THOMAS HUNZIKER

NORDWAND (PHILIPP STÖLZL)

SELECTION CINEMA

Im Sommer 1936 strebt Adolf Hitler nach dem Gipfel, um die Überlegenheit der «reinen Rasse» zu beweisen. Ein verlockendes Ziel dafür ist die Erstbesteigung der Eigernordwand,«dem letzten Problem der Alpen.» Henry Arau (Ulrich Tukur), Chefredaktor der Berliner Zeitung, riecht eine grosse Geschichte. Er setzt die aus Berchtesgaden stammende Volontärin Luise Fellner (Johanna Wokalek) auf ihre beiden Jugendfreunde Toni Kurz (Benno Fürmann) und Andi Hinterstoisser (Florian Kurz) an, die erfahrene und begeisterte Bergsteiger sind.

Nach ersten Bedenken brechen Kurz und Hinterstoisser in das Berner Oberland auf, um sich der Herausforderung zu stellen. Im Basislager auf der Kleinen Scheidegg wartet schon die Konkurrenz. Ernsthafte Gegner sind einzig Edi Rainer (Georg Friedrich) und Willy Angerer (Simon Schwarz) aus Österreich. Am 18. Juli steigen die beiden Seilschaften um zwei Uhr nachts in die Wand ein. Am Morgen verfolgen Presse und Schaulustige das Spektakel von der sicheren Terrasse des Hotels aus.

Am ersten Tag kommen die Bergsteiger gut voran. Durch eine akrobatische Einlage verewigt Hinterstoisser sogar seinen Namen in der Wand. Doch am zweiten Tag gerät das Unternehmen ins Stocken. Angerer wirkt angeschlagen, und zudem schlägt das Wetter langsam um. Am Mittag des dritten Tages entscheiden sich die mittlerweile gemeinsam kämpfenden Seilschaften zur Umkehr. Doch einsetzender Schneefall, Lawinen und Steinschläge bedrohen die sichere Rückkehr.

Der gescheiterte Erstbesteigungsversuch der Eigernordwand ist für einen überwältigenden Kinofilm ein idealer Stoff. Die Spannung am Berg wird mit dem politisch brisanten Hintergrund und der Ausschlachtung durch die zynischen Medien zu einem spannenden Erlebnis verknüpft. Diese drei Komponenten haben die Filmemacher über weite Strecken im Griff. Vor allem in der ersten Hälfte sorgen sie durch munteres Tempo und treffende Dialoge für fesselndes Kino. Auch die technische Umsetzung ist einwandfrei. Bei einigen Szenen ist zwar zu erahnen, dass sie in künstlichen Felsen entstanden sind, aber der Eindruck von bedrohlicher Kletterei bleibt immer bewahrt. Was die Szenen in der Wand betrifft, übertreffen sie bezüglich Authentizität sogar locker vergleichbare Produktionen aus Hollywood, wie etwa Cliffhanger (Renny Harlin, USA 1993) oder Vertical Limit (Martin Cambpell, USA 2000).

Doch in die Handlung wurde auch noch eine kitschige Liebesbeziehung eingebaut. Die Figur der rasenden Reporterin Luise Fellner dient zunächst noch als emotionaler Anker. Als dann aber die Jugendliebe aufflammt, beginnt sich die Geschichte in Klischees inklusive Eifersuchtsszene und rührigem Abschied zu verheddern. Wenn dann Luise am Schluss selbst in die Wand stürmt, um ihren Toni zu retten, verliert die Geschichte jegliche Glaubwürdigkeit. So bietet das Bergsteigerdrama kolossales Hühnerhautkino – aber eben nur in der ersten Hälfte. Sehenswert ist die Grossproduktion aus Deutschland, Österreich und der Schweiz jedoch allemal.

Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)
www.schueren-verlag.de
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