Die griechische Stadt Thessaloniki galt lange als «Jerusalem des Balkans». 450 Jahre lang war Thessaloniki ein wichtiger Zufluchtsort für sephardische Juden. Jene Juden, welche 1492 aus dem katholischen Spanien vertrieben wurden und im osmanischen Reich eine neue Heimat fanden.
Paolo Poloni erforscht in seinem neuen Dokumentarfilm das heutige Thessaloniki. Der Luzerner Filmemacher verzichtet auf historische Exkurse. Vielmehr saugt er mit Salonica Eindrücke der Gegenwart auf, begleitet den Alltag der jüdischen Einwohner, deren aussergewöhnliche Verbundenheit mit der Stadt heute kaum mehr spürbar ist. Einem Netz gleich spannt Poloni zahlreiche Lebensgeschichten auf. Ihn interessieren die Menschen. So lernen wir den 87-jährigen Moishe Bourla kennen, einen überzeugten Kommunisten, der in einem jüdischen Altersheim wohnt und auf ein bewegtes Leben zurückblickt: Nach 1945 wurde Bourla von der rechten griechischen Regierung für sieben Jahre auf eine Strafinsel verbannt, bevor man ihn nach Israel auslieferte. Später lebte er in Russland, 1990 kam er schliesslich in seine Heimatstadt Thessaloniki zurück. Aus einer ganz anderen Perspektive erlebt Devin Naar die griechische Stadt: Die Vorfahren des amerikanischen Geschichtsstudenten emigrierten in den 1920er-Jahren in die USA. Die persönliche Suche nach seinen Wurzeln führte den engagierten Studenten nach Thessaloniki, wo er – angetrieben von einer emotionalen Anziehung, welche die Stadt auf ihn ausübt – in den wenigen erhaltenen Archivmaterialien der jüdischen Gemeinde zu seiner Familiengeschichte und der Geschichte der jüdischen Gemeinde allgemein forscht.
Im Laufe des Films zeigt Poloni immer mehr Menschen – sodass man stellenweise durchaus den Überblick über die verschiedenen Protagonisten verlieren kann. Die Gespräche bleiben oftmals fragmentarisch und zwingen einen dadurch zu besonderer Aufmerksamkeit. Diese eher essayistische denn konventionell dokumentarische Herangehensweise kommt ganz ohne Kommentar aus – Poloni überlässt seinen Protagonisten das Wort. Salonica ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie sich ein Dokumentarfilm auf aktuelle und reflektierte Art und Weise mit schwierigen historischen Themen auseinandersetzen kann.
Besonders zu erwähnen bleibt noch die eindrückliche Bildsprache, die Salonica zu einem visuellen Genuss macht. Kameramann Matthias Kälin (Die Tunisreise, Bruno Moll, CH 2007; Hardcore Chambermusic, Peter Liechti, CH 2007) versteht es, die unbekannte Stadt überraschend und umsichtig einzufangen.