SABINE WOLF

DIE URBANE LANDSCHAFT IN DEN FILMEN DER BERLINER SCHULE

ESSAY

Während in den meisten Spielfilmen die Handlung in den Innenstädten spielt, wählt eine Gruppe von Filmmachern aus Berlin seit ein paar Jahren immer wieder die Ränder der Städte für ihre Geschichten aus. Sie haben die Handlungsorte hinaus aus den Zentren, auf die Brachflächen, das Niemandsland zwischen Stadt und Land verlagert – und machten die Nicht-Orte zum Zentrum des Geschehens. Diese Hinwendung zu neuen Drehorten hat das Interesse von Stadtplanern und Landschaftsarchitekten auf sich gezogen. Um beispielsweise in der Landschaftsarchitektur mit einem Ort zu arbeiten, bedarf es nicht nur der Möglichkeit, existierende Orte zu sehen und wahrzunehmen, vielmehr müssen auch Visionen, Ideen und Entwürfe künftiger Orte entwickelt werden. Hierzu werden Referenzbilder verwendet – Bilder aus einer Art Bilderpool, die im kulturellen Gedächtnis abgespeichert sind. Mithilfe dieser Bilder kann, auch als Teil des kreativen Entwurfsprozesses, Neues entwickelt oder Altes präzise beschrieben werden. Dafür liefert die Berliner Schule, wie der lose Verband der Berliner Filmemacher und Filmemacherinnen genannt wird, neue Sichtweisen.

2001 wurde die Gruppe erstmals erwähnt und bald als Berliner Schule bezeichnet, da Berlin Ursprungs- und häufig auch Handlungsort war. Mittlerweile, obwohl noch jung, besteht sie aus zwei Generationen. Die erste bilden Angela Schanelec, Christian Petzold und Thomas Arslan, zur zweiten zählen zehn bis fünfzehn weitere Akteure, unter ihnen Benjamin Heisenberg, Valeska Grisebach, Henner Winckler, Ulrich Köhler, Christoph Hochhäusler und Jan Krüger. Sie eint beinahe so viel, wie sie trennt, weshalb die immer wieder versuchten Anläufe einer Charakterisierung ebenso regelmässig scheiterten.

Einige Gemeinsamkeiten lassen sich dennoch festhalten: Was die Regisseure zu einer Schule macht, ist eine in ihren Filmen ablesbare Haltung. Sie äussert sich in einem anderen Blick, einem anderen Erzählen, anderen Handlungsorten, einem anderen Raumverständnis sowie einem anderen Umgang mit Zeit. Die Filme leben von ihrer Reduktion, die Regisseure scheuen Manipulationen des filmischen Materials ebenso wie ihrer Handlungsorte und letztendlich auch ihrer Rezipienten. Ihre Geschichten sind meist im Alltag unseres Jetzt, einer kapitalistisch überformten Gesellschaft, verortet. Zur Vermittlung ihrer Inhalte entwickelt die Berliner Schule dabei eine eigene (Bild)Sprache, die neue Möglichkeiten der Kommunikation zwischen Film(inhalt) und Betrachter eröffnet.

Die Bilder unserer Innenstädte und deren Wahrzeichen kennen wir alle, nicht zuletzt aus Spielfilmen. Was aber ist mit unseren Stadträndern? Mit Räumen und Orten, die sich nicht mehr eindeutig der Stadt oder dem Land zuordnen lassen? Den Orten in der verlandschafteten Stadt oder der verstädterten Landschaft, wie der Stadtplaner Thomas Sieverts sie in seiner Publikation Zwischenstadt 1997 nannte? Oder den Brachen im Inneren unserer Städte, die aus einem strukturellen Wandel resultieren, der einstige Gewerbestandorte brach fallen liess?

Tatsächlich setzte Mitte der 1990er-Jahre innerhalb verschiedener, mit Planung und Landschaft betrauter Professionen die Erkenntnis des Fehlens aktueller Referenzbilder für diese Räume und Orte ein. Seitdem wird versucht, Modelle und Theorien zu entwickeln, die einen adäquaten Zugang zu unserer Umgebung (wiederer)öffnen.

