wichtig – erst recht im Filmbereich, denn dort gibt es gar keinen ‹reinen› Inhalt. Jeder Zuschauer sieht einen Film wieder anders.

Und wer behauptet, ein Film sei unpolitisch, löst damit erst recht politische Debatten aus.

Richtig, der Film ist ein Massenmedium mit hohem Medienecho. Es gibt viele Leute, die zuerst die Kritiken lesen, bevor sie ins Kino gehen. Die meisten Leute haben also bereits eine Idee vom Film im Kopf, noch bevor sie diesen gesehen haben. Das bedeutet, dass ein politischer Film, also ein Film, der eine politische Auseinandersetzung mit künstlerischen Mitteln führt, oft das Objekt einer Debatte in den Medien ist, die eine zusätzliche politische Dimension des Films ausmacht. In dieser Dynamik sind die Funktion und das Know-how des Verleihers zentral.

Was ist denn entscheidend beim Vertrieb solcher Filme?

Die Auswertung muss der politischen Dimension der Filme entsprechen. Es gibt immer noch Filme, deren Auswertung von den Verleihern nicht optimal durchdacht ist und die daher ihr Zielpublikum nicht erreichen. Deshalb fragen wir in den Eingabeformularen nach der Auswertungsstrategie. Wir wollen damit mehr Kohärenz erreichen. Unsere Kritiker sagen immer, es sei unmöglich, im Voraus zu wissen, wie viele Eintritte ein Film erzielen wird. Dem stimme ich zu. Aber es ist nicht unmöglich zu planen, wie und wo ein Film lanciert werden muss, um sein Publikum zu erreichen. Von einem Verleiher, der zum Beispiel einen politischen Film verleiht, erwarte ich also sowohl soziologische als auch politische Überlegungen.

2007 haben Sie im Magazin unter der Rubrik ‹Was ich mag/Was ich nicht mag› gemeint, Ihnen würden vor allem kompromisslose, engagierte, verrückte und zynische Filme gefallen.2 Was ist denn der verrückteste Film, der während Ihrer Amtszeit gefördert wurde?

Pipilotti Rists Pepperminta [CH 2008].

Gelingt diesem Film die Verbindung zwischen Kunst und Politik?

Ja, ich halte die Kunst von Pipilotti Rist für sehr politisch. Sie selbst verneint im Gespräch zwar deren politische Dimension, streicht aber heraus, dass sie mit ihrer Kunst in erster Linie die Welt zu verbessern sucht – und das entspricht genau meiner Definition von Politik. Der Film Pepperminta hat Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, indem er uns zum Nachdenken über den Platz des Glücks und der Freiheit anregt, wie die Heldin im Film ihre Mitmenschen.

Konnte man bei Pepperminta bereits dem Dossier entnehmen, welches Publikum der Film ansprechen wird und wie gross dieses Publikum sein wird?

In diesem Fall war es einfacher, weil eine professionelle Verleihfirma den Film von Anfang an begleitet hat. Die Auswertungsstrategie war solide. Und Pipilotti Rist ist eine bekannte Künstlerin. Aber wir sprechen hier von einem risikoreichen Geschäft, bei dem ein Misserfolg nur mit einem hohen Grad an Professio­nalität in Grenzen gehalten werden kann.

Das heisst, verrückte Filme sind erwünscht, man muss sich nur gut überlegen, wie man sie auswerten will?

Ja, der Mut zur Verrücktheit allein genügt nicht. Wir brauchen Verrücktheit gebunden an Professionalität. Je verrückter der Kunstschaffende ist, desto professioneller müssen Produzent und Verleiher sein.

Angenommen, es hätte eine junge, völlig unbekannte Regisseurin eine Film­idee wie Pepperminta eingereicht ...

... wir hätten sie auch gefördert. Ich erwarte von unseren Kommissionen, dass sie die Kreativität oder Verrücktheit der Kunstschaffenden erkennen, unabhängig von deren Namen. Aber ich erwarte von ihnen auch, dass sie bei ihren Entscheidungen mitberücksichtigen, von wem diese Verrücktheit begleitet wird. Denn man kann nicht verrückt produzieren. Ein Produzent darf nicht verrückt sein – vergessen wir nicht, dass er schliesslich Steuergelder verwaltet –, er sollte aber verrückte Projekte schätzen. Dies verlangt neben dem kreativen Aspekt die Fähigkeit, sorgfältig mit den Geldern umzugehen.

Was entgegnen Sie Filmemacherinnen und Filmemachern, die behaupten, dass man mit Geldern vom Bund und vom Fernsehen keine radikalen und innovativen Filme machen könne, weil man sich im geforderten institutionellen Rahmen permanent selbst zensieren und kontrollieren müsse?

Solche Behauptungen sind systeminhärent und stören mich eigentlich nicht mehr. Wir sind nicht diejenigen, die zensieren; wir wären die Letzten, die zensieren würden. Wenn ein Kunstschaffender, der kreativ und radikal ist, in diesem Land keine Förderung bekommt, dann könnte das daran liegen, dass er uns ein Produktionsdossier unterbreitet hat, das nicht unseren Vorstellungen von Professionalität entspricht. Vielleicht gibt es nicht genügend Produzenten, die sich auf verrückte, radikale Filme einlassen wollen – was auch verständlich ist. Nehmen Sie zum Beispiel Home von Ursula Meier [CH/F/B 2008]. Es hat zehn Jahre gedauert, bis der Film fertig war. Diese Idee, einen Film über eine Familie zu machen, die an einer Autobahn wohnt, ist schon ziemlich radikal. So ein Film braucht Zeit und einen fähigen Produzenten mit entsprechender Geduld.

