SUSIE TRENKA

OBEN IST IMMER SCHON UNTEN — DER ORT- UND ZEITLOSE UNTERGRUND DER GLOBALEN GROSSSTADT

ESSAY

Ein halbdunkler Raum, ein Mann liegt auf dem Boden. An der Decke gehen nacheinander die Neonlichter an, bis der Raum hell erleuchtet ist: eine U-Bahn-Station. Der Mann erwacht, setzt sich auf. Er blutet aus der Nase. Der erste Zug des Tages fährt ein. Der Mann bleibt sitzen, lehnt sich an eine Säule, wirkt erschöpft. Offenbar hat er die Nacht auf dem Bahnsteig verbracht. Doch wie sich schon bald herausstellt, ist er nicht etwa ein Obdachloser, sondern ein U-Bahn-Angestellter. Erst später wird klar, dass Bulcsú – so heisst der Mann – immer unterirdisch schläft. Freiwillig. Das Labyrinth unter der Stadt ist die Heimat des Protagonisten von Kontroll (H 2003), dem preisgekrönten Erstling des ungarisch-amerikanischen Regisseurs Nimród Antal. Bulcsú steht stellvertretend für den zeitgenössischen Stadtmenschen, und sein Lebensraum ist eine Allegorie auf die postmoderne Grossstadt.

Frühe filmische Auseinandersetzungen mit dem Phänomen Grossstadt beschränken sich grösstenteils auf die Erdoberfläche, unterirdische Stadtszenen bilden die Ausnahme. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch, als die filmische Stadt immer weniger als zukunftsgerichteter Motor der Moderne und immer mehr als desolater Ort der Perspektivlosigkeit erscheint, gewinnen unterirdische Stadträume wie U-Bahn-Netze und Abwasserkanäle stark an Beliebtheit als Filmschauplätze. Der urbane Untergrund bietet nun eine willkommene Metapher für die dunklen Seiten des Stadtlebens einer desillusionierten Nachkriegsgeneration. Im amerikanischen Film Noir und seinen europäischen Varianten dient er Kriminellen als Unterschlupf oder als Fluchtweg im Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei – prototypisch in der legendären Verfolgungsjagd durch das Wiener Kanalisationssystem am Schluss von Carol Reeds The Third Man (GB 1949). Auch in Samuel Fullers Pickup on South Street (USA 1953) wird der entscheidende Kampf gegen den Bösewicht im Untergrund ausgetragen, und in Jean-Pierre Melvilles Neo-Noir Le Samouraï (F 1967) dient das Pariser Metro-Netz dem Auftragsmörder als Zufluchtsort. Ausser im Kriminalfilm sind unterirdische Filmstädte vor allem in den fantastischen Genres beliebt. Wie im Krimi lauert auch im Horror- und Monsterfilm das Böse oft in der Tiefe, und in der Science Fiction – von Metropolis (Fritz Lang, D 1927) über THX 1138 (George Lucas, USA 1971) bis Dark City (Alex Proyas, AUS/ USA 1998) – wird die Unterwelt meist mit irgendeiner Form von Gefangenschaft in Verbindung gebracht, wobei das fehlende Tageslicht stets auch für geistige Dunkelheit steht.

Ob die unterirdischen Stadtsettings nun realistisch oder fantastisch daherkommen – fast immer stehen sie im Dienste einer Dystopie, mit mal mehr, mal weniger sozialkritischem Anspruch.1 Dies gilt auch für Kontroll. Antals Film ist quasi der absolute Untergrund-Stadtfilm, denn im Gegensatz zu den unzähligen nur teilweise unterirdisch angesiedelten Filmen wurde hier ausschliesslich in der Budapester U-Bahn gedreht. Sie ist das zentrale Element, von dem Ästhetik, Handlung und Interpretation des ganzen Films abhängen. Die an sich banale Funktion der U-Bahn als innerstädtisches Verkehrsmittel und der trostlose Arbeitsalltag einer Gruppe von Fahrkarten-Kontrolleuren, der das Handlungsgerüst bildet, versprechen wenig Spektakuläres. Doch in einer gelungenen Verbindung aus surreal-fantastischem und dokumentarisch-realistischem Stil wird aus dem alltäglichen Handlungsort eine allegorische Unterwelt, ein Schattenreich, das den Bezug zur Oberwelt dennoch nie verliert.