Die Ursachen des Bilddefizits sind komplex. Eine wichtige Ursache ist sicherlich, dass wir die Räume, deren Bilder wir heute suchen, noch nicht richtig kennen. Oder, dass «Siedlungsbrei» und «Nicht-Orte»1, wie diese bildlosen Orte genannt wurden, negativ belegte Termini sind, die nicht zu einer intensiven Auseinandersetzung einladen. Wir kennen diese Orte deshalb nicht, weil wir ihnen bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben. Dieses Defizit vermögen die Arbeiten der Berliner Schule zu reduzieren, weil sie die Kamera auf diese Nicht-Orte richten und uns dadurch sowohl «neue Blicke» eröffnen als auch eine «neue» Wahrnehmung lehren können.

Der Neue Blick in den Filmen der Berliner Schule

Schon 1913 postulierte der Soziologe Georg Simmel, Landschaft als eine besondere Perspektive auf einen Ausschnitt des Raumes entstünde in der Betrachtung eines sehenden Subjektes. Landschaft bezeichnet mithin einen Ausschnitt der Welt, der durch den Blick, die Erkenntnis im Sehen, sowie die Fokussierung der Wahrnehmung konstituiert ist. Werfen wir diesen Blick auf urbane Strukturen oder ihre Zwischenräume, so ist die im Blick entstehende Landschaft eine urbane.

Die zentrale Bedeutung des Blicks, mit welchem wir Landschaft überhaupt erst wahrnehmen können, ist zugleich zentral für das Verständnis des Besonderen der Filme der Berliner Schule: Sie lehrt uns einen «Neuen Blick», ein «Neues Sehen».2 Dabei geht es sowohl um das, was wir sehen, als auch darum, wie wir es sehen. Beides könnte auch den Landschaftsarchitekten und Stadtplanern helfen, ein eigenes Neues Sehen zu erlernen. Oder zumindest die Landschaft durch die «Augen» der Berliner Schule wahrzunehmen und daraus Referenzbilder für ihre Planungen zu generieren.

Dem Wie liegt die Sehnsucht nach einer präzisen Beschreibung der Welt zugrunde, der Wunsch, hinter die Dinge schauen zu können. Es geht um ein bewusstes Sehen und um das Vertrauen, dass die Wirklichkeit sich im Bild offenbart. «Dass sich die Atmosphäre in der Zeit quasi auszudehnen beginnt, dass die Bilder wachsen.»3 Der genaue Blick, mit dem die Filmer arbeiten, etabliert etwas, das über das eigentliche Bild hinausgeht; sie entdecken «das Sehen und seine Grammatik neu».4 Ihre Lehre wäre mithin die bewusste Schulung des Blicks und des Arbeitens damit. Dieser Neue Blick bringt «neue» Techniken hervor – ungewöhnliche Schnitte, lange Einstellungen, dokumentarische Anleihen: Film als Experimentierfeld zur Abbildung des Jetzt. Etwas Neues mit neuen Bildern zu erzählen, ist mitunter anstrengend, zumal, wenn sie nicht nur neu sind, sondern auch verständlich bleiben müssen, ohne effekthascherisch zu werden. So liegt denn auch die grösste Leistung der Berliner Schule weniger in ihren Geschichten, denn in ihren filmischen Mitteln der Beobachtung und in ihren Strategien der filmischen Raumaneigung.