Radikalität ist mehr als willkommen bei uns. Das kommunizieren wir den Produzenten laufend. Wir wollen nicht nur Mainstream-Filme fördern. Das heisst zwar nicht, dass wir diese nicht auch fördern würden, aber was dieses Land braucht, ist Kreativität. Man muss auch versuchen, diese Kreativität ausserhalb der klassischen Bereiche zu finden. Daher überlegen wir uns jetzt neue Förderprogramme im digitalen Bereich. Das Internet ist eine andere Welt als das Kino, aber das bewegte Bild spielt auch hier eine wichtige Rolle. Und wie Sie wissen, ist die Definition von Film vor dem Gesetz ziemlich breit. Ein Beispiel ist der Wettbewerb The Score, den wir in Locarno lanciert haben. Da geht es um Filmmusik im Sinne der ‹User Generated Contents›. Der Wettbewerb ist ein Test, ob wir im und über das Internet kreative Künstler beziehungsweise Filmemacher ansprechen können. Denn die sind oft gar nicht so einfach zu finden. Die Sektion Film muss sich die Frage stellen: Was heisst überhaupt innovativ? Wo können wir innovative und verrückte Künstler ansprechen?

Über solche Internetprojekte versuchen Sie also, Film- und Videoschaffende zu erreichen, die ihre eigenen Produzenten sind und sich über das Web auch gleich selbst vertreiben?

Ja, für Online-Filme und -Videos braucht es die klassische Arbeitsteilung nicht, wie sie im Kinobereich üblich ist. Da sind Ein-Mann-Produktionen möglich, die es dank eines geringen finanziellen Aufwands erlauben, ein grosses künstlerisches Risiko einzugehen und eine eigene kreative Handschrift zu entwickeln.

Eine neue Form des Autorenfilms?

Ja, im digitalen Bereich passiert so viel Neues – das könnte einiges verändern. Das Problem bleibt aber nach wie vor die Frage: Wo sind die Künstler? Wie wird dieser ‹digitale› Künstler definiert und wo sind die Grenzen seines Werkes? Als Reaktion auf diese Überlegungen und die ersten Schritte der Sektion Film in diese neue Welt erwarten wir von der Branche, sich mit diesem Bereich auseinan­derzusetzen. Es gibt so viele Leute, die zu uns kommen, ohne sich die Mühe zu machen, die Verordnung zu lesen und zu verstehen, in welchem Feld meine Equipe und ich uns bewegen. Dieses Feld ist juristisch und politisch stark begrenzt. Ich bin zwar bereit, innerhalb dieses Feldes gute Ideen umzusetzen, aber das braucht Zeit und eine gute Zusammenarbeit mit den Interessengruppen.

Muss man so auch Ihre Aussage verstehen, die Sie in Locarno in einem Gespräch mit Radio DRS gemacht haben: dass die Wirkung und der Spielraum der Filmpolitik auf die Entwicklung des Schweizer Films begrenzt sei und die Wichtigkeit der Sektion Film überschätzt würde?3

Teilweise ist das sicher der Fall. Woran wir in den letzten Jahren gearbeitet haben, war die Erneuerung der Schweizer Filmpolitik und nicht die Erneuerung des Schweizer Films. Als ich hier angefangen habe, steckte der Schweizer Film gerade in einer schwierigen Phase; er hatte keinen richtigen Platz in der Gesellschaft. Deshalb haben wir neben anderen Anstrengungen versucht, ihm insbesondere mit neuen Promotionsmassnahmen mehr Öffentlichkeit zu verschaffen. Ich denke, das haben wir erreicht. Aber dieser Promotionserfolg hat auch eine negative Seite. Ein heikler Effekt meiner Kommunikationspolitik ist, dass ich jetzt ‹Monsieur Cinéma› bin; der Mann, der die Verantwortung trägt, sobald bei einer Filmproduktion irgendetwas schiefläuft. Dabei sind unsere Kommissionen und ich für die Förderung des Schweizer Filmschaffens verantwortlich und nicht für die Filme selbst. Das Einzige, was wir machen, ist – und ich gebe zu, das ist delikat: wir setzen Kriterien. Sie haben unsere Verordnung gelesen und wissen, diese Kriterien sind nicht revolutionär.

Sie sind sehr relativ. Zum Beispiel das Kriterium ‹künstlerische Qualität›.

Ja, stimmt. Aber diese Kriterien lassen einen Handlungsspielraum zu – zum Glück. Das verhindert, dass jemand von uns Einfluss auf den Inhalt der Filme nehmen kann. Unsere Kriterien geben unserer Politik eine Richtung und einen Handlungsrahmen. Mit ihnen lässt sich keine versteckte Zensur betreiben.

Darin sehe ich auch keine Gefahr. Das Problem liegt meiner Meinung nach eher darin, dass die Kriterien nicht transparent sind. Schliesslich müssen Ihre Kommissionen so etwas wie ‹künstlerische Qualität› irgendwie auslegen. Das ist für mich schon eine Form der Einflussnahme. Und wenn Sie für die Flops der letzten Jahre verantwortlich gemacht werden, ist das nichts weiter als eine Kritik an dieser Auslegung.

Ich sehe, auf was Sie hinauswollen. Aber die Verwaltung eines Kredites verlangt nach einer politischen Linie, die sich auf Kriterien abstützt. Ich halte es für angemessen, es den Kommissionen zu überlassen, diese Kriterien zu interpretieren – in ihnen sitzen schliesslich Profis aus der Filmbranche. Wer glaubt, dass die Empfehlungen dieser Kommissionen nicht transparent sind, der irrt sich. Jede Empfehlung wird in ihrer Gesamtheit an den Gesuchsteller weitergeleitet. Ob diese Empfehlungen nun für die Flops im Schweizer Film verantwortlich sind – darüber kann man sicherlich diskutieren. Aber man muss sich im Klaren darüber sein, dass diese Experten die Filme, die sie bewerten, weder realisieren noch produzieren. Aber noch einmal zum Stichwort ‹Flop›: Seit wann spricht man von Flops im Schweizer Film? Erst seit ein paar Jahren. Ich halte das für eine positive Entwicklung, denn das heisst, dass die Leute davon ausgehen, dass die Rechnung auch aufgehen kann.

