BENEDIKT EPPENBERGER

THE WIRE: PORTRÄT EINER «GESCHEITERTEN STADT»

ESSAY

«Man kann Statistiken drucken und die Bevölkerung nach Hunderttausenden zählen, aber für jeden Menschen besteht eine Stadt aus nicht mehr als ein paar Strassen, ein paar Häusern, ein paar Menschen. Wenn dieses Wenige entfernt wird, existiert eine Stadt nur noch als ein Schmerz in der Erinnerung wie der Phantomschmerz in einem amputierten Bein.»

Graham Greene, Unser Mann in Havanna

Was mit Stadtbewohnern geschieht, wenn sie – wie in den letzten Jahrzehnten geschehen – Opfer des entfesselten freien Markts werden, ist dem Kino kaum (mehr) ein Bild wert. Erzählt wird diese Geschichte stattdessen im Fernsehen, am eindrücklichsten wohl in jüngster Zeit in der HBO-Serie The Wire.

Land of the Dead

Auf der grossen Leinwand dominiert wahlweise der Topos vom dunklen Moloch oder von der strahlenden Metropole. Zuerst in der Literatur der Moderne, später im Kino liess dieses Spannungsverhältnis immer schon die Funken sprühen und der Kintopp übersetzte den Sog in romantische Bilder. Die Mythen der modernen Grossstadt sind auch die Mythen des Kinos. Filme wie Escape from New York (John Carpenter, USA 1981) und Blade Runner (Ridley Scott, USA 1982), L’ami de mon amie (Eric Rohmer, F 1987) oder Himmel über Berlin (Wim Wenders, D 1987), Candyman (Bernard Rose, USA 1992) oder Wong Kar Wais Chungking Express (HK 1994) gaben der Suche eines jeden nach dem aufregenden Stadtleben Richtung und Bestimmung. Der Traum hielt an, auch nachdem die Stadt erreicht war und man das Gefühl hatte, selbst ein Teil ihrer geworden zu sein. Man registrierte zwar, wie sich das Gesicht der Metropole, einhergehend mit dem rigiden Abbau des Sozialstaates und der Verschärfung des Wettbewerbs, veränderte. Gleichwohl hielt sich der Zauber, indem die veränderte Stadtlandschaft mit den daraus entstandenen Spekulationsruinen, Industriebrachen und Drogenumschlagplätzen zur romantischen Projektionsfläche wurde. Ein banales Lebensumfeld verwandelte sich zum Série-Noire- Sündenbabel. Man gestand sich nur ungern ein, dass die Stadt zum Warenhaus, das bloss noch der besseren Beförderung des Konsums dient, beziehungsweise zum steingewordenen Monument einer gelungenen Selbstverwirklichung geworden war.

Das Treiben jener einstmals gesellschaftsrelevanten sozialen Gruppen, die die Innenstädte ursprünglich bewohnt hatten, wurde – im Kino wie in der Wirklichkeit – immer mehr an den Rand gedrängt. Erwachte die Kulisse im Kino früher zu pulsierendem Leben, so hat sich das Verhältnis heute umgekehrt. Der perfekt designte filmische Stadtraum verwandelt sich zur Staffage, die auf das Publikum ähnlich trostlos wirkt wie der 3D-Google-Earth-Blick auf die Pariser Innenstadt. Seit den Neunzigerjahren fasst Regisseur Michael Mann die sich abzeichnende «Antiquiertheit des Menschen» (Günther Anders) in Filmen wie Heat (USA 1995), Collateral (USA 2004) oder Miami Vice (USA 2006) in Bilder von erhabener Hoffnungslosigkeit. Fast scheint es, als entledigten sich (zumindest im Kino) die Metropolen schleichend der Menschen. Wie das geht, zeigen Zombieschocker wie 28 Weeks Later ... (Danny Boyle, GB 2002), Land of the Dead (George A. Romero, CDN/F/USA 2005) oder zuletzt I Am Legend (Francis Lawrence, USA 2007) mit Will Smith als letztem Menschen in perfekt leerer Stadtlandschaft.

