Die Stadt im Film Noir will sorgfältig gecasted sein, ist sie doch Hauptfigur und Schlupfwinkel in einem. Schatten, dunkle Ecken und düstere Strassen braucht es, um die Desorientierung der Film-Noir-Helden – die eigentlich keine sind – zu unterstreichen. San Francisco beherbergte den Drehbuchautor Dashiell Hammett genauso wie dessen Hauptfigur Sam Spade und zeigt, wie Regisseure der undurchsichtigen Topografie vertrauten, um Figuren und Zuschauer gleichermassen zu verwirren. Mit den Augen eines Flaneurs, der sich von Sam Spade an der Hand nehmen lässt, ist ein Spaziergang durch San Francisco gleichzeitig ein Gang über die Leinwand.
Der Blick in alle Himmelsrichtungen offenbart, was der Stadtplan verschweigt – zwar spannt sich über die ganze Stadt ein Netz scheinbar geradliniger Strassen: Washington, Clay, Sacramento, California, Pine, Bush, Sutter, Post, Geary – reihen sich von Norden nach Süden. Jones, Taylor, Mason, Powell, Stockton, Grant – ziehen sich von Westen nach Osten. Doch ist die Stadt keineswegs ein flaches Reissbrett, sondern eine hügelige Landzunge. Westlich das Nichts oder der Pazifik, östlich die Bay von San Francisco. Nach Norden jene Brücke, die die Stadt ikonografisch zusammenfasst: die Golden Gate Bridge. Südöstlich die blaugraue Oakland Bay Bridge, die Downtown mit Oakland und Berkeley verbindet, und The Maltese Falcon (John Huston, USA 1941) eröffnet.
«Where do you go?», fragt der freundliche Fahrer, der Humphrey Bogart alias Vincent Parry in seinem Auto mitnimmt. «To San Francisco», antwortet Parry, dessen Gesicht während eines ganzen Drittels des Filmes Dark Passage (Delmer Daves, USA 1947) im Verborgenen bleibt. Er sei von Arizona, als Destination gibt er das Civic Center in San Francisco an. Kurz darauf wird er von Irene Jansen (Lauren Bacall) durch einen Tunnel und über die Golden Gate Bridge – vorbei an Polizeisperren, wie es sich für einen Flüchtigen gehört – in die Stadt gefahren. Parry ist von Jansens Hilfe nicht ganz so überzeugt wie sie selbst, lässt sich von ihrer Coolness aber gerne verführen: «Where are we?», fragt er, versteckt unter einer Wolldecke, auf dem Rücksitz ihres Autos. «My place», antwortet sie einsilbig.
Die Strassen, die sich wie ein Netz an die Hügel schmiegen, strukturieren die Erinnerungen der Stadt, die Gastgeberin zahlreicher Film Noirs war. Bequem flanierend kann ein jeder das Gedächtnis der Stadt durchlaufen und die Kulissen studieren. Das Einzige, was der Flaneur braucht, um über die Leinwand zu spazieren, ist der Schutz Sam Spades. Und einen Stadtplan – ein Glück, dass die Stadt mehrheitlich in Laufdistanz zu bewältigen ist.
Es sind einzelne Koordinaten, die den Flaneur an die Vergangenheit der Stadt mahnen. Regisseure wie John Huston, Delmer Daves oder Arthur Lubin brannten den Asphalt der Stadt auf Zelluloid. Meistens spielt sich San Francisco darin selber, manchmal ist es irgendeine Stadt. Einige Einstellungen entlarven konkrete Ecken der Stadt – flackernde Neonlichter auf dem Union Square, der hell erleuchtete Liftschacht der Malloch Apartments oder die hügeligen Strassen von Tenderloin nach Nob Hill. Nicht alle Bilder aber sind der Stadt vor Ort entliehen. Der Film Out of The Past (Jacques Tourneur, USA 1947) etwa wurde gänzlich aus Archivbildern montiert und schafft eine Art Dummy der Stadt. Auch die erste Einstellung von The Maltese Falcon verrät, dass dieser Film grösstenteils nicht vor Ort gedreht wurde. Erst bei genauerem Hinsehen erkennt man in der Anfangssequenz ein Datum – «Golden Gate Bridge: Fiesta 27 May» –, das auf die Eröffnung der Brücke vier Jahre zuvor, am 27. Mai 1937, verweist. Es liegt denn auch nicht in der Natur des Film Noir, Überblick zu verschaffen, denkt sich der Flaneur, entsprechend rar sind die «establishing shots». Wenn doch, dann präsentiert sich die Stadt gerne mit einem Panoramashot von den Twin Peaks aus. Hierher fährt nur selten ein öffentlicher Bus, dafür bringen umso zahlreichere Cars ganze Ladungen von Touristen her, die sich einen Überblick über die sonnige Stadt erhoffen.