Dabei erinnert der Schauplatz bezüglich der Assoziationen, die er hervorruft, stark an die Stadt-Dystopien des Film Noir, auch wenn die Handlung von Kontroll vordergründig wenig mit den Detektivgeschichten vom Schlage eines Raymond Chandler oder Dashiell Hammett gemeinsam hat. Klassische Noir-Motive wie Gewalt, Desorientierung und Entfremdung, Identitäts- und Kontrollverlust kommen hier in einem Mix aus schwarzer Komödie, sozialkritischer Milieustudie und Mystery-Thriller daher, wobei Regisseur Antal das symbolische Potenzial des Untergrunds gleich mehrfach nutzt: Der unterirdische Schauplatz dient gleichzeitig als individuell-psychologische und kollektiv-soziale Metapher sowie als ort- und zeitloser, universell-urbaner Erfahrungsraum. Da ihm gerade das fehlt, was einer Stadt ihr unverwechselbares Gesicht verleiht – die Welt an der Erdoberfläche –, könnte die Handlung auch in einer beliebigen anderen zeitgenössischen Grossstadt angesiedelt sein. So reflektiert die universelle Unterstadt auch die veränderte Wahrnehmung der (filmischen) Grossstadt in einem zunehmend globalen Kontext.

Der mysteriöse, stets nur in Bruchstücken sichtbare Untergrund versinnbildlicht das Innenleben der Hauptfigur Bulcsú (Sándor Csányi). Der Leiter der fünfköpfigen Gruppe von Kontrolleuren kennt sich in den unterirdischen Gängen einerseits bestens aus, andererseits lauern dort auch Überraschungen und Gefahren, auf die er oft nicht vorbereitet ist. Diese Ambivalenz von Kontrolle und Machtlosigkeit in Bezug auf die vermeintlich vertraute äussere Umgebung entspricht dem inneren Konflikt des Protagonisten. Mit seinen dunkel-geheimnisvollen Passagen dient das U-Bahn-Labyrinth der physischen Darstellung von Bulcsús Psyche, zu der er selbst nur bedingt Zugang hat und die seiner Kontrolle zunehmend entgleitet. So kann der unbekannte, im schwarzen Kapuzenumhang eingehüllte Mörder, der Passagiere vor fahrende Züge stösst, als unterdrückte Schattenseite des – ansonsten sympathischen – Protagonisten aufgefasst werden.

Die Traumsequenz zeigt am deutlichsten, dass die U-Bahn-Tunnels den Bereich des Unbewussten symbolisieren: Eine junge Frau im Bärenkostüm, in die sich Bulcsú verlieben wird, weckt ihn mit einem vielversprechenden Lächeln und fordert ihn freundlich auf, ihr zu folgen. Doch als die Tunnels immer enger werden, lässt sie ihn allein mit der Fackel durch das unterirdische Schattenreich weiterkriechen. Platzmangel und Atemnot erschweren sein Vorwärtskommen und die Musik steigert die Spannung zusätzlich. Doch der Schockeffekt beim Anblick des vermummten Killers fällt trotz der genrekonformen Inszenierung moderat aus und das plötzliche Erwachen aus dem Traum beim Anblick des Mörders deutet an, dass Bulcsú noch nicht für die Konfrontation mit seinem anderen Ich bereit ist. Erst als sich in seiner Beziehung zur Frau eine positive Entwicklung abzeichnet, kann er dem Bösen in seinem Innern gegenübertreten und dieses schliesslich besiegen. Selbsterkenntnis und der folgende Kampf mit sich selbst sind also in der Hoffnung auf Liebe motiviert, deren Erfüllung wiederum an den Ausgang dieses Kampfes gebunden ist. Nur wenn Bulcsú sich seine gewalttätigen Triebe eingesteht, kann er sie kontrollieren und aus der Dunkelheit ans Licht entfliehen.