Stadt auf Augenhöhe

Während wir im grossen Hollywood-Blockbuster den Prozess der Dehumanisierung also quasi vom Logenplatz aus beobachten – was durchaus seine Reize hat –, erleben wir denselben Vorgang in der gut 60 Stunden dauernden US-TV-Serie The Wire aus Sicht der Bewohner. Keine Selbstverständlichkeit in einem Unterhaltungssystem, das sich zur Aufgabe gemacht hat, vor allem Gewinner zu zeigen sowie die wenig menschenfreundliche Natur des Kapitalismus in Zuckerwatte zu packen und als alternativlosen Glücksfall für die Menschheit darzustellen.

Ermöglicht hat The Wire der US-Bezahlsender HBO (Home Box Office), der den Komplex «Stadtentwicklung» als Stoff für epische TV-Serien in den letzten Jahren für sich entdeckt hat. Auf sein Konto gingen sowohl das Kult-Vehikel Sex and the City wie auch die gefeierte Mobster-Saga The Sopranos. Aber auch die realistische Westernserie Deadwood – die gewalttätige Entwicklungsgeschichte einer Goldgräbersiedlung in den Black Hills Mitte des vorletzten Jahrhunderts – und Rome, die bis dato teuerste TV-Serie, in der die antike Metropole am Tiber quer durch alle Bevölkerungsgruppen als zivilisationshistorischer Saustall epischen Ausmasses geschildert wird, haben HBO zu weltweitem Renommee sowohl bei Kritik als auch beim breiten Publikum verholfen. Werden in den beiden letztgenannten Fällen die vorhandenen marktkritischen Spitzen wie auch das pessimistische Menschenbild dadurch gemildert, dass sie durch die Situierung in der Vergangenheit leicht relativiert werden können, ist The Wire kompromisslos der Gegenwart verpflichtet. Keine Ausflüchte, nirgends.

Die beiden kreativen Köpfe hinter der Serie, David Simon und Ed Burns, haben wiederholt darauf hingewiesen, dass sie The Wire zwar ganz bewusst in der US-Ostküstenstadt Baltimore angesiedelt haben, was vor allem in ihrer Biografie begründet liegt: David Simon schrieb als Lokalreporter lange für die Baltimore Sun; Ed Burns arbeitete zur selben Zeit vor Ort als Polizist (und Lehrer). Sie betonen aber auch, dass die Schilderung von Baltimores Niedergang stellvertretend für viele Industriestädte der USA steht. Für die beiden ist klar: Die zeitgenössische Gesellschaft ist dabei, jeden Respekt vor dem arbeitenden Individuum zu verlieren. «Menschen und ihre Arbeit», so Simon im Gespräch mit der Zeitschrift The New Yorker, «gelten von Stunde zu Stunde weniger. Die Entwertung der menschlichen Arbeit ist ein Prozess, der stattfindet, während wir hier reden. Wir leben im postindustriellen Zeitalter, und wir benötigen, um die Räder am Laufen zu halten, längst nicht mehr die Massen, die wir früher brauchten. Während wir in der ersten Staffel von The Wire Drogenhandel und Polizisten thematisierten, die zwar wissen, wie sie ihren Job zu machen haben, deren Erfahrung und Kenntnisse gleichwohl von keinem mehr geschätzt werden, ging es in der zweiten Staffel um die «Entsorgung» überflüssig gewordener Hafenarbeiter und ihrer Gewerkschaft. In der dritten Staffel zeigten wir Idealisten, die mit ihrem Anspruch zu Fall gebracht werden, etwas in der Stadt ändern zu wollen. Die Vierte porträtierte Kids in einem Schulsystem, das sie kolossal schlecht auf ein ökonomisches System vorbereitet, das eigentlich gar keine Verwendung für sie hat. Die Fünfte ist der Presse gewidmet, jenen Leuten also, die die Entwicklung mit ihren Artikeln begleiten und eigentlich unentwegt Alarm schlagen müssten, es aber, weil ihre Profession selbst unter Rationalisierungsdruck steht, nicht mehr tun.»