Georg Seeßlen wirft im Zusammenhang der Diskussion um die Bilder der Berliner Schule die Frage auf, wem diese gehören, und ob es solche der Gegenwart überhaupt geben kann.5 Er stellt die Frage in einen Diskurs über unsere Medienlandschaft, in der die Sichtweisen der Berliner Regisseure in ihrer Ästhetik oftmals verstörend wirken, weil sie unsere Aufmerksamkeit fordern und nicht so einfach konsumierbar sind wie die etablierten und standardisierten Bilder. Es sind Fragen nach dem Was. Die Filme nähern sich einer Realität an – auch einer räumlichen – und liefern uns dadurch Inhalte und Sichtweisen für das bisher Unbekannte. Dieser Punkt taucht in der ganzen Diskussion um das «Besondere» der Berliner Schule bislang nicht auf. Mit ihrem Blick aber prägen diese Filme unsere Wahrnehmung urbaner Landschaften. Wesentlich ist hierbei, dass die FilmemacherInnen eine Haltung auch gegenüber den Nicht-Orten um uns gefunden haben, die sie filmisch kommunizieren: «Tastend und offen nähert sie sich der Jetztzeit in Deutschland und dem Lebensgefühl einer uneingestandenen Angst vor der Nähe und der Wirklichkeit.»6 Wenn diese tastende Annäherung gelingt – und sie gelingt immer wieder in den Filmen der Berliner Schule –, dann geschieht, was Dominik Graf beschreibt: «Man inhaliert die Stadt!».7

Der Realismus der Berliner Schule

Grundlage dieses Neuen Sehens ist neben einer besonderen Neugier, grosser Geduld und Freude am Experimentieren der «Realismus» der Berliner Schule. «Ästhetik der Reduktion», «visuelle Disziplin» und Nüchternheit, «kühle, dabei überaus sorgfältige Beobachtung»,8 sind jene filmischen Attribute, die ihn charakterisieren. Dass es im Film keinen echten Realismus geben kann, dessen sind sich auch die Regisseure der Berliner Schule bewusst. Und doch kommen sie näher an die Wirklichkeit als andere. Für Hochhäusler ist dieser «Einbruch der Wirklichkeit in den deutschen Film» bezeichnend für die Gruppe.9 Es ist ein Realismus, der manipulative Effekte vermeidet, ebenso das Verfallen auf Topoi und Klischees, was viel mit dem Aufbau von Vertrauen und Glaubwürdigkeit zu tun hat. Es ist ein reflektierter Realismus. Er ist die bewusste Adaption filmischer Techniken und Theorien, die so weit Verwendung finden, wie sie dem Ziel dienen, ohne Selbstzweck zu werden. Die Filmer «nehmen Realität nicht unter ihre Lupe, sie zu reproduzieren oder ironisieren oder psychologisieren, sondern um sie in eine Künstlichkeit zu überführen, welche Wirklichkeit so lange siebt, bis sie ihre reinstmögliche Form erreicht hat», schreibt der Filmkritiker Hanns-Georg Rodek. Oder, wie Schanelec anlässlich ihres Films Mein langsames Leben konstatierte: «Ich habe mich gefragt, was passiert, wenn man versucht, die Normalität abzubilden.»10

Wenn man es so versucht, wie die Berliner Schule, dann «[kann man] näher an das Gegenwärtige, daran, wie man lebt, derzeit, [...] mit den Mitteln des Kinos kaum kommen, auch nicht weiter darüber hinaus, und schon gar nicht tiefer ins Zwischendrin.»11 Dieses Zwischendrin ist durchaus auch räumlich zu verstehen: in ihren Handlungsorten, dem Zwischendrin der Stadtlandschaft, zu deren filmischen Pionieren die Filmer werden.12 Dadurch, dass sie an neue Orte gehen, vermitteln sie uns eine neue Sicht auf die urbanen Landschaften. Das Wie und das Was des Neuen Sehens sind hierfür zentral. Sie basieren insbesondere auf drei Merkmalen, die dem Sehen an sich eigen sind, und die die Berliner für sich zu nutzen wissen: erstens der Subjektivität des Blicks, zweitens der Gerichtetheit des Blicks und drittens dem Blick als Basis des Sehens und als Grundlage unserer Wahrnehmung und Orientierung im Raum.

Subjektivität des Blicks

Der Blick ist stets subjektiv und folgt einem besonderen Interesse. In der Berliner Schule gilt dieses neben den Figuren vor allem den Nicht-Orten als Handlungsorten, darauf befindlichen Interventionen und Spuren sowie dem Ton des Ortes.