Was jedoch weiterhin im Dunkeln bleibt – wie das bis zuletzt verhüllte Gesicht des Kapuzenträgers – ist das wahre Motiv für die Morde. Der Film liefert keine explizite Erklärung für die scheinbar gespaltene Persönlichkeit seines Protagonisten. Doch die Begründung ist im Schauplatz impliziert, denn dieser verkörpert Bulcsús Entfremdung von sich selbst wie auch von seinem sozialen Umfeld. Der physische Untergrund versinnbildlicht nicht nur seine Geistesverfassung, sondern bedingt sie auch. Einer seiner Mitarbeiter bringt dies auf den Punkt, als er ihm vorwirft: «Du weisst selbst nicht mehr, wer du bist.» Diese Selbstentfremdung geht mit buchstäblicher Heimatlosigkeit einher, denn die Bemerkung des Kollegen folgt auf dessen Entdeckung, dass Bulcsú seinen Arbeitsort auch zu seinem Wohnquartier gemacht hat. Zur Oberwelt hat er nur noch indirekt, durch den Austausch mit den übrigen Figuren Kontakt. Er selbst hält sich permanent im Untergrund auf, wobei die unterirdische Existenz zumindest teilweise selbst gewählt scheint: Nicht einmal mehr für eine Kaffeepause mit seiner Geliebten ist er ans Tageslicht zu locken. Und als er zufällig einem früheren Arbeitskollegen begegnet – in der einzigen Szene, die Hinweise auf Bulcsús Vergangenheit enthält – lässt er anklingen, dass er sich aus freiem Entscheid aus der Oberwelt zurückgezogen hat. Auf die Frage des Bekannten, weshalb er sein Projekt nicht beendet habe, antwortet Bulcsú: «Man steht jahrelang mit dem Wissen auf, dass man an jedem Tag jede Schlacht gewinnen muss. Immer muss man beweisen, dass man der Beste ist. Ich habe Angst bekommen, was ist, wenn ich nicht mehr der Beste bin. Ich wollte mich nicht mehr fürchten.»

Zwar bleibt unklar, welcher Arbeit Bulcsú früher nachgegangen ist, doch seine Erklärung ist eine unmissverständliche Kritik an der wettbewerbsorientierten Leistungsgesellschaft. Indem er sich den Mechanismen dieses Systems bewusst zu entziehen versucht, grenzt sich Bulcsú von seinen Mitarbeitern ab, die eher unfreiwillig im Untergrund gelandet sind: Der meist betrunkene Zugführer Béla wurde hierher versetzt, nachdem er als Lokführer bei der regulären Eisenbahn einen Unfall verschuldet hatte; für den naiven Neuling Tibor ist es die erste Anstellung überhaupt, und selbst für diese Arbeit scheint er noch zu dumm zu sein; Narkoleptiker Muki, der jedes Mal, wenn er sich aufregt, kurzerhand das Bewusstsein verliert, wäre wohl auch in keinem anderen Job zu gebrauchen; der «Professor» ist schon seit Jahren dort und scheint gar nichts anderes zu kennen. Als Verlierer im gnadenlosen Konkurrenzkampf der kapitalistischen Gesellschaft, die keinen Platz für die Schwächen des Einzelnen bietet, vertreten die exzentrischen U-Bahn-Angestellten die unterste Schicht der Arbeiterklasse und ihr Arbeitsplatz steht für die Endstation des sozialen Abstiegs.

Der Untergrund bildet somit weniger eine Gegenwelt zur Stadt an der Erdoberfläche, als vielmehr die letzte Stufe eines Kontinuums und versinnbildlicht so zugleich den Zustand der Gesellschaft als Ganzes. Denn die Figuren, denen die U-Bahn nur zur Durchreise dient, sind oft genau so asozial, unfreundlich oder aggressiv wie die U-Bahn-Angestellten und suggerieren mit ihrem Verhalten, dass das Leben oben wie unten von Respektlosigkeit, Gewalt, Einsamkeit und der Unfähigkeit zu zwischenmenschlicher Kommunikation bestimmt ist. Das aggressive Chaos im Untergrund relativiert dessen Status als Zufluchtsort, den Bulcsú sich durch seinen Rückzug aus der Oberwelt scheinbar erhofft hat.