Die Stadt im Film Noir ist zentral und doch oft keine bestimmte. Wichtig sind ihre dunklen, wenn möglich regennassen Strassen, die engen Treppenfluchten, versteckten Hauseingänge und illustren Nachtklubs. Viele Film Noirs spielen in prototypischen Grossstädten, einige in New York, viele in Los Angeles, ein paar in London. Jene, in denen San Francisco die Hauptrolle spielt, sind unverkennbar: The Maltese Falcon, Impact (Arthur Lubin, USA 1949), Dark Passage, Nora Prentiss (Vincent Sherman, USA 1947) oder D.O.A. (Rudolph Maté, USA 1950) sind nur einige von vielen Beispielen. Ist es nicht eine der markanten Brücken, die die Stadt verrät, so werden es die Hügel sein, die nur schwer zu kaschieren sind. Kaum vorstellbar, wie die kalifornische Sonne die Stadt dem Dunkeln überlässt. Und doch genau dieser Kontrast macht wohl den Reiz der Location San Francisco aus: Tagsüber mag die Stadt lässig bis romantisch unter der Sonne liegen, nachts ist Platz für dramatische Szenerien. Im Idealfall aber will plötzlicher Nebel den Tag nicht freilegen und diesen zu unwirklicher Kulisse verzerren.
Es ist denn auch die Topografie, die die Dramaturgie in den Filmen vorgibt. Sie desorientiert geschickt und ermöglicht hektische Verfolgungsjagden. In Dark Passage erzählt der Taxifahrer, der Vincent Parry an der Plum Alley Nr. 21 bei Dr. Coley ein neues Gesicht verspricht, Anekdoten seiner Fahrten. Köstlich amüsiert er sich über jenen Passagier, der unten am Hafen das Taxi mit einem Goldfischglas bestieg und an den Pazifik auf der gegenüberliegenden Seite der Stadt wollte. Der Taxifahrer kann sich kaum erholen über die Naivität des Auswärtigen, der während der rasanten Taxifahrt beinahe im Glas seiner zappelnden Goldfische ertrank – weil er den Hügeln zu wenig Respekt zollte.
Der steilen Hügel wegen wechseln die Strassenzüge ständig ihr Gesicht. Je höher hinauf, umso nobler die Gebäude, je tiefer hinunter, umso anrüchiger die Strassen. Oben in Nob Hill, dort wo die teuren und exquisiten Apartmenthäuser stehen, ist die Welt noch – zumindest vordergründig – in Ordnung. Je weiter sich die Geschichte nach unten, nach Tenderloin, in den Financial District oder nach Chinatown verstrickt, umso tiefer verlieren sich ihre Figuren in den Strassenschluchten und Gassen und der Zuschauer im Sog der Geschichte. So sehr, dass am Ende auch die Welt auf dem vornehmen Felsen nicht mehr stimmt. Madge, die Freundin von Parrys ermordeter Frau, wird in der 97. Minute von Dark Passage durch die Aussicht ihres Apartments auf Nob Hill springen, und damit Parry’s Unschuldsbeweis mit ins Grab nehmen, erinnert sich der Flaneur schaudernd beim Anblick des hohen Gebäudes.
Der Spaziergang über die Leinwand also beginnt an der Oberfläche, oben an der Ecke Jones Street und Sacramento Street. Nur wenige Meter ist die Strasse hier genügend eben, sodass sich das gleissende Sonnenlicht auf dem Asphalt spiegeln könnte. Überraschend kommt ein Auto links die Strasse hoch, während das eben gesichtete rechter Hand bereits wieder aus dem Blickwinkel verschwunden ist. Atemlos vom Aufstieg bleibt der Flaneur stehen, kneift die Augen zu, die dem Prunk kaum trauen. Entweder taufte das englische Wort für Beule «knob» oder Nabob, der Begriff für schwerreiche Männer, den exklusiven Hügel, den manch einer von unten lieber verächtlich Snob Hill nennt. Weil sie, «The Big Four», hier oben alle in Saus und Braus logierten, und ihnen kein Luxus zu viel war. Sie, das waren die Familien von Mark Hopkins, Fairmont, Stanford und Huntington, die durch Eisenbahn und Bergwerke zu millionenschweren Vermögen kamen und an die noch immer Hotels und Apartmenthäuser erinnern. Vor dem Mark Hopkins Hotel also hält der Flaneur inne, blickt vorbei am Fairmont Hotel und hinüber zu den Brocklebank Apartments. Sein Blick streift die neugotisch inspirierte Grace Cathedral und das hübsche Pärkchen davor, und erblickt links davon die Chambord Apartments.