Bodymore, Murdaland

Die für die aktuellen Metropolenfilme (oder -TV-Serien) scheinbar unentbehrlichen Flugaufnahmen über Stadtschluchten gibt es in The Wire nicht. Es werden aber auch keine der sonst üblichen Mittel zur Betonung von Realismus eingesetzt: keine pseudodokumentarische Wackelkamera und null hektische Schnittfolgen. Es dominiert im Gegenteil ein von der Kamerafrau Ute Briesewitz in den ersten drei Staffeln festgelegter ruhiger, unaufdringlicher Stil. Wie zufällig ins Geschehen hineingeraten, arbeitet sich die Kamera langsam von den Randfiguren her zu den Protagonisten vor. Auf diesem Weg fängt sie mit Vorliebe auch und vor allem Nebensächlichkeiten ein. Die Handlungsorte und die darin agierenden Figuren – aufgenommen wurde mit vielen Laiendarstellern fast ausschliesslich an Originalschauplätzen in Baltimore – geben ihren Charakter dem Zuschauer nur bruchstückhaft preis. Über die ganzen 60 Stunden der Serie hinweg ergänzen sich diese Fragmente des Gewöhnlichen und Zufälligen schliesslich zu einem komplexen und umfassenden Sittenbild. So entsteht vor dem inneren Auge des geduldigen Publikums eine Metropole jenseits des trendigen Sehenswürdigkeiten-Hoppings, ein auf menschliche Masse reduziertes Stadtbild, das unserer alltäglichen Wahrnehmung entspricht.

Eines dieser Details am Rande ist beispielsweise das Graffiti «Bodymore, Murdaland», wie es in der ersten Staffel im Hintergrund einmal zu lesen ist. Eine Beiläufigkeit, aber sie bringt die illusionslose Stimmung der ganzen Serie auf den Punkt. Gemeint ist jenes Baltimore, Maryland, das in den US-Mordstatistiken Jahr für Jahr einen Spitzenplatz einnimmt. Die beiden sachverständigen Macher bezeichnen die traditionsreiche Industrie- und Hafenstadt unter anderem deshalb als «gescheiterte Stadt», analog zu den im entwicklungspolitischen Jargon sogenannten «failed countries». Gescheitert deshalb, weil es im innerstädtischen Getto zum Drogendeal kaum Alternativen mehr gibt und die mörderische Drogenökonomie – in der ebenfalls die völlig enthemmten Gesetze des Kapitalismus/Marktes herrschen – längst alle Bereiche der Stadt in ihren Bann gezogen hat. Der illegale Warenverkehr bestimmt das Leben eines fast jeden Bewohners in den vergammelten innenstädtischen Sozialsiedlungen, von Kindsbeinen an bis zu einem oft sehr frühen gewaltsamen Tod. Hier haben der Staat und seine Institutionen längst abgedankt. Modernes Marktdenken, archaische Clanstrukturen sowie eine «The winner takes it all»-Ideologie bestimmen die Handlungsweise der Dealer.

Cops spielen in The Wire eine zentrale Rolle. Die Macher haben ihnen die Rolle jener zugedacht, die mit ihren Abhöraktionen dem Zuschauer den vertieften Zugang zum Drogenalltag erst ermöglichen. Doch auch sie sind nicht vor den vom Markt gesteuerten Mechanismen gefeit, auch innerhalb der Polizei bestimmen hierarchische Machtstrukturen und Korruption das Handeln. Dass Banden, Szenen, Familien, Berufsgattungen, Behörden, Institutionen – all jene Gruppierungen, die eine Stadt ausmachen – auf gleicher Augenhöhe behandelt werden, ist eine Spezialität von The Wire und führt das Leitthema der Serie eng. Spätestens wer Stringer Bell (Idris Elba), einen der Hauptorganisatoren des Drogendeals im innenstädtischen Getto, an der Universität beim Absolvieren von Betriebswirtschaftsabendkursen sieht, fühlt, wie sich die Kreise schliessen. Es gibt in The Wire keine Gangster. Es gibt nur Leute, die Drogen verkaufen, Drogen stehlen oder gegen Entgelt morden. Es ist ein entfesselter Kapitalismus, der alle Beziehungen unterschiedslos verdinglicht. Am Ende dieses Prozesses, so Simon und Burns, droht die komplett für den Markt zugerichtete, entsolidarisierte Gesellschaft.