Anders als in Luc Bessons Subway, wo die Pariser Unterwelt der Obdachlosen und Kleinkriminellen einen tendenziell positiven Gegenpol zur bürgerlichen Wohlstandsgesellschaft bildet, handelt es sich in Kontroll nur um eine vermeintliche Alternative. Während der Aussteiger-Held in Subway schliesslich vom Gesetz der Oberwelt eingeholt wird, muss der Protagonist in Kontroll feststellen, dass sich die beiden Welten gar nicht wesentlich voneinander unterscheiden. Die Untergrundhölle ist integraler Bestandteil des Grossstadtlebens und repräsentiert die Orientierungslosigkeit und Überforderung der Bevölkerung im heutigen Osteuropa, die Negativbilanz der mit der Wende in Verbindung gebrachten Versprechen von Wohlstand und Freiheit. So bezieht sich die Sozialkritik von Kontroll vor allem auf den allumfassenden Charakter des kritisierten Systems: Dieses ermöglicht zwar den Auf- oder Abstieg innerhalb seiner Strukturen, nicht aber den Ausstieg.

Entsprechend schwierig erweist sich Bulcsús Suche nach einem Ausweg. So führen seine nächtlichen Streifzüge jedes Mal in eine Sackgasse: Einmal sehen wir ihn durch einen Tunnel gehen, an dessen Ende sich zwei riesige Ventilatoren drehen. In der nächsten Einstellung sitzt er Zigarette rauchend auf einem dieser Ventilatoren, dessen Kreisbewegung seinen eigenen, stets wiederkehrenden Alltag spiegelt. In einer anderen Szene geht er frontal auf die Kamera zu, bis man ihn in Grossaufnahme nach oben blicken und den Kopf schütteln sieht. Die folgende Totale zeigt ihn von hinten vor einer dunklen, hohen Mauer: Zwei waagrecht montierte Neonröhren an der Wand beleuchten deren unteren Teil, die obere Begrenzung des Raums ist in der Dunkelheit hingegen nicht sichtbar. Die Mauer ist unüberwindbares Hindernis, die Freiheit in unerreichbarer Ferne.

Selbst in der Schlusseinstellung, in der das Liebespaar Bulcsú und Szofi auf der Rolltreppe nach oben entschwindet, wird der Ausweg nur angedeutet. Zwar implizieren die Rolltreppen mit ihrer Bewegung eine fliessende Grenze zwischen oben und unten. Doch die Oberwelt wird in dieser einzigen Szene, in der die Figuren wirklich nach oben gehen, aus dem Blickfeld ausgeklammert: Die Kamera bleibt unten und fährt zuletzt sogar wieder ein wenig zurück. Die Unterwelt bleibt also Endstation. Gleichzeitig ist sie auch Ausgangspunkt, die Schwelle dorthin immer bereits überschritten. Wie der Schluss zeigt auch die allererste Einstellung des Films Rolltreppen, wobei zunächst unklar ist, ob diese nach oben oder unten führen. Erst mit der folgenden Änderung des Blickwinkels wird deutlich, dass die Kamera oberhalb der Treppe positioniert ist, von wo sie einer betrunkenen Frau in den Untergrund hinab folgt. Der Ausgangspunkt dieses langen Abstiegs ist seinerseits bereits ein unterirdischer Ort und auch im Rest des Films ist oben immer schon unten, denn obwohl sich die Figuren immer schon im Untergrund befinden, benutzen sie die Treppen fast ausschliesslich für den weiteren Abstieg.