Hier in den Chambord Apartments (1298 Sacramento Street bei Jones) offenbart sich Frank Bigelos Schicksal, das ihn in D.O.A. zwei Tage lang durch San Francisco und Los Angeles rennen lassen wird. Denn nach durchzechter Nacht in einer Bar am Embarcadero – die damals «Fisherman» hiess und heute nicht mehr ist – fühlt er sich schlecht. Er besucht einen Arzt in Nob Hill und erfährt von seiner tödlichen Vergiftung, die ihm keine 48 Stunden mehr vergönnt. James Francis Dunn, der Architekt der Chambord Apartments, starb 1921, kurz bevor sein Werk 1922 fertiggestellt wurde. Damals war es eines der ersten Apartmenthäuser, heute ist es ein Wahrzeichen der Stadt. Die Fassade war bis in die 1950er-Jahre im Zuckerbäckerstil dekoriert. Nur in D.O.A. sind seltene Aufnahmen dieser Fassade zu sehen, die kurz nach dem Dreh wegen seismischer Gefahren abgenommen wurde.
Wenige Schritte entfernt bleibt der Flaneur vor dem Fairmont Hotel (Mason Street Nr. 950) erneut stehen. Zahlreiche Mythen schmücken die bewegte Geschichte der nobelsten Hoteladresse der Stadt, das Anfang des letzten Jahrhunderts gebaut wurde. 1906 ereilte das schwerste Erdbeben seit Menschengedenken die Stadt, und kurz darauf das Feuer das fast fertige Hotel. Exakt ein Jahr später fand die offizielle Eröffnung statt. Verschiedene Bars und Clubs im Fairmont Hotel bereichern das gesellschaftliche Leben der Schönen und Reichen. Im Venetian Room sangen und spielten Ella Fitzgerald, Nat King Cole, Marlene Dietrich, James Brown und verhalfen Nächten und Hotel zu Ruhm. Und hier war es, wo Tony Bennett zum ersten Mal das Lied sang, das viele nach ihm in die Stadt lockte: «I left my Heart in S. F.». Oft logierten Stars während ihrer Dreharbeiten in diesem Hotel. Joan Crawford etwa soll bei ihrer Ankunft zehn Schachteln Gesichtstücher und zwanzig Kissen geordert haben. Und Orson Welles begegnete im Lift seiner Vorlage für Charles Foster Kane: William Randolph Hearst. Später übernachteten hier Hitchcock & Crew während des Drehs von Vertigo (USA 1958). Der Flaneur lässt es sich nicht nehmen, in den ehrwürdigen Gemäuern die öffentliche Toilette zu nutzen. Bestaunt den edlen Marmor und die üppigen Teppiche – nicht ohne hie und da die geschmacklosen Details der Sanierung zu übersehen. Schleicht an gestikulierenden Tagungsteilnehmern eines wichtigen Kongresses vorbei. Und findet eine ruhige Terrasse mit einer Aussicht bis zum Coit Tower. Dorthin möchte er, weil er sich von dort Aussicht auf die Bay und Alcatraz inklusive beider Brücken verspricht.
Vorbei an den livrierten, dezent beschäftigten Portiers, wendet sich der Flaneur nach Norden und hält gleich wieder inne. An der Mason Street Nr. 1000 bei Sacramento stehen die Brocklebank Apartments, wo sowohl Impact (Arthur Lubin, USA 1949) als auch Vertigo spielten. Wobei sich bei Letzterem die Kenner streiten, ob er ein ungewöhnlicher Film Noir oder doch bereits ein Neo Noir sei.
