Animiert erzählt ein Bursche von winzigen Seepferdchen und dem Riesen-Oktopus, dem man zwischen die Augen beissen muss, damit er einen nicht verschlingt. Doch die wilden Erzählungen von Erlebnissen auf hoher See scheinen das ältere Ehepaar, das daneben sitzt, nicht zu beeindrucken. Ihre Tochter, die hinter dem Vorhang versteckt ist, bekommt er gar nie zu Gesicht. Es ist die geheimnisvolle Tulpan, um deren Hand er gerade anhält, und die dieser liebevoll erzählten Tragikomödie aus Kasachstan ihren Namen gibt.
Asa, der Junge auf Brautschau, hat nach Beendigung seines Militärdiensts nur ein Ziel: Er will Schafhirte werden. Doch die Regeln der Steppe sind klar: Ohne Frau keine Schafe. Frauen sind in der Gegend rar – Tulpan ist seine letzte Hoffnung. Als sie ihn wegen seiner abstehenden Ohren nicht haben will, ist er verzweifelt. Es bleibt ihm nämlich nichts anderes übrig, als weiterhin in der Jurte seiner Schwester zu leben. Sein Schwager Ondas ist wenig erfreut über den Dauergast und lässt es ihn auch spüren. Nur widerstrebend zeigt er Asa die Kniffe und Tricks, die ein Schafhirte in der kargen Steppe zum Überleben braucht. Und als immer wieder junge Lämmer verenden, hat er andere Sorgen, als sich um den frustrierten und etwas tollpatschigen Jungen zu kümmern.
Filme wie Urga (Nikita Mikhalkov, SU 1991), Die Geschichte vom weinenden Kamel (Byambasuren Davaa, Luigi Falorni, D 2003) oder Tuya’s Marriage (Wang Quanan, VRC 2006) haben das Bild, das das westliche Kinopublikum vom Leben in innerasiatischen Steppenlandschaften hat, geprägt. Sie alle porträtieren eine Welt zwischen Tradition und Moderne, erzählen von Menschen, die weitab von der Zivilisation in der kargen Einöde in engen Familiengemeinschaften im Gleichklang mit der Natur leben und doch längst die Errungenschaft der Technik in ihren Alltag integriert haben. Wie häufig in diesen Filme sind auch in Tulpan Plot und Dramaturgie der detaillierten Figurenzeichnung und scheinbar unmotiviert entstandenen, kaum inszenierten Szenen untergeordnet. Voller sinnlicher Direktheit zeigen die Bilder den harten Überlebenskampf, den Menschen und Tiere gemeinsam auszutragen haben. Fein beobachtete Alltagszenen und lange Einstellungen vom Leben rund um die Jurte geben dem Film eine dokumentarische Note und lassen einen direkt am Familienleben teilhaben. Da ist etwa der älteste Sohn, der jeden Tag eifrig die Nachrichten am Radio mithört, um dann am Abend seinem Vater haarklein das Neuste aus der Welt zu berichten. Oder der Jüngste, der mit seinem Steckenpferd die Jurte unsicher macht und mit seiner unbekümmerten Präsenz den Film dominiert. Für Lacher sorgt Boni, Asas bester Freund, der sein Glück in der grossen Stadt versuchen will. Mit seinem klapprigen Traktor, den er mit Bildern vollbusiger Pornostarlets geschmückt hat, kurvt er zum ohrenbetäubenden Sound von Boney M.s «The Rivers of Babylon» durch die Steppe und versorgt die Menschen mit dem Nötigsten aus der nahen Stadt.
Tulpan des kasachischen Regisseurs Sergei Dvortsevoy lebt von seinen leicht skurrilen, aber immer liebevoll gezeichneten Figuren, von der quasi-dokumentarischen Erzählweise und einer Kamera, die die Schönheit und Kargheit der Steppe ohne grosse Gesten einfängt. Der Wind, der die Steppe tagtäglich durchtobt, ist dazu Soundtrack genug. Die Koproduktion zwischen Kasachstan, Deutschland und der Schweiz wurde 2008 am Festival in Cannes in der Nebensektion «Un certain regard» uraufgeführt und erhielt dort verdientermassen den Hauptpreis.