Thematisch gruppieren sich die Filme vielfach um Porträts der deutschen Mittelschicht. Konsequenterweise finden die Regisseure an ihren Wohnorten häufig auch die Handlungsorte. Dort, wo der Traum vom Einfamilienhaus geträumt wird: in den Speckgürteln unserer Städte und Agglomerationen wie in Milchwald (Christoph Hochhäusler, D/PL 2003), in den Siebzigerjahre-Neubaugebieten wie in Bungalow (Ulrich Köhler, D 2002) oder in Hochhäuslers Falscher Bekenner (D/DK 2005). Geografisch verortet sind viele dieser Filme in Berlin und seinem Umland.

Die Hauptfiguren sind meist rastlos auf der Suche nach ihrer Identität in einer globalisierten Welt. Diese Suche ist innere und äussere Bewegung zugleich – filmisch erzählt als zielloses Umherlaufen und -fahren. Weil dieses Umherirren Platz benötigt, spielen die Filme so häufig im Freien – in einem Aussenraum, der hierzu kaum je einlädt. Das visuelle Pendant zur Suche und dem «Noch-Nicht-Angekommen-Sein» finden die Regisseure in den Nicht-Orten, die ihre Funktion noch nicht gefunden bzw. wieder verloren haben wie Industriebrachen und Baulücken.

Die Filme springen immer wieder einfach so, ohne Grund, raus in die «Natur». Doch ebenso wenig, wie es echten Realismus im Film geben kann, gibt es «Natur» im ursprünglichen Sinne. Auch dessen sind sich die Filmer bewusst. Wenn sie im Grünen umherfahren, sehen wir dem Wald an, dass er ein Forst ist, der vom Menschen überformt wurde – z. B. am Rande eines Braunkohletagebaus wie in Falscher Bekenner.

Oft spielen die Filme an «unverfälschten» Schauplätzen, die in der Regel nicht ans Filmset angepasst, sondern wie «Ready mades» verwandt werden. Diese Drehorte stellen nicht exotische Momente im Film dar, sondern machen die Alltagsumwelten sicht- und erfahrbar. Man begegnet ihnen mit der gleichen Selbstverständlichkeit und Unaufgeregtheit wie den Protagonisten. Es wird gewissermassen der «Alltag des Raumes» gezeigt. Bespielt werden häufig Räume hoher Spannungskraft, unter- oder überdeterminierte Räume. Die unterdeterminierten Räume erlauben den Filmern «andere Freiheiten», weil derjenige ihre Funktion bestimmt, der ihn betritt:13 Wenn wir auf einer Brache Federball spielen, wird sie zum Spielfeld, wenn wir uns ausruhen, wird sie zum Erholungsraum, wenn wir über sie hinweggehen, zum Fussweg, wie beispielsweise in Falscher Bekenner. Dies ist zugleich eine Strategie der aktiven Raumaneignung durch funktionale Besetzung, wie sie in den Filmen der Berliner Schule immer wieder praktiziert wird, häufig mit temporären Nutzungen.

Demgegenüber stehen überdeterminierte Räume, die man verletzt, wenn man sie betritt und sich in ihnen bewegt. Eine Autobahn, wie sie ebenfalls in Falscher Bekenner bespielt wird, ist ein solch überdeterminierter Raum, der dem Autofahren vorbehalten und dessen Betreten durch Fussgänger eine Funktionsstörung darstellt.

Das Bespielen der Originalschauplätze bedeutet immer auch eine Auseinandersetzung mit Geschichte, Interventionen und Spuren. Wie bei einem Palimpsest werden Spuren unterschiedlicher Tiefe gefunden, Spuren der Abwesenheit, des Verfalls, der Unnutzung, aus der sich Umnutzung ergibt. Da an unverfälschten Orten gedreht wird, legen auch die Filmer neue Spuren und schreiben sich in die Geschichte des Ortes ein.

