Schroffe Gebirgsspitzen im Nebelmeer. Sanftes Dämmerlicht. Jauchzer und Jodel, die sich wie ein unsichtbarer Schleier darüber legen und in samtigem Echo nachklingen. «Gibt es ein schöneres Bild für die Schweiz», fragt Christian Zehnder, «als wenn ich singe und der Berg antwortet?» Und fügt hinzu, dass man eigentlich gar nicht anders könne, als auf so eine gewaltige Landschaft stimmlich zu reagieren. Sonst wür- de man sie nämlich gar nicht aushalten.
Vielleicht liegt dort denn auch der eigent- liche Ursprung des Jodelns – und erst an zweiter Stelle im Kommunizieren zwischen abgele- genen Alpen oder im Sammelruf für das Vieh. Zehnder, der mit Balthasar Streiff (Alphorn und Büchel) als Duo Stimmhorn auftritt, ist auf der Suche nach den eigenen Wurzeln auf dem Urgrund stimmlicher Improvisation gelandet. Jodeln, Jauchzer und Obertonsingen dem er auch in der fernen Mongolei nachspürt verbindet er mit dem experimentellen Ausloten des gesamten Stimmrepertoires. Dabei verwandelt er seine Auftritte zu eigentlichen dramatischen Aufführungen und nimmt uns mit ungeheurer mimischer Expressivität mit auf seine Klangreisen: Ganz ohne Worte erzählt er Geschichten voller Abenteuer und Emotionen, voller Spannung und Schalk, erschütternd und erheiternd zugleich.
Christian Zehnder ist eine der drei Mu- sikerpersönlichkeiten, die Stefan Schwietert (Accordion Tribe, A/CH 2004, A Tickle in the Heart, D/CH 1996) in seinem neusten Musikfilm Heimatklänge porträtiert. Darin spürt der Filmemacher wie bereits in Das Alphorn (D/CH 2003) dem neuen Umgang mit alpenländischer Musiktradition nach. Dafür steht auch Erika Stucky. Die mitten in die Flower-Power-Bewegung in San Francisco hinein- geborene Vokalistin zog mit ihren Schweizer Eltern später in ein kleines Walliser Dorf. Ein Kontrastprogramm, das nachwirkt. Bis heute wohnen zwei Seelen (versöhnt, wohlgemerkt!) in ihrer Brust eine unverschämt extrovertierte à l’américaine und eine versponnen-hintersinnige à la valaisanne. Die Stimmakrobatin ist schon in den verschiedensten Formationen aufgetreten und Gattungs-Vagabundin: Von Jodeln bis Jazz bricht und vermischt sie Traditionen und Konventionen mit Lautmalerischem wie Babyweinen oder Vogelgeschrei. In ihren Bühnenperformances zeigt sie ihr ganzes Können, wenn sie zwischen feiner Poetin und polternder Diva pendelt.
Als Dritter im filmischen Bunde porträtiert Heimatklänge den zurückhaltenden Noldi Alder: den jüngsten Spross einer Volksmusikdynastie aus dem Appenzellerland. Von Klein auf trat der virtuose Geiger mit seinen Brüdern den Alder-Buebe in traditioneller Formation auf, bis er sich daraus löste und einen experimentellen Weg einschlug. Ungebunden und uneingeschränkt schöpft auch er seither seine Inspiration aus der Tradition, die er aber intuitiv und im unmittelbaren Dialog mit Natur und anderen Musikern virtuos verknüpft und variiert.
Heimatklänge dokumentiert nicht nur eindringlich die Musik dieser drei Interpreten der Film nähert sich auch einfühlsam seinen Figuren, die aufgrund eigener Erfahrungen einen Resonanzraum für grundsätzliche Fragen schaffen, die über ihre individuellen Persönlichkeiten hinausgehen: Etwa wenn es um Heimat, Selbstfindung, Inspiration, Leben und Tod geht. Die aussergewöhnliche Musik findet ihre Entsprechung in einer aussergewöhnlichen Bildgestaltung (Kamera: Pio Corradi): Teils zurückhaltend, teils imposant, fügen sich die Bilder manchmal kontrapunktisch, manchmal synchron zu der experimentellen Klangspur. Landschaftsaufnahmen vermischen sich mit Archivmaterial, Digitalkamera mit körnigem Super 8, und schaffen so eine variationsreiche Synthese zwischen sperrig-skurril und emotional-melodiös. Ein wirklich eindrückliches Klang-Bild-Erlebnis.