Kontroll macht die unterirdische Stadt also vor allem in ihren Beschränkungen spürbar – ganz im Gegensatz zu den frühen Stadtfilmen, in denen die grenzenlosen Möglichkeiten der modernen Metropole mit denen der Filmtechnologie verschmolzen und in der Erschliessung der Stadt durch das Transportmittel Kamera ihre Synthese fanden. Zelebrierten besonders die Stadtsymphonien der 1920er-Jahre – die bekanntesten Beispiele sind Walter Ruttmanns Berlin: Die Sinfonie der Grossstadt (D 1927) und Dsiga Wertows Tschelowek s kinoapparatom (Der Mann mit der Kamera, SU 1929) – den Verkehr an der Erdoberfläche als Ausdruck des Fortschritts und der euphorischen Geschäftigkeit, macht in Kontroll die Verlagerung des Verkehrs in den Untergrund jegliche Aussicht auf technisches, wirtschaftliches oder gesellschaftliches Weiterkommen zunichte. Anstelle des Gefühls von Freiheit erzeugen die oft niedrigen Räume und langen finsteren Tunnels einen klaustrophobischen Effekt, und auch die einst als befreiend empfundene Geschwindigkeit neuer Fahrzeuge ist in der mittlerweile alten Budapester U-Bahn vorwiegend negativ konnotiert, als tödliche Gefahr und sinnentleerte Herausforderung.

So wie Fortbewegung nur innerhalb des geschlossenen Systems möglich ist, sind auch die Geschichten der Figuren eher von Stagnation als von Entwicklung geprägt. Wie Bulcsús planlose Wanderungen sind auch die Verfolgungsjagden, Wettläufe und Schlägereien zwischen Kontrolleuren und Fahrgästen letztlich sinn- und ziellos. Die Jagd auf Schwarzfahrer bleibt weitgehend erfolglos und das «Schienenrennen» zwischen den rivalisierenden Kontrolleuren ist eine absurde Mutprobe. Einziges Ziel solch täglich wiederkehrender Kämpfe ist, sie zu überstehen, um am nächsten Tag wieder von vorne zu beginnen. Auch wenn Bulcsú im Rahmen dieses Untergrundalltags seine Geliebte findet und sich von dieser schliesslich nach oben locken lässt, ist dies ein trügerisches Happy End, das mehr einen mystisch überhöhten Aufstieg in den Himmel als eine realistische Rückkehr an die Erdoberfläche meint. Die märchenhafte Szene suggeriert, dass Bulcsú – nach dem Kampf mit dem Killer – nur noch als Toter seinem erlösenden Engel ans Licht folgen kann.

Die allgemeine Ausweglosigkeit und Stagnation lässt sich auch aus dem Fehlen jeglicher Orientierungshilfen ableiten. Als Heimat des Protagonisten ist der Untergrund Ausdruck von Heimatlosigkeit nicht nur im physischen, sondern auch im kulturellen Sinn, denn die U-Bahn ist in Kontroll als ahistorischer und damit weitgehend identitätsloser Ort inszeniert. Sie ist ein Beispiel jenes Raums voller Nicht-Orte, wie sie laut dem französischen Anthropologen Marc Augé die Postmoderne zunehmend kennzeichnen. Anstelle des Ortes, der eine gewisse Stabilität impliziert und mit fixen historischen Bedeutungen assoziiert wird, enthält der postmoderne Raum immer mehr bedeutungslose Nichtorte wie etwa Tankstellen, Supermärkte, Hotels, Freizeitparks, Konferenzzentren oder Flughäfen, die lediglich für die Durchreise, aber nicht zum Verweilen konzipiert sind.2 Doch im Widerspruch zu ihrer eigentlichen Funktion als blosse Durchgangsstation bestimmt die U-Bahn in Kontroll sogar das Privatleben der Figuren: Selbst gefrühstückt wird nicht mehr zuhause, sondern in der unterirdischen Kantine, wo Fast Food die einheimische Küche verdrängt hat, und ihre persönlichen Anliegen diskutieren die Angestellten nicht im Kreis von Freunden und Familie, sondern mit dem Betriebspsychologen – natürlich unterirdisch.

Die Entfremdung des Individuums von seiner sozialen Umgebung findet sowohl ihren Ausdruck als auch ihre Ursache in der vollständigen Abwesenheit eines identifizierbaren Ortes. Abgesehen davon, dass ungarisch gesprochen wird, lässt hier nämlich nichts auf die spezifische Identität der Stadt Budapest schliessen. Der Arbeits- und Lebensraum der Unterstadt reflektiert zwar die Verhältnisse der Oberstadt, deren Absenz ist aber so vollständig, dass selbst die Ortsbezeichnungen der einzelnen U-Bahn-Stationen fehlen. Mit dieser Loslösung des Raums vom spezifischen Ort verschwindet auch seine Geschichte. Nichts weist hier auf vergangene Epochen oder Ereignisse hin, und niemand wird die Erlebnisse der Kontrolleure und Fahrgäste für die Nachwelt festhalten. Im Untergrund zählt nur der jeweils aktuelle Tag, und diese Gegenwartsbezogenheit der Erzählung findet ihre Entsprechung im ort- und zeitlosen Erfahrungsraum des U-Bahn-Systems. Der spezifische historische Ort, der die Stadterfahrung der Moderne kennzeichnete, ist dem universell-ahistorischen Untergrund gewichen.

