Ursula Meiers Home feierte in Cannes in einer Sondervorstellung der Sektion «Un Certain Regard» Premiere. Man hätte dem Film aber noch mehr gewünscht und ihn gerne als Schweizer Beitrag im internationalen Wettbewerb gesehen. Denn Ursula Meiers Debüt muss den Vergleich mit anderen europäischen Arthouse-Filmen keineswegs scheuen und überzeugt nicht nur durch eine fantastische Fotografie und einen hervorragenden Cast, sondern auch durch eine vielseitig lesbare Geschichte. Dabei ist die Story so reduziert, dass sie sich in einem Satz zusammenfassen lässt: An einem ungenutzten Autobahnabschnitt lebt eine kleine Familie abgeschieden in der Idylle, bis sie mit der lärmigen Inbetriebnahme der Strasse in den Wahnsinn der Isolation getrieben wird.
Diese Familie ist zufrieden, aber nicht spiessig. Mit ernsthafter Zärtlichkeit toleriert jeder die Marotten des anderen. Die Familienszenen hat Ursula Meier statt an den Esstisch, wie man das aus unzähligen Filmen kennt, konsequent ins Badezimmer verlegt. Und so werden dann wichtige Gespräche zwischen Waschbecken und Badewanne geführt. Selten hat man dabei Isabelle Huppert so unneurotisch und liebevoll gesehen wie in dieser Rolle als Familienmutter. Doch das wird sich im Laufe des Filmes noch ändern. Eines Tages tauchen nämlich zum technoiden Soundtrack der Genfer Band «The Young Gods» Männer in signalfarbenen Kleidern und schweren Stiefel auf, um Leitplanken zu verlegen. Am Anfang werden in der Familie noch Wetten abgeschlossen, welche Farbe das erste Auto auf der neuen Autobahn haben wird. Doch der Verkehr nimmt schnell zu und wird zum ohrenbetäubenden Monstrum. Der Lärm lässt sich nur zum Preis der Isolation unterdrücken, ob mit Ohropax oder mit den aufwendigen Schallmauern, die der Vater nach und nach vor den Fenstern installiert.
Home ist nicht in erster Linie ein Ökofilm, vielmehr geht es um die Brüchigkeit von Familienstrukturen, um eine Gemeinschaft, die in Frieden lebt und von einem monströsen Aussen eingeholt wird, vor dem sie sich nicht schützen kann. Man kann darin Parallelen zum «Sonderfall Schweiz» erkennen. Ursula Meier hat diese offensichtliche Parabel, die aber vieldeutige Lesarten zulässt, auch als «Roadmovie à l’envers» beschrieben: Statt der Freiheit wartet die Isolation. Eine Reise ins Innere.
Neben dem französischen Star Isabelle Huppert gibt der Dardenne-Schauspieler Olivier Gourmet in diesem «huis clos» den Familienvater. Besonders bemerkenswert sind auch die Kinderdarsteller, allen voran der jüngste, der mittlerweile 10-jährige Kacey Mottet Klein, den Meier in der Schweiz entdeckt hat. Was einen aber vor allem packt, ist dieses Setting, welches die Filmemacher nach langem Suchen in Bulgarien gefunden haben: die klare Linie der Autobahn inmitten der gelben Kornfelder, die vorbeirollende Autokolonne. Agnèse Godard, die französische Kamerafrau, welche schon für Filme wie La vie revée des anges (Erick Zonca, F 1998) oder Beau travail (Claire Denis, F/I/ RUS 1999) verantwortlich zeichnet, hat diese intensiven Farben fantastisch fotografiert. Man möchte fast jedes dieser Filmbilder anhalten und als Blow-up ins Wohnzimmer hängen.
Ursula Meier, die in Frankreich geboren wurde, in der Schweiz aufwuchs und in Belgien studierte, hat schon mit ihrem Fernsehdebüt, dem Coming-of-age-Drama Des épaules solides (CH/F/B 2003) ihr Talent bewiesen. Nun bestätigt sie dieses mit ihrem ersten Kinofilm, einer Koproduktion mit Belgien und Frankreich. Man wünscht diesem Juwel eine lange Kinokarriere.