DORIS SENN

AUF DER STRECKE (RETO CAFFI)

SELECTION CINEMA

Rolf ist Warenhausdetektiv und sitzt die meiste Zeit vor den Bildschirmen der Überwachungskameras. Die dienen ihm nicht nur zur Observation von Verdächtigen, sondern auch von Sarah – einer hübschen Buchhändlerin. Dank der Kameras schafft er es nach Arbeitsschluss meist auch auf die gleiche S-Bahn wie sie – und bekommt so immerhin hie und da ein Lächeln geschenkt. Bis zu dem Tag, an dem ein Mann sie begleitet – und die Ereignisse sich überstürzen: Die Enttäuschung ist Rolf ins Gesicht geschrieben. Ebenso seine verstohlene Schadenfreude, als die beiden sich streiten und Sarah Hals über Kopf aussteigt. Der Mann wird daraufhin von drei Jugendlichen angepöbelt. Als die handgreiflich werden, suchen die wenigen Fahrgäste im selben Wagen – ein älteres Ehepaar und auch Rolf nach einem kurzen Zögern – an der nächsten Station das Weite. Am nächsten Tag dann die ernüchternde Nachricht: Der Mann war Sarahs Bruder, und er hat die Prügelei nicht überlebt ...

Im Anschluss an diesen dichten Einstieg entwickelt sich der Kurzfilm Auf der Strecke zu einem ebenso atmosphärischen wie komplexen Epos im Miniformat, das von Liebe und Rache, von Mut und Feigheit, von Schuld und Sühne handelt. Das liegt einerseits am nuancierten Spiel des Hauptdarstellers Roeland Wiesnekker: Er beherrscht die Klaviatur der Gefühle vom besonnenen, sanften «Polizisten» bis zum cholerischen Haudrauf. Und unverhofft vermag er sogar sein verquollenes Gesicht mit dem verkniffenen Mund dank einem Lächeln zu sympathischem Erblühen zu bringen. Andererseits schafft es die frische und dynamische Kamera (Piotr Rosolowski), nicht nur sein Mienenspiel prägnant einzufangen, sondern auch stimmungsvolle Augenblicke festzuhalten – etwa in der S-Bahn, die immer wieder als Kulisse für die nächtlichen Heimfahrten dient: die farbigen Lichtkugeln im Dunkel der Nacht, das flüchtige Fokussieren der anderen Mitfahrenden. Skizzenhafte Eindrücke, die wirklichkeitsnah die Realität und ihre Wahrnehmung widerspiegeln.

Das meiste passiert denn auch auf einer nonverbalen Ebene: in den vielen gedankenverlorenen Momenten, in denen die Hauptfigur mit sich und ihrem Knäuel an widersprüchlichen Gefühlen allein ist. Viele Nebenstränge werden, in sich stimmig, wohltuend fragmentarisch belassen – zugunsten eines immer kompakteren Hauptstrangs, der aber seinerseits keiner erzwungenen Auflösung zustrebt, sondern schwebend endet. Nicht nur gibt es kein Happy End für die Liebesgeschichte, es gibt auch kein Happy End für Rolf, der von Schuldgefühlen verzehrt wird – ebenso wenig wie für Sarah, die mit ihren Selbstvorwürfen nicht zurande kommt. Vereint und doch auf immer getrennt. Eine tragisch verunmöglichte Lovestory – und eine kleine Lektion in Sachen Menschlichkeit und Zivilcourage ohne Mahnfinger.

Der 37-jährige Kulturjournalist Reto Caffi hat bisher verschiedene Kurzfilme gedreht. Zurzeit an der Kunsthochschule für Medien in Köln immatrikuliert, hat er mit dem 30-minütigen Auf der Strecke ein Meisterstück abgeliefert, für das er nicht nur den Schweizer Filmpreis als bester Kurzfilm erhielt, sondern auch auf dem internationalen Parkett unzählige renommierte Auszeichnungen einheimsen konnte.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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