Die Geschichtslosigkeit ist symptomatisch für die Verschiebung vom zeitlich-historischen zum räumlichen Aspekt, für den in der Diskussion über Postmoderne und Globalisierung geprägten Begriff des spatial turn, der auch die sich verändernde (filmische) Stadt respektive deren Wahrnehmung reflektiert. Im universellen Stadtraum von Kontroll fehlen nicht nur die Oberstadt, sondern auch ungarische Orte ausserhalb von Budapest und Hinweise auf eine Verbindung zwischen Stadt und Land. Der Untergrund verweist mehr auf andere Grossstädte als auf lokale oder nationale Besonderheiten und verbindet die Stadt dadurch mit zahlreichen anderen Metropolen der Gegenwart. Ein Ausserhalb gibt es nicht mehr, nur die Städte selbst und Verbindungen zwischen ihnen strukturieren das neue globale System, in dem ein Netzwerk ohne Zentrum an die Stelle der alten Opposition Zentrum–Peripherie getreten ist. So ist der Schauplatz von Kontroll nicht nur stellvertretend für die Verhältnisse in vielen Grossstädten. Zusätzlich korrespondiert der horizontal ausgedehnte Raum der Nichtorte auch mit der Struktur des dezentralisierten globalen Geflechts aus solchen Städten. Das U-Bahn-Labyrinth fungiert also gleichzeitig als Bestandteil des weltweiten Netzwerks und als Analogie dazu.

Die Dezentralisierung macht es auch schwieriger, die Macht- und Kontrollzentren dieses Netzwerks zu identifizieren und zu lokalisieren, sodass der geografische Raum die gesellschaftlichen Machtstrukturen reflektiert. Zum Vergleich: Bereits in Fritz Langs Metropolis spiegelt die architektonische Stadtstruktur die sozialen Verhältnisse, und auch hier wird die im Kapitalismus ausgebeutete Arbeiterklasse in der Unterstadt so gut wie gefangen gehalten. Allerdings ist die Kontrolle über die unterdrückten Arbeiter in der Figur von Unternehmer Fredersen an eine klar identifizierbare Instanz gebunden, wobei diese personifizierte Macht auch in der räumlichen Anordnung ihre Entsprechung hat: Fredersens «Turm zu Babel» ist sowohl höchstes Gebäude als auch Mittelpunkt der Stadt und wird so eindeutig als Machtzentrum ausgewiesen.

In Kontroll hingegen ist die obere Stufe in der vertikalen Hierarchie abwesend und die Kontrolle über den Untergrund entpersonalisiert. Statt von Menschen wird das U-Bahn-System von Videokameras überwacht. Am Anfang des Films blickt Bulcsú zu einer Kamera hinauf, die ihn scheinbar verfolgt, und fragt gereizt: «Was schaust du?» Die kurze Szene illustriert das Gefühl ständiger Überwachung bei gleichzeitiger Unfassbarkeit der dahinter steckenden Aufsichtsinstanz. Auch die Vorgesetzten der Kontrolleure sind nur ausführende Kräfte, die ihrerseits von einer abwesenden höheren Stelle überwacht werden. Selbst Teile des unüberblickbaren Netzwerks, müssen sie sich in ihrem Büro auf die Videoaufzeichnungen verlassen. Genau in deren Lückenhaftigkeit liegt jedoch die Problematik des ganzen Systems: Nach dem letzten Todesfall in der U-Bahn kann Bulcsú trotz Videoüberwachung nicht als Schuldiger überführt werden, da der entscheidende Moment in der Aufnahme fehlt. Die eigentliche Tat geschieht ausserhalb des Kamerablickwinkels. Das Überwachungssystem suggeriert eine totale Kontrolle, die es in Wirklichkeit nicht bieten kann.