Die Concierge, knapp so alt wie das Gebäude selbst, erzählt zittrig, aber stolz von den zehn Etagen à je fünf Wohnungen. In drei Grössen gibt es sie, deren Preise sie auf keinen Fall verraten möchte: 1000 Quadratmeter sind ein, 2000 sind zwei und 3000 sind drei Zimmer. Und was passiert beim nächsten Erdbeben? Ach, nichts, erklärt sie lakonisch, das Haus stehe ja auf einem Felsen. Genau deshalb, wegen dem Erdbeben, das die Stadt Anfang des letzten Jahrhunderts heimsuchte, steht die benachbarte Grace Cathedral stolz an der California Street Nr. 1100 bei Taylor. Die Bankiersfamilie Crocker liess sie 1928 als Erinnerung an das Erdbeben von 1906 erbauen. Immer noch erschöpft vom Aufstieg, setzt sich der Flaneur auf die Parkbank vor der Kirche und lässt seinen Blick schweifen. Schatten spendet der vergleichsweise nüchterne Bau der kalifornischen Freimaurer, der Masonic Memorial Temple, an dessen Fassade ein Relief mit vier Männern das Tauziehen zwischen guten und bösen Kräften symbolisieren soll. Die Geschichte des schlichten doch massiven Gebäudes beginnt erst nach der Ära des Film Noir, 1958, zur selben Zeit, als Hitchcock Vertigo in der Stadt dreht.
Der Weg hinunter nach Tenderloin ist nachts einsam und unheimlich, tagsüber begleiten Obdachlose, Junkies und der Uringestank den Flaneur. Die Flucht in die Fiktion fällt leicht, lieber stellt man sich vor, wie die Detektive des Film Noir durch die Strassen jagen. Bald kreuzen sich denn auch wieder die Wege des Flaneurs mit Frank Bigelo, Sam Spade und Dashiell Hammett. Letzterer etwa trägt grosse Verantwortung für das Genre, das nicht alle Filmwissenschafter als solches bezeichnen würden. Dashiell Hammett schrieb neben Raymond Chandler und James M. Cain hartgesottene Krimis, sogenannte «hardboiled literature», derer sich der Film Noir bediente. The Maltese Falcon etwa geht auf sein Konto. Und eine Strasse mit seinem Namen würdigt Hammett, ganz in der Nähe des zentralen Schauplatzes von The Maltese Falcon. Seine Arbeitsgebiete waren so vielfältig wie seine Fantasie, die er aus der Erfahrung seiner Zeit in der Detektivagentur Pinkerton schöpfen konnte. In seinen Romanen beschrieb er den amerikanischen Privatdetektiv als Antihelden, und schuf eine der bekanntesten Figuren des Film Noir: Sam Spade.
Eben dieser wird in The Maltese Falcon eines Nachts in die Burritt Alley an der Bush Street, auf der Höhe des Stockton-Tunnels, gerufen. Miles Archer, sein Partner, wurde hier ermordet und fällt im Film ins schwarze Nichts. Der Flaneur aber steht vor einer Sackgasse in hellstem Sonnenlicht und versucht sich vorzustellen, was hier passierte. Immerhin ist das Strassenschild in Hustons Regiedebüt deutlich sichtbar, und an der Strassenecke erinnert heute ein Messingschild an den Drehort. Ein Drehort, der de facto nie einer war, weil The Maltese Falcon komplett im Studio in Hollywood ausschliesslich mit Archivbildern gedreht wurde. Huston, der damals noch als Drehbuchautor arbeitete, musste dem Studioboss Jack Warner Szene für Szene seines Skripts abliefern, bevor dieser ihm erlaubte, den Film als seine erste Regiearbeit zu drehen. Dafür standen ihm fast nichts – ein Budget von 300 000 $ und sechs Wochen Zeit – zur Verfügung. Zwar könnte The Maltese Falcon in jeder anderen Grossstadt spielen, der Arbeitstitel von Huston, The Gent From Frisco, straft aber diese Vermutung Lügen. Genauso wie der Anfang des Filmes mit der Einblendung «San Francisco» den Schauplatz klar deklariert.