Postmoderne Götter

Bevor es so weit ist, bevor also die Marktökonomie jede und jeden unter ihre Fuchtel gezwungen hat, versuchen sich die Menschen weiterhin, auf der Stadtbühne in absurden Ritualen der Selbsterniedrigung und des Widerstandes zu behaupten. Zwangsläufig scheitern sie dabei. Mal ist das komisch anzusehen, mal fühlen wir die Tragik am eigenen Leibe. Simon und Burns sowie ihre Mitautoren – unter anderem die Krimi-Autoren Richard Price und Dennis Lehane – hatten mit The Wire nie eine jener konventionellen Cop-Serien im Sinne, wie sie dutzendfach die TV-Kanäle verstopfen. Lieber verweisen sie bei den Vorbildern auf die antiken griechischen Tragödienschreiber. Die schilderten den Olymp als snobistischen Klub indifferenter Götter, welche dem Menschen in Form eines ungnädigen Schicksals täglich in den Arsch treten. Heute werden, im Unterschied zu damals, keine Blitze mehr geschleudert. «Heute», so Simon, «spielen die postmodernen Institutionen den Part der gleichgültigen Götter.»

Das Serienformat bringt es mit sich, dass der Zuschauer diese Verwicklungen bis in die feinsten Fasern des Gesellschaftskörpers verfolgen kann. Gleichgültigkeit ist das Gift, welches in die zahlreich ineinander verwobenen Schicksalsfäden einsickert. Und je länger wir diesem Treiben folgen, desto weniger ist es möglich, eine klare Linie zwischen Gut und Böse zu ziehen. Allzusehr sind wir eingebunden in das Chaos zerstörter Hoffnungen und Abstürze. Die Autoren begehen aber nicht den Fehler, die Schuld an der Misere allein den bösen Institutionen oder dem grausamen Zufall zuzuschieben. Auch die sozial- romantische Ode an eine billig zu habende «Wir-sind-trotz-allem-Brüder»- Klassensolidarität wird nicht angestimmt. Die einfache Unterscheidung in «wir» und «die» entspräche nicht der Realität. Hinter der Struktur – und das zeigen die 60 Stunden The Wire nur zu deutlich – stehen Menschen, und jeder ist zum Verbrechen fähig. Auf der anderen Seite sprechen die Macher von The Wire jedem ihrer grossen und kleinen Gangster die Chance auf Erlösung, auf Einsicht und Umkehr zu. Es bleibt also, trotz viel demonstriertem Elend, etwas Hoffnung. Gäbe es sie nicht, Baltimore wäre tatsächlich eine postmoderne Kraterlandschaft, deren Bewohner sich nur noch nach Verkäufertalent und Kaufkraft messen. So aber bleibt die Stadt eine offene Wunde, die immer weiter schwärt.

Benedikt Eppenberger
*1964. Historiker und Comiczeichner, lebt in Zürich und arbeitet als TV-Redaktor und freier Filmjournalist. Veröffentlichte 2006 zusammen mit Daniel Stapfer: Mädchen, Machos und Moneten. Die unglaubliche Geschichte des Schweizer Kinounternehmers Erwin C. Dietrich (Zürich 2006). Verfasste den Beitrag «Nazisploitation Made in Switzerland» für den Sammelband Nazisploitation! The Nazi Image in Low-Brow Cinema and Culture (London/New York 2012).
(Stand: 2012)
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