Die Unfassbarkeit des Systems birgt also zugleich eine Gefahr für dieses System, denn sie enthält auch die Möglichkeit zu Widerstand und Chaos. So wird das nie in seiner Gesamtheit begreifbare U-Bahn-Netz zur Allegorie auf das Weltwirtschaftssystem, das ebenfalls durch unbekannte Machtinstanzen gesteuert wird, sich aufgrund seiner Komplexität aber der vollständigen Kontrolle durch diese Machthaber entzieht. So wenig Bulcsú und sein Team fähig sind, die von ihnen verlangte Kontrollfunktion auszuüben, so wenig können ihre Vorgesetzten das Treiben in den Tunnels überwachen. Zwar können sie ihren Untergebenen auf dem U-Bahn-Plan ihre Arbeitsorte zuteilen, doch der nur mit abstrakten Codes beschriftete Plan schafft bloss eine Illusion von Ordnung, sagt letztlich aber nichts über die Realität des dargestellten Systems aus (anders als zum Beispiel der Plan der Pariser Metro in Le Samouraï, anhand dessen die Polizei den flüchtigen Mörder auch mit Bezug auf die Erdoberfläche lokalisieren kann). Dieser Kontrast zwischen der abstrakt-übersichtlichen grafischen Darstellung im Chefbüro und den tatsächlichen Verhältnissen im Untergrund führt jene «unmappability of the world ‹out there›» vor Augen, die schon den grossstädtischen Dschungel des Film Noir der 1940er- und 50er- Jahre charakterisiert.3

Die ewige Nacht im surreal-verfremdeten öffentlichen Raum des Untergrunds ist quasi die postmoderne Radikalisierung der spätmodernen Stadtlandschaften des Film Noir, der ebenfalls nächtlich-düstere und anonym-öffentliche Schauplätze bevorzugt. Die für den Film Noir so typischen unpersönlichen Lokalitäten wie Strassen, Bars, Hotels oder Taxis illustrieren ebenfalls die Heimat- und Orientierungslosigkeit der Protagonisten im korrupten Stadtdschungel, sind aber noch im historisch und geografisch klar definierten Raum spezifischer Städte verankert. Orte und Nichtorte existieren also noch parallel zueinander und die amerikanische Noir-Stadt der Spätmoderne bildet die Zwischenstation in der Transformation vom historischen zum ahistorischen öffentlichen Raum, wie ihn Kontroll zeigt.

Zwar ist auch das Budapester U-Bahn-Netz als Originalschauplatz untrennbar mit einer konkreten Lokalität verbunden, die noch aus einer Zeit stammt, in der das Paris des Ostens den Metropolen Westeuropas in nichts nachstand (immerhin entstand in Budapest 1896 die erste U-Bahn-Linie des europäischen Festlands). Doch die ungarische Hauptstadt kann nicht an ihre Vorkriegsgeschichte als Teil einer westlich-europäischen Moderne anknüpfen, da die Geschichte Europas in der zunehmend globalisierten Postmoderne ihre Identität stiftende Bedeutung selbst zu verlieren droht. Die moderne Nostalgie nach einer besseren Vergangenheit ist der unspezifischen Verlusterfahrung der Postmoderne gewichen, die sich hier in der Finsternis des ort- und zeitlosen Untergrunds der globalen Grossstadt manifestiert.

Eine Ausnahme ist hier Luc Bessons Subway (F 1985), wo die Pariser Metro dem Aussteiger, Dieb und Erpresser Fred (Christopher Lambert) eher als subkultureller Spielplatz dient.

Vgl. Peter Wollen, Paris Hollywood: Writings on Film, London/New York 2000, S. 200.

Frank Krutnik, «Something More Than Night: Tales of the Noir City», in: David B. Clarke (Hg.), The Cinematic City, London/ New York 1997, S. 91.

Susie Trenka
*1975, ist Doktorandin und Dozentin am Semi­nar für Filmwissenschaft der Universität Zü­rich.
(Stand: 2014)
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