Eine Strasse weiter unten, an der Sutter Street Nr. 765 bei Jones, wohnt Nora Prentiss des gleichnamigen Filmes in den Belgravia Apartments. Im Gegensatz zum Falken wurde dieser Film auch tatsächlich vor Ort gedreht. Ann Sheridan als Nachtklubtänzerin Nora Prentiss beginnt eine Affäre mit dem Physiker Dr. Talbot, der seine Praxis ein paar Häuser weiter in Nr. 201 hat. Dr. Talbot ist der Schönen kaum gewachsen, fasziniert von ihrer nonchalanten Art, verarztet er sie nach einem Unfall. In eben jener Strasse, die die beiden verbindet, wird sie von einem Auto angefahren. Der brave Physiker wohnt mit seiner Familie in einem ruhigeren Stadtteil bei Presidio hinter der leuchtend roten Golden Gate Bridge, wo die Frauen der 1940er-Jahre noch wissen, was sie zu tun haben, um die heile Welt aufrechtzuerhalten. Downtown arbeitet er und wagt sich durch die Bekanntschaft mit Nora Prentiss eines Abends in das anrüchige Hafenviertel, die Fisherman’s Wharf, wo sich allerhand Sorten Menschen vergnügen. Immer grösser wird seine Faszination für Nora und immer länger die Abende, an der ihn seine Familie vermisst. «It’s a big city», erinnert sich der Flaneur an eine der Begründungen dafür.
Der Flaneur schlendert weiter, tastet sich langsam an eines der Herzen der Stadt, den Union Square. Langsam nähert er sich belebteren Strassen, wird von hektischen Einkaufstaschen aus dem Weg geschoben und riecht frische Bagels. An der Post Street Nr. 891 war es, wo Sam Spade in The Maltese Falcon wohnte, und tatsächlich Dashiell Hammett einen Teil seines irdischen Lebens verbrachte.
Der vergiftete Bigelo, der Protagonist aus D.O.A., dagegen logiert unweit davon in Zimmer Nr. 618 des St. Francis Hotel an der Powell Street Nr. 335 am Union Square. In jenen Tagen, an denen D.O.A. spielt, findet gerade die «Market week» statt. Um den Rausch seines Anti-Helden Bigelo zu verstärken, drehte Regisseur Rudolph Maté viele Szenen an Schauplätzen vor Ort. Das erklärt, warum Messegänger in Einstellungen des St. Francis Hotels durch das Bild rennen. Während die echten Messebesucher alterten, fallen die Strassenlaternen in Form von Weltkugeln aus edlem Glas und Messing noch immer auf. Der Flaneur entdeckt sie auch heute noch. Sie schmücken unterdessen den Eingang von Victoria’s Secret, einem Unterwäschegeschäft für junge Damen, die Heidi Klum verehren. Da verliert er sich lieber wenige Ecken weiter – am Strassenschild der Geary Avenue – an den Moment, als Sam Spade in The Maltese Falcon ein Ticket im Wert von 3,30 $ für das Geary Theatre findet.
Die Hektik rund um den Union Square kommt dem müden Flaneur ungelegen, schnellen Schrittes schreitet er über den Platz, der Francis Ford Coppola in seinem Neo-Noir The Conversation (USA 1974) faszinierte. Keine Zeit abzuschweifen, murmelt der Flaneur, rettet sich in die Sutter Street und sucht die Nummer 111. Er findet ein schmales Haus, eingeklemmt zwischen zwei grossen, und meint das Büro von «Spade & Archer’s Detective Agency» in The Maltese Falcon zu erkennen. Es passt perfekt zur schäbigen Ikonografie, die er sich für den schwarz-weissen Film Noir verinnerlichte. Unterdessen versorgt dort ein profaner Salat- und Saft-Take-Away die Hungrigen des Financial Districts. Doch ein Blick auf Stadtplan und Hausnummer belehrt eines Besseren: Das Büro befand sich damals im heutigen Geschäftshaus, das hoch und ernsthaft hinter dem Rücken des Flaneurs in den Himmel strebt. Erst auf den zweiten Blick hat er die Orientierung wieder und erinnert sich an die flackernden Neonlichter, die im Film den Hintergrund beleben. Die meisten der hohen Gebäude wurden erst in den 1970ern und 1980ern in den Himmel gezogen. Zu Spades Zeiten waren es einige weniger, was ihm den Blick von seinem Büro auf die Oakland Bay Bridge ermöglichte.