Dieses Arbeiten mit Spuren, ein zentrales Wesensmerkmal der Filme, ist Ausdruck eines besonderen Umgangs der Regisseure mit ihren Räumen. So sagt Petzold über Gespenster (D 2005): «Ich behandle Berlin nicht, als ob es mir untertan wäre»14; Arslan möchte «Schauplätzen Präsenz geben, diese nicht nur als Hintergrund abrufen, weil das für mich genauso wichtig ist wie die Erzählung selber.»15 Oder wie es die Filmkritikerin Christiane Peitz16 formuliert: «Es geht [...] darum, den Orten ihre Geschichte, ihr imaginäres Potenzial zu entlocken. Deshalb das behutsame Drehen: Wer zu viel Lärm macht, vertreibt die Geister.»

Und als gelte es, noch das Flüstern der Geister festzuhalten, arbeiten die Filmer viel mit intradiegetischem Ton, verwenden häufig Originalton. Wind, der durch Gräser, über Wiesen und durch Blätter rauscht, ist eine immer wieder verwendete akustische Kulisse, z. B. in Grisebachs Sehnsucht (D 2006). Dieser Ton ist elementar für die Konstruktion des filmischen Raumes, der aufgrund seiner Dichte fast synästhetisch erfahrbar wird. Der dezente Einsatz der Mittel lässt die Filme der Berliner Schule nie schwülstig werden: Das Windgeräusch ist hier nicht Mittel des Ausdrucks von Emotionen, sondern das Festhalten eines «authentischen» Moments.

Gerichtetheit des Blicks

Der Blick ist stets gerichtet. Durch ihn und den anschliessenden komplexen Verarbeitungsprozess der visuellen Reize prägen sich unsere Wahrnehmung und Erfahrung. Die Gerichtetheit des Blicks folgt einer Gewichtung unserer Interessen. In diesem Blick entwickeln wir eine Haltung. Zugleich bedingt er eine Ausschnitthaftigkeit, denn wir sehen nur das, was in unserem Blickfeld liegt. Das hat Auslassungen zur Folge, die Ergänzungen notwendig machen. Hier begegnet das Neue Sehen klassischen filmischen Mitteln.17

Bei den Filmen der Berliner Schule gilt es insbesondere, deren stilbildenden Umgang mit Auslassungen hervorzuheben. Ebenso wie der «Hang zum Abstandhalten»18 und die inszenatorische Zurückhaltung unterlaufen die vielen Auslassungen sowohl im Bild als auch in der Handlung immer wieder die Erwartungen des Publikums. Das Wesentliche liegt hier im Unausgesprochenen, in der Stille zwischen den Bildern. Indem bekannte Handlungsabläufe nicht gezeigt werden, dafür aber beispielsweise lange Einstellungen von Nicht-Orten, schieben sich diese Bilder in unserem Bewusstsein in den Vordergrund. Wir können Unbekanntes entdecken, während wir dort, wo wir uns bereits auskennen, ergänzen. Das richtet unsere Aufmerksamkeit und lässt ein Neues Sehen, auch bezüglich der urbanen Landschaften, zu.

Die Filme erreichen durch Auslassungen «eine faszinierende Dichte, die auch deshalb so erstaunlich ist, weil man sie kaum für möglich hält».19 Da wir die ausgelassenen Bilder aus Grossproduktionen kennen, funktioniert das Arbeiten damit hier so gut. Insofern profitieren die Filme der Berliner Schule von ihren filmischen Vorgängern, widerspiegeln hierin jedoch auch eine implizite Kritik am immer gleichen Bild.

Der Blick als Basis der Raumwahrnehmung und -orientierung

Der Blick als Basis des Sehens ist zugleich (eine) Grundlage unserer Wahrnehmung und Orientierung im Raum. Die Filmer der Berliner Schule arbeiten mit unseren Wahrnehmungsmodi und entwickeln Raumstudien, die auch Aussagen über unsere Orientierung im Unverortbaren unserer Nicht-Orte zulassen.