Wollen Sie damit sagen, früher seien alle Filme gefloppt, nur weil niemand von Flops geredet hat?

Nein, aber die Aufregung über die Flops zeigt, dass die Erwartungenan den Schweizer Film – auch was seine Zuschauerzahlen angeht – gestiegen sind. Das liegt daran, dass einige Filme funktioniert haben. Der Schweizer Film hat in den letzten Jahren etwas erreicht.

Im Evaluationsbericht der Filmförderungspolitik des Bundes von 1995–2005, auf dessen Ergebnisse die Filmförderkonzepte seit 2006 angeblich aufbauen, zitiert Emil Walter-Busch, der Autor der Studie, Alexander Kluge.4 Kluge hatte sich Anfang der 1980er-Jahre Gedanken zur Krise des deutschen Films gemacht. Seine Diagnose lautete: ‹Überproduktion von Filmen, zu schmale Abspielbasis.› Er warnte aber davor, dem Ruf nach Spitzenförderung zu folgen. Die Maxime ‹Viel Geld für wenig Filme›, so Kluge, schade nicht nur dem ‹kreativen Film›, sondern auch der sogenannten Spitze, denn beide seien auf den freien Zugang aller Nachwuchskräfte zur Filmproduktion angewiesen. Wurde dieses Zitat damals bei der Ausarbeitung der neuen Konzepte überlesen?

Zunächst einmal halte ich es für schwierig, die Schweiz und Deutschland zu vergleichen. Nicht einmal wegen der Grösse, sondern weil das Ziel der Filmförderung ein anderes ist. Unser Ziel beruht auf dem Artikel 71 der Schweizer Bundesverfassung, der zwei Seiten hat: die Förderung des Schweizer Films und der Filmkultur sowie die Förderung der Angebotsvielfalt. Es ist schwierig, beide Seiten gleich zu berücksichtigen. Hinzu kommt die Dehnbarkeit des Begriffs ‹Vielfalt›. Er kann sich auf die Sprachregionen beziehen, aber auch auf die Gattungen und Genres. Meiner Meinung nach heisst Vielfalt vor allem: ein ausgeglichenes Verhältnis von Dokumentar- und Spielfilmen sowie ein Gleichgewicht zwischen den Bereichen des Arthouse- und des Mainstream-Films, welches ein regionales Gleichgewicht berücksichtigt. Daran arbeiten wir, wobei unser Problemkind der Spielfilm ist. Im Unterschied zum Dokumentarfilm fehlen ihm noch Zuschauer und internationales Ansehen. Ausserdem braucht er mehr Geld. Unsere Herausforderung ist, eine Spielfilmlandschaft zu schaffen, die einerseits vielfältig ist, andererseits aber auch sein Publikum findet. Wir müssen daher von allen Spielfilmproduktionen – seien sie klein, gross, weiss oder rot, französisch oder rätoromanisch – verlangen, dass sie auf die Spitze der Professionalität zielen. Es ist mir egal, ob ein Film eine Viertelmillion oder fünf Millionen Franken kostet – ich erwarte, dass er professionell gemacht ist.

Aber wenn man sich die Flops und die schwindenden Zuschauerzahlen ansieht, die der Schweizer Film in den letzten Jahren verbuchen musste, hat Kluge dann nicht doch Recht behalten? Und reagieren Sie nun nicht auch selbst darauf, indem Sie den Arthouse-Film zum neuen Schwerpunkt ihrer Förderpolitik erklären?

Zunächst einmal möchte ich in Erinnerung rufen, dass wir genau gleich viele Filme wie in der Vergangenheit gefördert haben. Der Eindruck, dass wir weniger Filme fördern, und diese dafür mit mehr Geld ausstatten, ist falsch. Er rührt daher, dass die Sichtbarkeit von Mainstream-Filmen zugenommen hat. Dies hat zur Folge, dass die Arthouse-Filme an Sichtbarkeit verloren haben. Mit der schwerpunktmässigen Förderung der Entwicklung von Arthouse-Filmen versuchen wir tatsächlich, den innovativen Filmschaffenden und vor allem auch der jungen Generation entgegenzukommen. Aber wissen Sie, um den innovativen Film ist es zurzeit im Kinobereich generell nicht besonders gut bestellt. Zum Beweis: Was war denn der letzte innovative oder subversive Spielfilm, den Sie gesehen haben?

­... (Schweigen)

Sehen Sie! Bei mir war es Waltz with Bashir [Ari Folman, IL/D/F 2008], ein Animationsfilm, der eine politische Geschichte mit dokumentarischem Anspruch erzählt. Das Problem bei der Förderung von innovativen, subversiven und verrückten Filmen ist, dass wir zunächst einmal wissen müssen, was das überhaupt heisst: innovativ, subversiv und verrückt. In unseren Kommissionen sehen wir nur sehr wenige Projekte mit diesen Dimensionen. Vielleicht müsste man mit der Unterstützung solcher Filme im Vorfeld ansetzen, sodass die Projekte bereits im Stadium der Idee begleitet und gefördert würden. Meiner Meinung nach sollten wir für die neue Legislatur darüber nachdenken. Man könnte zum Beispiel eine neue Intendanz mit einem speziellen Topf schaffen: eine Intendanz für Radikalität. Das fände ich interessant, aber finden Sie mir bitte den Mann oder die Frau dafür.

Ich wüsste da jemanden ...

Sie? Sie haben vorher fünf Minuten nach einem radikalen Spielfilm gesucht und keinen gefunden.

Nun, man könnte mir das Zögern auch als Kompetenz auslegen.

Ich habe eher an jemanden mit dem Profil eines Marco Müller, den Leiter der Internationalen Filmfestspiele von Venedig, gedacht. Er hat eine Nase für innovative, radikale Projekte; jemand wie er wäre als Intendant für die Förderung marginaler Positionen im Bereich bewegter Bilder geeignet.

Um die Publikumswirksamkeit von gewagten, radikalen Filmen zu fördern, wäre es ja auch möglich, woanders anzusetzen. Statt die Filme auf das Publikum auszurichten, könnte man versuchen, das Publikum auf die Filme auszurichten – und damit meine ich jetzt keine verstärkte Promotionsarbeit. Ich denke eher an eine Ausweitung und Vertiefung des Förderbereichs ‹Filmkultur›. Gibt es auch in diesem Bereich neue Ideen, Strategien, Massnahmen?

In der Schweiz haben wir das grosse Glück, ein vielfältiges Festivalangebot zu haben. Jedes Jahr schauen sich über eine halbe Million Zuschauer Filme aus der ganzen Welt an. 2010 werden wir wieder eine Ausschreibung für diese Filmfestivals lancieren und die ausgewählten Veranstaltungen weiterhin unterstützen und begleiten. Wir werden auch die Sensibilisierung von Kindern und Jugendlichen für den Film – ein Programm, das wir vor zwei Jahren gestartet haben – weiter ausbauen. Da gibt es noch einiges zu tun. Denn Sie haben Recht, man muss sich unbedingt überlegen, wie sich die Schweizer Bürgerinnen und Bürger auch in Zukunft verstärkt für den Film interessieren lassen. Eine gute Beziehung zwischen dem Publikum und den Filmen zu pflegen, ist mit ein Weg, die Nachhaltigkeit der Filmkultur zu gewährleisten.

Zum Förderbereich ‹Filmkultur› gehört ja auch das Filmjahrbuch CINEMA. Sind Sie mit der Arbeit des CINEMA zufrieden oder wünschen Sie sich da auch Verbesserungen?

Das sind Organe, die sehr gut funktionieren, inhaltlich aber stark fokussiert sind auf Intellektuelle wie Sie und mich, Frau Zutavern. Wir brauchen aber eine Plattform zur Reflexion, die sich auch an ein breites Publikum rich­tet.

Wenn Sie eines Tages Ihr Amt abtreten: Was werden Sie Ihrem Nachfolger raten?

Ich rate ihm, ein Produzent zu sein und kein kulturpolitisches Tier wie ich. Mich selbst sehe ich als eine Mischung aus Film und Politik. Heute braucht der Sektionschef dieses Profil, da die Branche traditionsgemäss stark politisiert ist – zu stark eigentlich. Ich hoffe die Zeit kommt, in der das Kino die Politik überwindet. Der nächste Sektionschef sollte jemand sein, der hundert Prozent aus der Kinowelt kommt. Ein Profiproduzent wäre meiner Meinung nach ideal; einer, der sich mühelos zwischen Kreativität und Produktion bewegt.

Interview II

Jürg Hassler, unabhängiger Filmemacher: «Ich bringe es einfach nicht fertig, gute Filme zu schauen.»

Julia Zutavern: Herr Hassler, was ist ein politischer Film?

Jürg Hassler: Ein politischer Film ist ein Film, der Stellung bezieht, indem er betroffen macht. Aus der Betroffenheit entsteht dann Engagement und aus dem Engagement wird Politik. Politischen Einfluss hat ein Film also dann, wenn er Betroffenheit auslöst. Damals, 1968, bei den Dreharbeiten zu Krawall [CH 1970] war unser Bewusstsein politisch, zumindest hielten wir es dafür. Das äusserte sich in pausenlosem Gerede: Alle haben dasselbe gesagt, obwohl jeder von vornherein wusste, was der andere sagen wird – das lag wohl daran, dass wir alle Habermas gelesen hatten. Ich habe das dann nicht mehr ausgehalten und bin statt zu den Drahtziehern im Malatesta ins Kon-Tiki zu den Hell’s Angels.

Aber noch einmal zur Frage nach dem ‹politischen Film›: Ich halte auch den scheinbar unpolitischsten Film für politisch. Der Begriff ‹Politik› kommt ja vom griechischen Begriff ‹Polis›, was so viel heisst wie Stadt oder Gemeinschaft. Politik entsteht dann, wenn man sich anderen mitteilen will und diese Mitteilung bei mindestens einem dieser anderen ankommt.

Das heisst, jeder Film ist politisch, weil jeder Film eine Mitteilung ist?

Ja, sogar die blödeste Unterhaltungsshow im Fernsehen konfrontiert dich mit den Interessen anderer: Sie führt dir vor, dass der Rest der Welt verblödet ist, oder umgekehrt, dass du so verblödet bist, den Rest der Welt für verblödet zu halten.

Was teilt uns Krawall mit?

Krawall zeugt von einer relativ naiven Sicht auf die Welt: von dem Glauben, dass die Gerechtigkeit – was immer das heissen mag – irgendwann siegen wird. Wir, die sogenannten Achtundsechziger, haben uns am Ende selbst zerfleischt. All die Maoisten, Trotzkisten und all die anderen -isten, die es damals gab, haben sich gegenseitig bekämpft, statt dass sie für ihre gemeinsame Sache eingetreten wären. Was nützt so ein Kampf, der im Namen irgendwelcher grossen abstrakten Ideen geführt wird?

Gibt es einen Film, von dem Sie meinen, dass ihm diese Konfrontation von persönlichen und gesellschaftlichen Interessen besonders gelungen sei?

Ja, Grapes of Wrath von John Ford (USA 1940) über die Ausbeutung von amerikanischen Landarbeitern. Als ich den Film gesehen hatte, dachte ich: So einen Film würde ich gern machen – der Film hat mich in meiner Idee bestärkt, Filmemacher zu werden. Ausserdem Il fiore delle mille e una notte von Pier Paolo Pasolini (I/F 1974) – es gibt keinen besseren Film über das Lachen. Viele Pasolini-Anhänger haben damals geglaubt, ihr Meister sei verrückt geworden, nur weil sie in dem Film nicht die Form von Provokation entdecken konnten, für die Pasolini bekannt geworden ist.

Wie sieht es heute aus? Gibt es noch Filme, die betroffen machen und zu politischem Engagement führen?

Ja, immer wieder. Der Unterschied ist nur, dass es früher möglich war, einen Film aus eigenen Kräften und mit eigenen Ideen zu machen, wenn auch mit schlechter Ton- und Bildqualität. Du konntest damals einfach etwas drehen, das dann mit jemandem diskutieren und den Film nach den eigenen Vorstellungen zu Ende bringen. Das geht heute nicht mehr – wegen der Produzenten. Dabei wäre es mit der neuen Technik viel einfacher. Wer so arbeitet, wie wir damals, landet heute im Internet und nicht im Kino. Das Kino tendiert immer mehr zu Grossproduktionen. Technik und Geld dominieren über Kreativität, eigene Ideen sind kaum mehr gefragt. Das fängt in der Schule an. Schon da bekommt man ständig eins drauf, wenn man mal etwas anders machen will, als es vorgesehen war. Unsere Gesellschaft ist vor allem darauf ausgerichtet, sich wirtschaftlich funktionsfähig zu halten; das gilt auch für den Kulturbereich. Wir dressieren ja sogar unsere Pflanzen, damit sie grössere Früchte abwerfen, auch wenn die dann wässerig schmecken.

Schauen Sie sich denn Online-Videos an?

Ich habe keinen Computer.

Warum nicht?

Weil ich mich konzentrieren möchte, und das kann ich nicht, wenn ich vor einem Computer sitze und mit einem an eine Maus gekoppelten Pfeil herumirre: Ist es das? Nein. Das? Nein, das auch nicht. Und wo ist denn...? Im Internet musst du die Perle, die du suchst, ständig aus einem neuen Scheisshaufen herausgrübeln. Es sind die einfachen Dinge, die dich weiterbringen, nicht die unendlichen Möglichkeiten. Doch mein Anachronismus hat schon zu bröckeln begonnen; ich habe ich jetzt eine Homepage: http://juerghassler.com/.

Gehen Sie regelmässig ins Kino?

Nein, wenn ich ehrlich bin, schaue ich mir gar nicht mehr so viele Filme an. Ich überrede hin und wieder meine Familie in Paris zu einem Kinobesuch, aber dann gehen wir in so stinknormale Filme wie Pirates of the Caribbean [USA 2003–2007]. Ich bringe es einfach nicht fertig, gute Filme zu schauen.

Wieso das denn?

Meine Füsse gehen in Richtung Kino, und dann gehen sie irgendwo anders hin. Das ist schon seit Jahren so. Ich finde es gut, wenn Filmemacher sich daran orientieren, was andere Filmemacher gerade so machen. Ich selbst kann das aber nicht mehr. Das mag arrogant klingen, aber ich habe überhaupt kein Bedürfnis, von irgendjemandem irgendetwas zu lernen.

Obwohl, vor Kurzem habe ich Antichrist von Lars von Trier [DK/D/F/S/I/PL 2009] gesehen – der Film hat mich beeindruckt. Er erzählt zwar eine persönliche Geschichte, nimmt dabei aber die Machtverhältnisse zwischen Mann, Frau und Kind auseinander. Das ist Politik in ihrer Reinkultur: Die Frage, wie kann man zusammenleben? Lebt und liebt man um des Lebens und der Liebe willen oder befriedigt man sich selbst? Wenn ich jetzt all die Banken sehe, wie sie einfach weitermachen wie bisher, da kriege ich das Kotzen. In Antichrist kann man sehen, wie sich die Kräfte, die in unserer Gesellschaft spielen, in uns hineindrücken: Entweder man gibt sich ihnen hin oder man versucht, sich gegen sie zu wehren. Aber so oder so: ausgesetzt bleibt man ihnen immer.

Denken Sie, dass Filme die Gesellschaft verändern können?

Erinnern Sie sich an das frühere Signet der Filmcoopi? Das war eine Kamera als Maschinenpistole. Das Signet wurde schon vor Jahren ausgetauscht – das sagt doch alles, oder? Das Kino ist heute ein dunkler Ort zum Schmusen. Die einzige Handlungsmacht sehe ich beim Fernsehen. Aber das Fernsehen ist ja so mit Ratespielen und Talkshows beschäftigt, dass es für die guten Sendungen und Filme erst nach Mitternacht Zeit hat. Damals bei Krawall, da habe ich noch geglaubt, dass der Film eine Waffe ist. Ich wollte einen Traktatfilm machen und alle Ungerechtigkeiten, die ich finden konnte, hineinpacken.

Hat Krawall etwas verändert?

Das ist schwer zu sagen. Es gab viele Schüler, Lehrlinge und Studenten, die den Film unbedingt sehen wollten und ihn auch in ihren Schulen, Lehrlingswerken und Unis gezeigt haben – gegen den Willen ihrer Lehrer, Ausbildner und Professoren versteht sich. Ob der Film etwas in ihrem Bewusstsein verändert hat, weiss ich nicht. Die einen werden weiterhin gekuscht haben und die anderen weiterhin rebelliert.

Wann haben Sie aufgehört zu glauben, der Film sei eine Waffe?

Als meine Tochter auf die Welt kam. Dadurch, dass ich ihr meine volle Zuneigung schenken wollte, wurde meine Sicht auf die Welt komplexer. Schon beim Säugling weiss man nie genau, ob er schreit, weil ihm etwas fehlt, oder weil er den Tyrannen spielt.

Ich habe mich schon immer in widersprüchlichen Welten bewegt. Damals ging ich tagsüber Häuser besetzen und arbeitete abends als Beleuchter in einem Nachtklub, wo ich auch meine zukünftige erste Frau kennenlernte – sie war Tänzerin. Einmal kam es sogar vor, dass sich einer der Hausbesitzer bei ihr und einer Flasche Champagner über uns Hausbesetzer beklagt hat.

Meine Frau und ich haben dann später zusammen eine Nummer erfunden – die war richtig gut: Ich habe das Publikum mit einer Infrarotkamera gefilmt und diese Aufnahmen mit einem der ersten Beamer – der kostete damals vierzigtausend Franken – auf eine schräge Leinwand aus Plexiglas projiziert, auf der meine Frau dann herumtanzte. Die Spanner konnten sich also selbst beim Spannen zusehen. Mit dieser Nummer sind wir dann durch die ganze Welt getourt: Japan, Indonesien, Skandinavien, London etc.

Nachdem ich wie alle Mitglieder der damaligen jungen Sektion der PdA von der Partei ausgeschlossen worden war – wegen Fraktionalismus und unserer Kritik am sowjetischen Revisionismus und dem Einmarsch der Sowjetunion in die Tschechoslowakei –, war mein persönliches politisches Engagement zwar immer noch intakt, ich musste es aber nicht mehr im politischen Aktivismus ausdrücken.

Während der Jugendunruhen 1980 bin ich dann noch einige Male für den Film Züri brännt [Videoladen, CH 1980] auf die Strasse gegangen, wobei einem Kollegen vom Videoladen ein Polizeiauto absichtlich und straffrei über den Fuss gefahren ist. Aber der allgemeine Amoklauf gegen die Polizei hat mich nicht interessiert. Heute weiss ja ohnehin niemand mehr, was man machen muss, um wirklich politisch Einfluss nehmen zu können. Ich betrachte Politik je länger je mehr von einem persönlichen Standpunkt aus und nicht mehr als eine abstrakte Idee. Abstrakte Ideen münden oft in Fanatismus.

Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage in der Schweiz? Ist der politische Film noch gefragt?

Ich sehe, dass der Schweizer Film ein Produktionsfilm geworden ist. Es werden heute Glanzpapierfilme gefördert statt Autorenfilme. Der Inhalt der Filme ist nicht mehr so wichtig, wichtig ist das Drum und Dran: die Produzenten, die Technik, das Dossier im Glanzpapier, in dem ein Film medienfremd genau beschrieben werden muss – so als wüsste man vorher schon, wie der Film nachher aussehen wird. Es ist schrecklich, was man für einen Aufwand betreiben muss, um Geld für seine Filme zu bekommen.

Verhindert die aktuelle Filmförderungspolitik Ihrer Meinung nach die Entwicklung der Schweizer Filmkultur?

Das weiss ich nicht. Alles was ich weiss, ist, dass ich Filme, die ohne Gelder vom Bund realisiert wurden, oft interessanter finde als die, die vom Bund gefördert wurden. Früher hat man bei der Eingabe eines Projekts ehrlich sagen können, was für einen Film man machen will. Heute muss man sich schon genauer überlegen, wie man seine Ideen präsentiert, um an Fördergelder zu kommen.

Ich weiss, wie schwierig es für die Kommissionen ist, die Gelder zu verteilen. Ich war selbst einmal in einer Jury und beneide niemanden, der ständig den Daumen hoch und runter halten muss. Doch bei allem Entscheidungsdruck, dem die Kommissionen ausgesetzt sind, kommen mir ihre Förderkriterien doch etwas zu oberflächlich vor. Ausschlaggebend scheint zu sein, ob der Antragssteller weiss, wie er mit seinem Geld umzugehen hat, und nicht, was für einen Film er mit diesem Geld machen will. Selbstverständlich ist erstere Frage auch wichtig – ich bin der letzte, der das noch bestreiten kann. Schliesslich habe ich erst kürzlich dem Bund das Geld zurückgezahlt, das ich vor Jahren für ein Filmprojekt erhalten hatte, das ich bis heute nicht realisiert habe ... Trotzdem denke ich, man sollte lieber einmal einen Flop riskieren und dafür offener bleiben für gewagte Projekte. Das Hochhalten von Ordnung und Professionalität ist nicht unbedingt kreativitätsfördernd. Wie gesagt verstehe ich aber auch, dass die Finanzen stimmen müssen, sonst wird das Parlament eines Tages überhaupt kein Geld mehr herausrücken. Das bringt dann unsere Filmkultur auch nicht weiter.

Was würde unsere Filmkultur denn weiterbringen?

Dringlichkeit und Experimente. Ich liebe den Film als Abenteuer. Wer eine zündende Idee, ein wichtiges Anliegen oder ein ernstes Problem hat, braucht weder eine grossartige Ausbildung noch teures Equipment, um einen interessanten Film zu machen. Ich denke, der Schweizer Film wird sich nur ändern, wenn es wieder mehr Leute gibt, die einfach drauflos filmen. Die Bedingungen dafür sind heute besser denn je. Ich frage mich nur, warum es kaum jemand macht. Viele Filmemacher setzen auf sichere Werte.

Angenommen, Sie würden eines Tages zum Chef der Sektion Film des Bundesamtes für Kultur ernannt. Was würden Sie tun?

Ich würde sofort mein Amt abgeben; für diesen Posten bin ich nicht geeignet. Vielleicht würde ich sogar vorschlagen, nicht nur mich wieder abzuschaffen, sondern gleich den ganzen Posten. Ich habe zwar damals in unseren Diskussionsgremien zur Genüge erfahren, wie träge kollektive Entscheidungsfindung sein kann, denke aber trotzdem, dass ein Posten, wie ihn Herr Bideau hat, auf mehrere Schultern verteilt werden müsste.

Ausserdem würde ich die Filmemacher in verschiedene Ligen einteilen: Champions League, Nati A, Nati B, Erste Liga, Zweite Liga etc. Es gälten für alle dieselben Aufstiegschancen, die Förderbeiträge würden aber der jeweiligen Liga entsprechend verteilt. So müsste nicht erst die Bundesgiesskanne kippen, bevor man auch vom Kanton, der Gemeinde und den Stiftungen Gelder bekäme.

So ein Gremium bräuchte ja trotzdem Förderkriterien. Welche Kriterien würden Sie setzen?

Das oberste Kriterium wäre die Vielfalt. Im Moment ist alles so eintönig: Es gibt den Spielfilm und den Dokumentarfilm – die Videoinstallation zählt man schon zu einem anderen Kunstbereich ... Ausserdem sollte das Fernsehen wieder verstärkt seine kulturellen Aufgaben wahrnehmen. Im Neorealismus und in der Nouvelle Vague hat man noch versucht, mit seinen Filmen das Publikum zu verändern, heute rennen alle dem Publikum nach. So schnell, wie Godard seine ersten Filme geschnitten hatte, konnte damals noch gar niemand gucken (heute, in der Zeit der Clips, ist dieses Tempo natürlich kalter Kaffee). Godard hat gemacht, was er für richtig gehalten hat, ohne sich darum zu kümmern, ob das die Leute sehen wollen oder nicht. Man müsste versuchen, das Publikum wieder mehr aufzurütteln statt weichzukneten.

Ich würde auch die Längenvorgaben von Filmen abschaffen. Es sollte wieder möglich beziehungsweise vertretbar sein, ganz lange Filme zu drehen wie Erich von Stroheim damals mit seinem neunstündigen (später dann vierstündigen) Film Greed (USA 1924) oder Abel Gance mit dem fünfeinhalbstündigen Napoléon (F 1927). Oft hat man unheimlich viel schönes Material, und dann heisst es mit einemmal: Wir müssen kürzen. Ein Film kann auf diese Weise völlig zerschnitten werden. Darunter habe ich schon oft gelitten. Zum Beispiel bei meinem Film Josephsohn, Stein des Anstosses (CH 1977), da musste ich für die Fernsehfassung von neunzig Minuten auf sechzig runter – der Film war damit erledigt.

Früher war es wichtig, dass die Produktionszeit kurz war, weil so viele Leute bei einem Film beschäftigt waren. Heute sollte der Zeitfaktor wieder offener werden. Ich halte es für unsinnig, dass man erst drehen darf, wenn das Drehbuch fertig ist. Rechercheaufnahmen sind zwar erlaubt, offiziell darf man mit den Dreharbeiten aber erst beginnen, wenn man bereits schriftlich festgehalten hat, was man wie drehen will. Für meine Arbeit ist das hinderlich, da ich dieses Was und Wie immer erst mit der Kamera finde.

Was macht einen künstlerischen Film aus?

Eine ausgeprägte Sensibilität für unsere Existenz, verbunden mit einer Unkonventionalität, in der sich diese Sensibilität ausdrückt. Kunst lehrt einem nichts, sondern sie stupst einen auf etwas, das bereits in einem drin ist. Sie bringt dich dazu, aus deinen Gewohnheiten herauszufallen und verschafft dir eine neue Sicht. Kunst ist letztlich aber sehr schwierig zu definieren, weil jeder etwas anderes darunter versteht. Für mich ist immer noch Paul Cézanne der grösste Künstler.

Was macht ihn so gross?

Er wollte genau sein. Und genau sein heisst bei ihm, nicht mehr eine Linie genau nachzeichnen, sondern alles, was diese Linie ausmacht, auch wenn die Linie dann keine Linie mehr ist.

Was heisst Genauigkeit im Film?

Ein Zusammenprall von Gegensätzen, durch den der Zuschauer gezwungen wird, seine eigene Ordnung im Chaos zu finden.

Ist Ihre Kameraarbeit Kunst?

Ich versuche, mit meiner Kamera kleine Dinge zusammenzusetzen, um damit eine bestimmte Ausdruckskraft zu erzeugen. In Well Done [CH 1994] und Ghetto [CH 1997] von Thomas Imbach habe ich die Kamera wie eine Sonde eingesetzt: immer auf die Details gerichtet. Wenn du ein Gesicht nur in Nahaufnahmen filmst, verwandelt es sich in eine Landschaft; die Nahaufnahme ist dann genaugenommen keine Nahaufnahme mehr, sondern wird zu einer Totalen. Mir geht es bei meiner Kameraarbeit darum, ‹Echtes› einzufangen.

Wie steht es mit der Genauigkeit?

Um Genauigkeit geht es auch, aber nicht im Sinne einer präzisen Ausführung. Ich versuche durch Offenheit genau zu sein, durch Bilder Assoziationen zu schaffen, die einen bestimmten Zustand, ein bestimmtes Gefühl präzise ausdrücken – wie Peter Liechti in seinem letztem Film The Sound of Insects – Record of a Mummy [CH 2008], auch wenn der Off-Text die Offenheit der Bilder dort gleich wieder zubetoniert und sie zur Illustration degradiert hat. Man muss der eigenen Wahrnehmung vertrauen, statt darauf zu spekulieren, worauf die Zuschauer, Verleiher und Kinos abfahren könnten.

An wen richtet sich Ihre Kunst?

Ich stelle mir bei der Arbeit immer jemanden vor, der sich meine Filme einmal angucken wird oder eine Partie Schach auf meinen Schachbrettern spielt. Sollten sich später noch mehr für meine Werke interessieren – um so besser. Kunst braucht aber nicht gleich hunderttausend Betrachter, Zuschauer oder Nutzer, um sich zu legitimieren.

Lars von Trier hat sich bestimmt auch nicht gefragt, wen sein gequältes Innenleben interessieren könnte, als er seinen Antichrist gedreht hat. Vergessen Sie also den Steuerzahler – der zahlt für noch viel unnützere Dinge noch viel höhere Beträge.

Was ist mit Ihren Schachobjekten, sind sie auch eine Form der politischen Konfrontation?

Schach ist ein Kriegsspiel. In meiner Version des Spiels geht es allerdings mehr um das Austarieren von Ordnung und Chaos. Zurzeit arbeite ich an einem Schachbrett mit dem Titel Stars and Stripes zum Thema Gazastreifen. So gesehen ist die Antwort: Ja, auch meine Schachbretter stellen diese Konfrontation her: Die Ordnung ist das Gesellschaftliche und das Chaos ist das Persönliche.

Sie sind jetzt einundsiebzig und seit mehr als fünfzig Jahren als Künstler tätig. Was treibt Sie an?

Ich bin zufällig geboren worden und muss mit mir ja irgendetwas anfangen – es gibt Sinnloseres als die Kunst. Ich wollte ursprünglich der beste Künstler auf der Welt werden. Das bin ich zwar nicht geworden, dafür konnte ich mein ganzes Leben lang unabhängig arbeiten. Ich bin nicht reich, aber glücklich.

Was raten Sie jungen Filmemacherinnen und -machern?

Ich rate ihnen das ‹Machen›.

Nicolas Bideau im Gespräch mit Françoise Deriaz, «Nicolas Bideau: kultureller Diplomat», in: Ciné-Bulletin (Juni/Juli 2005), S. 12.

Nicolas Bideau, «Bekenntnisse», in: Das Magazin (7. September 2007).

Nicolas Bideau im Gespräch mit Marcy Goldberg und Eric Facon (Moderation), «DRS2 aktuell: Tandoori Love erhält Preis für beste Schweizer Filmmusik» (12. August 2009).

Emil Walter-Busch, Vielfalt, Qualität und Popularität. Ziele und Ergebnisse der Filmförderungspolitik des Bundes, 1995–2005, St. Gallen 2006, S. 45 ff.

Nicolas Bideau, geboren 1969 in Prag, ist seit dem 1. Oktober 2005 Leiter der Sektion Film im Bundesamt für Kultur (BAK). Er studierte Politologie an den Universitäten Lausanne und Pa­ris sowie Geschichte und Kulturgeschichte in einem Nachdiplomstudium in Paris und Peking. 1999 trat er in den diplomatischen Dienst des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegen­heiten (EDA) ein. 2003 wurde er zum diplomatischen Berater des damaligen Bundespräsiden­ten Pascal Couchepin ernannt und von 2004 bis 2005 leitete er das Kompetenzzentrum für Kul­turaussenpolitik. Als Leiter der Sektion Film untersteht er der Verordnung des Eidgenössischen De­partements des Innern (EDI) über die Filmförderung (FiFV). Zu seinen Aufgabenbereichen ge­hören die einzelnen Filmförderungsmassnahmen, die Wahrung und Förderung der An­ge­bots­viel­falt sowie die Entwicklung von Perspektiven und Zielsetzungen der künftigen Filmpo­litik des Bundes.

Jürg Hassler, geboren 1938 in Zürich, ist unabhängiger Filmemacher, Kameramann, Cutter, Bild­hauer und Fotograf. Seine Ausbildung zum Bildhauer absolvierte er nach der Matura bei Hans Josephsohn, seine Ausbildung zum Fotografen erfolgte 1958 bis 1959 an der Fotoschule in Vevey. Er arbeitete von 1961 bis 1962 als Bildhauer in Neapel und einige Jahre freiberuflich als Fotograf. Von 1967 bis 1968 besuchte er die Filmarbeitskurse I und II an der Kunstgewerbeschule Zürich. 1968 drehte er Krawall, eine Dokumentation der Zürcher Jugendunruhen. Es folgten weitere eigene Filmprojekte. Seit 1991 ist Hassler überwiegend als Kameramann und Cutter tätig, vor allem für Thomas Imbach. Heute pendelt er zwischen Paris und Zürich und baut u. a. Schachobjekte; sie wurden 2008/09 unter dem Titel Mattomatt im Museum Tinguely Basel ausgestellt.

Julia Zutavern
*1980, ist Oberassistentin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich und Redaktionsmitglied von Montage AV. Ihre Dissertation Der Bewegungsfilm. Die Politik der Film- und Videoarbeit im Kontext sozialer Bewegungen erscheint im Sommer 2014. www.schueren-verlag.de
(Stand: 2014)
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