Der Financial District leert sich langsam und die heimstrebenden Broker machen der heranschleichenden Dunkelheit Platz. Dorthin lädt Dark Marc den Flaneur zu einer der Vorführungen des «Danger & Despair Knitting Circle», der regelmässig Film Noirs an geheimen Orten zeigt. Die Instruktionen, die in letzter Minute per E-Mail kamen, sind mehr als mysteriös. Die Screenings finden jeweils an geheimen Orten in Downtown San Francisco statt. Nur auf Anfrage wird der Ort bekannt gegeben. Nicht etwa, weil sich der Klub in jene paranoide Zeit zurückversetzt fühlt, sondern weil er schlicht nicht die Urheberrechte bezahlen könnte. «Underground guerilla» nennt Robert Marion, einer der Organisatoren, diese Taktik. Den geheimen Ort lokalisiert Dark Marc im City Club an der Sansome Street Nr. 155. In der Lobby gebe der Concierge weitere Hinweise. So beginnt der Weg in die Vorführung abenteuerlicher als jeder Gang ins Kino. Der Financial District in San Francisco wirkt nach dem Eindunkeln noch düsterer und verlassener als die anderen Bezirke. Der Schritt in die – allerdings ebenfalls dunkle – Lobby fällt leicht. Dort sitzt inmitten schweren Marmors und dunkelbraunen Teakholzes hinter weissen Lilien ein Concierge wie einst 1940. Dieser schickt einen elf Etagen höher, wo das Publikum kein Popcorn grabscht, sondern distinguiert Cocktails trinkt.
Inmitten der selig lächelnden Gesichter, die sich angestrengt lauschend nach vorne recken, steht ein Projektor und zeigt, wonach die Gemüter sich sehnen: Ride the Pink Horse von 1947 mit Robert Montgomery und Wanda Hendrix. Die Mitglieder des «Danger & Despair Knitting Circle» haben sich wie für einen Opernbesuch zurecht gemacht, auffallend wenig Zuschauer sind jünger als 35. Ein älterer Stammgast kommt mit einem Bild von Wanda Hendrix und schwärmt aufgeregt «This is a masterpiece of her!», was die Umstehenden nickend bestätigen. Genanntes Meisterwerk ist eine Vintage-Kopie, die alleine des Materials wegen den Zuschauern das Gefühl gibt, eine Rarität zu sehen. Und der City Club im Art-déco-Stil verstärkt das Gefühl, in jene Zeit gerutscht zu sein. Auch Sam Spade ist anwesend, wacht während der knatternden Projektion über die Zuschauer und analysiert aufmerksam das Spiel seiner Kollegen auf der Bildwand. Ärgerlich nur, dass der gezeigte Film nicht in San Francisco, sondern einige Kilometer südlich spielt.
Den Gang weiter Richtung Osten zu den Piers verschiebt der Flaneur auf morgen. Zu unheimlich sind ihm die mittlerweilen vollends verlassenen Strassen, als er nach der Vorführung wieder nach draussen tritt. Erschöpft zieht er sich zurück in sein Zimmer im Hotel Saint Paul, das auch Sam Spade gemocht hätte. Der Gang von der schicken Lobby mit frischem Blumenduft in die langen Korridore zu den schweren Teppichen und der geflickten Holzverkleidung erzählt Geschichten im Kleinen. Vielgereiste logieren hier, genauso wie verzweifelte Wohnungssuchende, die regelmässig ein- und auschecken.
Nächstentags zeigt sich der Embarcadero, der grosszügige Boulevard zwischen Financial District und Pier, tropisch. Dominierte im Hintergrund nicht die schwere Oakland Bay Bridge das Bild, man wähnte sich in Havanna. Eine Allee mit Palmen ziert die Geleise der blechernen Strassenbahnen aus den 1950ern, die hier wenden. Hinter den Markthallen des Ferry Buildings bleibt der Flaneur enttäuscht stehen. Die hektische, mit den Düften der weiten Welt durchtränkten Atmosphäre des Marktes wie in Thieve’s Highway (Jules Dassin, USA 1949) ist nicht mehr. Vielmehr ist die Atmosphäre portioniert in sterilen Plastik eingeschweisst und mittlerweile «organic». Keine Spur mehr vom Sündenpfuhl, der Frank Bigelo in D.O.A. in der namenlosen Bar am Embarcadero vergiftete.