Die Kameraführung der Filme ist distanziert, sodass der Zuschauer zum Beobachter wird. Die langen Einstellungen lassen der Annäherung an Mensch und Raum viel Zeit. Diese Ruhe im Blick, ihre «Ungerührtheit der Beobachtung»20, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie präzise beobachten. Hin und wieder sind wir in Echtzeit dabei, weniger filmisch, als wir es häufig gewohnt sind, mit weniger dramaturgischer Ausarbeitung, dafür aber «näher dran». Der Zuschauer soll durch die Art der Aufnahme nicht (oder weniger) manipuliert werden, er soll selbst auf die Essenz der Blicke, Bilder und Handlungen stossen. Indem die Filmer Abstand von ihren Figuren nehmen, können sie näher an die urbane Landschaft heranrücken. Es findet eine Verschiebung statt, in der die Landschaft einen Mehrwert erfährt und schliesslich zur Protagonistin werden kann.

Die Kamera wird kaum je subjektiv eingesetzt, selbst wenn sie, wie ihn Hochhäuslers Milchwald, seitlich aus dem Fenster eines fahrenden Autos blickt. Sie übernimmt hier vielmehr die Rolle einer Vermittlerin unserer dynamisierten Wahrnehmung in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Obgleich die Kameraführung meist statisch ist, gelingt es, Stimmungen aufzubauen und zu verdichten. Dabei bedarf es eben gerade nicht effektgeladener Einstellungen – in einer Zeit hoher Dynamik und Geschwindigkeit ist es die Entschleunigung des Blicks und der Bewegung, die unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Filmemacher experimentieren ebenso mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten wie mit unterschiedlichen Perspektiven: die Landschaft wird aus Sicht des Fussgängers oder aus dem fahrenden Auto heraus beschaut, in Frontalperspektive oder orthogonal dazu. Enge Räume wechseln sich mit weiten Räumen ab, meist in Echtzeit und stets mit einer Absicht. So wollte Petzold in Wolfsburg (D 2003) beispielsweise erkunden, wie das Auto Wahrnehmung und Psyche verändert.21

Immer wieder agieren die Regisseure wie Forscher: Ist ein Thema gefunden, wird es bearbeitet. Es entstehen Studien zu unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi urbaner Landschaften ebenso wie zu verschiedenen Raumtypen. Mit einem analytisch-seziererischen Blick erforscht Hochhäusler in Falscher Bekenner unterschiedliche, aneinanderstossende Raumschichten. Es handelt sich um Übergänge und Grenzen, um Räume jener transitorischen Qualität, die auch unsere urbanen Stadtlandschaften charakterisieren. Eine zentrale Szene des Films spielt auf einer Brache zwischen Wohngebiet und Autobahn, getrennt durch eine Lärmschutzwand. Der Protagonist Armin läuft durch eine Türe in dieser Wand von der Brache auf die Autobahn. Es ist, als würde er die eine Welt verlassen, um die andere zu betreten. Hochhäusler arbeitet seine Raumbilder präzise aus: Armins räumliche Grenzüberschreitung ist symptomatisch für seine gesamte Lebenssituation.

In Milchwald, einer Adaption des Märchens «Hänsel und Gretel», spürt Hochhäusler der Besonderheit eines Ortes aufgrund seiner Topografie nach. Hier verschwinden die beiden Geschwister Lea und Konstantin in der Landschaft, als würden sie vom Erdboden verschluckt. Zugleich ist dies ein Vorgriff auf die Erzählung, in der die Stiefmutter die beiden Kinder aussetzt. Wiederum hat Hochhäusler ein Bild für etwas gefunden, das eigentlich nicht darstellbar ist – das Verlorengehen in der Welt.

Während vor allem Hochhäuslers Filme uns unserer Raumwahrnehmung und unserer unterschiedlichen Raumcharaktere bewusster werden lassen, arbeiten andere zu konkreten Problemen: die fraktalen Stadtlandschaften sind uns auch deswegen häufig so fremd, weil wir uns hier nicht auf Orientierungsstandards, wie die bekannten Wahrzeichen einer Stadt, verlassen können. Wir müssen uns, worauf schon Kevin Lynch 1960 in The Image of the City hinweist, eigene Orientierungsparameter, Merkzeichen und Landmarks suchen. Dies können bauliche oder temporäre Elemente sein wie bspw. eine Bushaltestelle oder Trampelpfade auf Brachen und in Grünanlagen in Petzolds Gespenster.

