Die tragischsten Geschichten schreibt das Leben selbst. Dies bewahrheitet sich einmal mehr im Fall von José Antonio Gutierrez, dessen Werdegang die Filmemacherin Heidi Specogna in ihrem jüngsten Dokumentarfilm nachzeichnet, und der sich wie ein Beispiel aus einem Lehrbuch über den Weltimperialismus liest. Im Zentrum steht, wie der Titel besagt, José Antonio Gutierrez, der Anfang der Achtzigerjahre in Guatemala geboren und – nachdem sein Vater in den Wirren des Bürgerkriegs verschwand und seine Mutter starb – zum Strassenkind wurde. Zwar landete er immer mal wieder in einer der Auffangeinrichtungen – er büxte aber auch immer wieder aus und brach unverhofft eines Tages auf, um Richtung Norden, ins verheissene Land, die USA, zu gehen. Gutierrez hatte Glück: Er trotzte den Gefahren und landete heil in den Staaten, wo er als Minderjähriger sogar in den Genuss von Förderprogrammen kam. Volljährig geworden, sah er seine Chance im soeben ausgerufenen Irak-Krieg: Bush versprach den Greencard-Besitzern, die sich anmustern liessen, eine beschleunigte Einbürgerung. So wurde José Antonio zum US-Marine und zog in den Irak. Allerdings nur, um wenig später zum allerersten Opfer dieses Kriegs zu werden, und das im Dienst einer Nation, die ihn noch nicht einmal eingebürgert hatte.
Heidi Specogna skizziert die Biografie dieses tragischen Helden ohne jeglichen ideologischen Überbau. Wozu auch? Die Geschichte setzt sich fast ausschliesslich aus Episoden zusammen, die dem Zuschauer das bis heute herrschende Herrschafts- und Wohlstandsgefälle, das einem solchen Schicksal zugrunde liegt, deutlich genug vor Augen führen. So begnügt sich die Filmemacherin damit, den Stationen von Gutierrez’ Leben nachzugehen und die Menschen zu befragen, denen José Antonio auf seinem Weg begegnete: etwa die Sozialarbeiter in Guatemala City oder Josés Schwester, die – auch dies eine Ironie der Geschichte – dank ihm die amerikanische Staatsbürgerschaft erlangte und in die USA ausgewandert ist. Aber auch der Armeevorgesetzte des Protagonisten, Marc Montez, kommt zu Wort und muss zerknirscht eingestehen, dass vermutlich Kugeln eigener Leute – das ominöse «friendly fire» – für den Tod des jungen Marine verantwortlich sind. Oder der von seinen Kriegserfahrungen sichtlich gezeichnete Marine Miguel Perez, der den Todeskampf des Kameraden «Guti» im Feldlazarett miterlebte und für den «die Dinge nie mehr so sein werden, wie sie waren».
Heidi Specogna gelingt in ihrem Film eine ausgewogene Mischung aus Reportage über einen Lebensweg, den José Antonio exemplarisch für viele andere auf der Suche nach einem besseren Leben gegangen ist, und einer Hommage an dessen Person. Zu dem umsichtigen Porträt trägt nicht zuletzt die schöne Kameraarbeit von Rainer Hoffmann bei, der schon fünf Filme mit Specogna drehte, darunter auch Tania la Guerillera (D/CH 1991) über eine kubanische Revolutionärin, Deckname: Rosa (1993) über eine Schweizer Spionin der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg oder Tupamaros (D/UY/CH 1997) über die gleichnamige uruguayanische Stadtguerilla. Schon diese Auswahl aus Specognas Filmografie zeigt, dass ihre Filme mehrheitlich eine Biografie zum Angelpunkt haben, anhand derer sie gleichzeitig ein Stück brisante Zeitgeschichte aufarbeitet. In Specognas bisherigem Schaffen ist Das kurze Leben des José Antonio Gutierrez zweifellos das gelungenste Werk und wurde unter anderem mit dem Schweizer Filmpreis 2007 als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet.