SIMON DICK

BIRD’S NEST – HERZOG & DE MEURON IN CHINA (CHRISTOPH SCHAUB, MICHAEL SCHINDHELM)

SELECTION CINEMA

Die Olympischen Spiele in China sind Geschichte. Was bleibt, sind Erinnerungen an emotionale Wettkämpfe, eine gigantische Eröffnungsshow und das «Vogelnest», welches zum heimlichen Star der Spiele avancierte. Doch auch Stars müssen zuerst geboren werden. Wie die chinesische Regierung die anstrengende Bautätigkeit der Architekten prägte und ein Monument für ein Millionenpublikum in Auftrag gab, zeigt Bird’s Nest, der Dokumentarfilm der beiden Filmemacher Christoph Schaub und Michael Schindhelm.

Das Ringen um die architektonische Form trifft im Film auf das gesellschaftliche und kulturelle Alltagsleben in China. Die komplexen Entstehungsprozesse des gigantischen Olympiastadions werden zum Sinnbild einer aufstrebenden Weltmacht. Auf dieser Baustelle treffen nicht nur politische Systeme aufeinander, sondern auch die differenzierten, architektonischen Traditionen geraten immer wieder aneinander. Im Jahre 2002 gingen die beiden Jugendfreunde Herzog und de Meuron nach China, um ihr bis dahin wichtigstes Bauprojekt zu realisieren. Das eingespielte Duo, welches bereits die architektonische Meisterleistung der «Allianz Arena» in München vollbrachte, ist sich der Wichtigkeit dieses gigantischen Projektes bewusst. Sie konstruieren nicht nur ein herkömmliches Sportstadion, sondern ein langlebiges Sinnbild für eine aufstrebende Nation.

Dass China sich als Sportnation versteht, ist kein Klischee, sondern eine Tatsache, welche der Dokumentarfilm auf subtile Weise dem Zuschauer näherbringt. So werden immer wieder Szenen gezeigt, in denen die Bevölkerung beim Massenturnen im Park oder auf anderen öffentlichen Plätzen zu sehen ist. Öffentlichkeit ist zentral in jenem Land, das sich nach aussen als Einheit darstellt, im Innern jedoch mit seiner Zerrissenheit und der Suche nach dem Gleichgewicht zwischen Moderne und Tradition kämpft.

Auch wenn die beiden Architekten mittlerweile in China beinahe zu Volkshelden erkoren worden sind, konzentriert sich der Film auf das Produkt, welches sie für das chinesische Volk konstruieren. Der Held im Dokumentarfilm ist das Stadion mit seinen chaotischen Strukturen, die dennoch eine gewisse Regelmässigkeit aufweisen. Der Film zeigt auf beeindruckende Weise, wie sich die beiden Stararchitekten ohne Vorurteile an das neue Projekt heranmachen und mit einheimischen Künstlern versuchen, aus dem kulturellen Kontext eine Idee zu kreieren, welche der Bevölkerung und vor allem der Regierung gefallen wird.

Gekonnt finden die Filmemacher eine ausgewogene Mischung zwischen lauten Bauszenen, hektischen Büroimpressionen, Statements der Architekten und ruhigen Landschaftsaufnahmen. Die imposanten Bilder der Baustelle sprechen für sich. Ein Kommentar dazu ist nicht nötig. Das stille Stahl-Gerippe überragt dabei dessen Erschaffer. Herzog und de Meuron verschwinden im Schatten ihres gigantischen Kindes, welches sich verselbständigt hat und Teil der chinesischen Kultur geworden ist. Eine wegen vielen Einschränkungen schwierige Geburt wird zum neuen Nationalsymbol, zum neuen öffentlichen Raum mit Schweizer Wurzeln.

Simon Dick
*1979, Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaft in Freiburg, lebt und arbeitet im Berner Seeland als Multimedia­redaktor und Filmjournalist. Autor des Bu­ches Die Zukunft der Unterhaltung: Wie Videospiele zur neuen Traumfabrik wurden (2008).
(Stand: 2011)
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