Die Zukunft der urbanen Landschaft

Das Neue Sehen der Berliner Schule ist ein Sehen, das Erkennen ermöglicht; ein Erkennen unserer Nicht-Orte, der Orte unserer urbanen Agnosia, des blinden Flecks der Wahrnehmung unserer urbanen Stadtlandschaften. Die Akteure der Berliner Schule haben erkannt, dass es nicht alleine auf den Gegenstand, sondern vielmehr auf den Blick darauf ankommt. Häufig jedoch macht erst der Gegenstand eine besondere Sichtweise möglich – wie die Handlungsorte in ihren Filmen. Hier ist das Neue zugleich das Besondere. Es sind Orte, für die es noch keinen Kanon an Blicken und Bildern gib. Es braucht ein neues Sehen, um sich vom Alten zu trennen. Jenes, das in diesen Orten nichts anderes erkennen kann als die öde Leere der bildlosen Zwischenstadt. Der Berliner Schule gelingt es, hierfür neue Blicke ebenso wie neue Bilder zu generieren, die Eingang ins kulturelle Gedächtnis finden können – auch als Voraussetzung dafür, künftig mit diesen Orten arbeiten zu können.

Dies wiederum ist nur möglich, weil die Filme auch einen neuen Umgang mit dem filmischen Raum aufzeigen: Sie widmen ihm ebenso Aufmerksamkeit wie den Figuren. Sie tun dies auf reflektierte Weise, nicht in allen Filmen mit denselben Mitteln, aber mit demselben Ergebnis: der urbanen Landschaft als Protagonistin. Diese Bedeutungsverschiebung ist zugleich als Indiz für eine in der Wahrnehmung der Gesellschaft stattfindende Umwertung der Nicht-Orte hin zu ihrer Akzeptanz als Teil unserer räumlichen Realität zu verstehen. Indem den Handlungsorten eine zentrale Rolle zukommt, gelingt den Filmern eine Annäherung an unsere realen urbanen Landschaften. Erstmals seit den frühen Stadtfilmen knüpft hier eine ganze Schule wieder an die reale Umwelt an. Dadurch lösen uns diese Filme langsam vom überholten Bild der europäischen Stadt, das geprägt ist durch geschlossene Bebauung und ein Zentrum, das zugleich Stadt- und Lebensmittelpunkt ist. Die filmischen Raumaneignungsstrategien können mithin auch als Strategien einer Sichtbarmachung begriffen werden. Zugleich sind es Aufwertungsstrategien, die eine gesamte Umwertung der Räume und Orte nach sich ziehen können – und uns so den ersehnten Zugang (wieder) eröffnen.

Der Begriff des Nicht-Ortes geht zurück auf Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt 1999.

Rodek, Hanns-Georg, «Die fetten Jahre der Berliner Schule», in: Die Welt, 16.11.2006. Onlineausgabe: http://www.welt.de/kultur/ article94501/Die_fetten_Jahre_der_Berliner_ Schule.html [Zugriff 28.5.2008]. Der hier verwandte Terminus des «Neuen Sehens» bezieht sich nicht auf die Stilrichtung des Neuen Sehens der Fotografie der Zwanzigerjahre, sondern gilt der Beschreibung des bewussten Blicks der Berliner Schule.

Decker, Kerstin, «Die Schneewitchenfilmer. Arslan, Petzold, Schanelec: ein Symposium über die Neue Berliner Schule», in: Der Tagesspiegel. Kultur. 2.10.2006. http://www.tagesspiegel.de/kultu...,1921965 [Zugriff 28.5.2008].

Gupta, Susanne, «Berliner Schule. Nouvelle Vague allemande», in: Bundeszentrale für politische Bildung, 31.8.2005, http://film.fluter. de/de/122/film/4219/ [Zugriff 28.5.2008].