Bleibt dem Flaneur kaum was anderes übrig, als die Flucht nach vorn zu ergreifen. Auf dem Weg Richtung Chinatown, in der Senke zwischen Telegraph Hill und Nob Hill, blickt er hoch zu den Brocklebank Apartments, die stolz auf Nob Hill thronen. Vor seinem inneren Auge sieht er den eleganten Sessel im Bayview Apartment von Impact. Walter Williams Frau räkelt sich darin und überlegt, wie sie ihren Mann am einfachsten abservieren könnte. Die atemberaubende Aussicht auf die Bay Bridge und die Bucht von San Francisco blitzt dort hinter den Vorhängen. Ahnungslos geht Walter William auf den Vorschlag seiner Ehefrau ein, der ihn um sein Leben bringen soll. Später führt die Suche nach einer Zeugin, der ehemaligen Haushälterin der Williams’, nach Chinatown, in schmale Strassen und enge Treppenhäuser. Diese Gedanken führen den Flaneur zu den acht Strassenzügen in Chinatown. Hier entlarvt – ebenfalls in Impact – der Wortwechsel zwischen dem ermittelnden Kommissar Quincy und dem Onkel der chinesischen Haushaltshilfe damalige Vorurteile:
Quincy: Are you Ah Sing? (Sind Sie Ah Sing?)
Quincy: Understand? (Verstehen?)
Ah Sing (nickt)
Quincy: You study English? (Sie lernen Englisch?)
Ah Sing: Also French, Italian, and Hebrew. May one ask what is desired? (Auch Französisch, Italienisch und Hebräisch. Darf man fragen, was gewünscht wird?)
Chinatown eignet sich als Setting für Verbrechen und Klischees besonders, bietet neben den engen Sackgassen genügend exotische Eindrücke für eine mysteriöse Atmosphäre. Der Stadtteil rund um die Grant Avenue beheimatet die grösste chinesische Gemeinde ausserhalb Asiens. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts suchten viele Chinesen wegen grossen und kleinen Katastrophen ihr Glück in «Gum San», dem Goldenen Berg, wie die Chinesen Amerika bezeichneten. Ein Augenschein vor Ort versetzt auch knapp 60 Jahre nach Chinatown at Midnight (Seymour Friedman, USA 1949) in die gleiche Atmosphäre. Pagoden schmücken die Dächer und chinesische Laute dominieren den Strassenlärm. Noch immer steht an der Washington Street Nr. 743 (Ecke Grant Avenue und Kearny Street) das Telephone Exchange Building, das für jenen Film als Kulisse diente und heute eine Filiale der Commercial Bank beherbergt.
Vincent Parry wird beim ersten Mal von der ebenso schönen wie selbstbewussten Irene Jansen auf den Telegraph Hill gefahren. Beim zweiten Mal schleppt er sich mit bandagiertem Kopf und letzten Kräften die steilen Filbert Steps hoch. Heute blühen dort links und rechts üppige, tropisch anmutende Gärten und strafen den Schwarz-weiss-Film Lügen. Parry dürfte dafür sowieso keinen Blick gehabt haben. Einziges Ziel für ihn ist Irenes Apartment an der Montgomery Street Nr. 1360 (The Malloch Apartment Building). Natürlich ist ihr Zuhause ein schönes, wenn es auch später die Klaustrophobie und Ausweglosigkeit von Vincent betonen wird. Fast ist der Flaneur am Ziel, steht schon unterhalb des Coit Towers, da fällt ihm die sorgfältig herausgeputzte Fassade auf, erinnert sich an Irvin Goldstine und Jack S. und J. Rolph Malloch, die dem Gebäude Name und Stil gaben. Betrachtet die grünen Pflanzen, die adrett das offene Foyer des Gebäudes zieren. Die Glasfront und der transparente Lift liessen Delmer Daves Variationen mit Licht und Schatten spielen. Der Flaneur denkt an den Art Deco City Club, in dem er gestern war, und schätzt das Haus auf Ende der 1930er-Jahre.
Kaum oben beim Coit Tower angekommen, legt sich plötzlicher Nebel wie eine Decke über die Stadt. Hüllt zuerst die knapp drei Kilometer der Golden Gate Bridge ein und gleich darauf die Bay Bridge. Ungläubig steht der Zuspätgekommene vor dem Fernrohr, das sich langsam mit Feuchtigkeit beschlägt. Als ob sich ein Schleier über die Erinnerung legen würde, romantisiert der Flaneur seinen Ausflug durch das Gedächtnis der Stadt. Schüttelt den festen Griff Sam Spades von seiner Schulter, wendet sich ab und stürzt sich in die lebendige Gegenwart von Little Italy am Fusse des Telegraph Hill.