GÜZIN KAR

«MICHAEL MANNS COLLATERAL UND FRANZ KAFKAS ‹SCHAKALE UND ARABER›»

MOMENTAUFNAHME

Für eine Sekunde kreuzen sich ihre Wege, um danach für immer auseinanderzugehen: Die beiden Menschen in einem Taxi in L.A. und der Kojote, der mit glühenden Augen vors Scheinwerferlicht läuft. Bei Kafka konnten die Verwandten des Kojoten, die Schakale, sprechen. Sie klagten den Touristen ihr Leid mit den Arabern, die sie immerzu quälten. Michael Manns Kojote braucht die Sprache der Menschen nicht lernen, da diese längst seine Sprache beherrschen: Die archaischen Regeln des Jägers, das Recht des Stärkeren, für den die bürgerlichen Gesetze nicht gelten. Menschen und Tiere ohne Geschichte, ohne Namen, ohne Vergangenheit, und wenn sie Pech haben auch ohne Zukunft, denn einer der Männer im Taxi ist ein Auftragskiller. Kafkas Schakale, die in der Wüste lebten, kannten die menschliche Moral, sie wussten, was Schuld ist und Mitleid. Michael Manns Kreaturen der Megacity – Taxifahrer, Anwältinnen, Cops, Killer und Nutten – nähern sich den Tieren an: Das Prinzip der Moral weicht dem Prinzip des Überlebens.

Von Güzin Kar ist 2008 «Leben in Hormonie. Paarungskatastrophen für Fortgeschrittene» beim Verlag Kein&Aber erschienen.

Güzin Kar
ist Autorin, Filmregisseurin und Kolumnistin; www.guzinkar.com.
(Stand: 2009)
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