Vgl. Seeßlen, Georg, «Die Anti-Erzählmaschine», in: Freitag. Die Ost-West-Wochenzeitung, Nr. 37, 14.9.2007. http://www.freitag. de/2007/37/07371301.php [Zugriff: 28.5.2008].

Suchsland, Rüdiger, «Langsames Leben, schöne Tage. Annäherungen an die ‹Berliner Schule›». in: Filmdienst, 13/2005, S. 6–9, hier: S. 9.

Decker (wie Anm. 3).

Suchsland (wie Anm. 6), S. 8.

In: Rohnke, Cathy, «Die Schule, die keine ist – Reflektionen über die ‹Berliner Schule›», in: Goethe-Institut online. Rubrik Film, Dez. 2006, http://www.goethe.de/kue/flm/thm... [Zugriff 28.5.2008].

Rodek (wie Anm. 2).

Seeßlen (wie Anm. 5).

Vor den Filmemachern näherten sich die Literaten und Fotografen diesen Flächen mithilfe ihres jeweiligen Ausdrucksmediums. Sie schrieben darüber, sie fotografierten es, und nun kommt der Film. Die «Berliner Schule» ist eingebunden in einen Zeitgeist, der Film eines von verschiedenen Ausdrucksmedien, aber nicht Pionier. Das mag auch als Beweis dafür dienen, dass der Film, der für eine Gesellschaft gemacht wird, auch von ihr gemacht wird.

Vgl. Christoph Hochhäusler im Audiokommentar der DVD zu Falscher Bekenner (2005).

Peitz, Christiane, «Topographie der Sehnsucht. Fluchtpunkt Potsdamer Platz: Christian Petzold dreht mit Julia Hummer und Marianne Basler den Kinofilm ‹Gespenster›», in: Tagesspiegel. Online-Archiv, 16.7.2004, http://www. tagesspiegel.de/kultur/;art772,2091361 [Zugriff 15.6.2008].

Gupta (wie Anm. 4).

Peitz (wie Anm. 14).

Vgl. zum filmischen Sehen die Arbeiten von Blothner, Dirk: Erlebniswelt Kino. Über die unbewusste Wirkung des Films, Bergisch Gladbach 1999.

Worthmann, Merten, «Mit Vorsicht genießen», in: Zeit online, 40/2001, S. 40. http:// www.zeit.de/2001/40/Mit_Vorsicht... Ursprünglich in: Zeitmagazin Leben vom 27.9.2001. [Zugriff 28.5.2008].

Worthmann (wie Anm. 18).

Dell, Matthias: «Privat ist Private Equity recht smart», in: Freitag. Die Ost-West-Wochenzeitung, Nr. 37, 14.9.2007. http://www. freitag.de/2007/37/07371301.php =20 [Zugriff 28.5.2008].

Gupta (wie Anm. 4).

Bildnachweise mit Dank für die Genehmigung:

Abb. 1–3: Falscher Bekenner, Deutschland 2005, Regie: Christoph Hochhäusler, Produktionsfirma: Heimatfilm GmbH + Co KG, Produzentin: Bettina Brokemper.

Abb. 4a–c: Milchwald, Deutschland 2003, Regie: Christoph Hochhäusler, Produktionsfirma: fieber.film; Zweites Deutsches Fernsehen (ZDF); Colonia Media Filmproduktions GmbH; Schmidtz Katze Filmkollektiv GmbH; Cine Image; Hochschule für Fernsehen und Film (HFF), Produzent: Clarens Grollmann, Mario Stefan.

Sabine Wolf
geb. 1972, Diplom Raum- und Umweltplanerin. Seit 2004 Doktorandin und wissenschaftliche Assistentin am Institut für Landschaftsarchitektur, Professur Christophe Girot, an der ETH Zürich, ausserdem seit 2007 Redaktorin der Schweizer Fachzeitschrift für Landschaftsarchitektur Anthos. Derzeit intensive Arbeit an Dissertation zur Repräsentation urbaner Landschaft im Film, geplante Fertigstellung Frühjahr 2009; sabine.wolf@arch.ethz.ch.
(Stand: 2009)
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