RENÉ MÜLLER

GERHARD MEIER – DAS WOLKENSCHATTENBOOT (FRIEDRICH KAPPELER)

SELECTION CINEMA

Friedrich Kappeler hat bereits 1995 einen Dokumentarfilm über das Leben und Werk des Schriftstellers Gerhard Meier realisiert: Gerhard Meier. Die Ballade vom Schreiben. Kurz danach ist Meiers Lebensgefährtin Dora gestorben. Über 60 Jahre waren die beiden ein glückliches Paar. Nach Jahrzehnten der trauten Zweisamkeit ist Gerhard Meier nun allein, ein neues Kapitel beginnt in seinem Leben. In dieser einsamen Zeit entsteht der Text Ob die Granatbäume blühen (2005). Der Dichter nimmt darin Abschied von seiner geliebten Frau. Bewegt von dem Buch hat Kappeler den Schriftsteller nochmals getroffen, um ihn in seiner neuen Lebenssituation mit der Kamera zu begleiten. Daraus ist Gerhard Meier – Das Wolkenschattenboot entstanden.

«Ich möchte als Schatten gelten in diesem Film und den Text hervortreten lassen», erwähnt der inzwischen 90-jährige Gerhard Meier beiläufig zu Beginn der Dokumentation. Meier meint sein Werk «Ob die Granatbäume blühen»: «Denn das ist wohl mein existenziellster Text. – Doch bei den Schreibern ist es ja immer so, dass das letzte Buch einem am nächsten ist.» Der Wittwer evoziert darin schöne Momente mit seiner Lebensgefährtin Dorli und verwebt diese mit künstlerischen Inspirationsquellen wie Nietzsche, Proust, Tolstoi.

Zusammen mit Kappeler kehrt Gerhard Meier an Orte des Eheglücks zurück. So etwa in den Garten des Palazzo Salis in Soglio. Ein Garten, der schlichte Poesie sei – ein Refugium für Paradiesvögel, Schreiber, Maler und Musiker. Im Schatten des Mammutbaums verbrachte das Paar viele Sommerstunden – lesend, schreibend, diskutierend. In kontemplativen, ausserordentlich sorgfältigen Bildern fängt Kameramann Pio Corradi die betörende Stimmung dieses Ortes ein. «Die du in den Gärten wohnst, lass mich deine Stimme hören», zitiert den Gärten und gehen in die Gärten – und zwischendurch jäten wir ein bisschen in dem einen oder anderen Garten.»

Dann sieht man, wie die feingliedrige Hand des Greisen behutsam über eine Hecke fährt. Solche taktilen Momente kommen in Gerhard Meier – Das Wolkenschattenboot immer wieder vor, sie werden zu einem sanften Leitmotiv. Meier pflegt ein sehr körperliches Verhältnis zu den Orten, die ihm ans Herz gewachsen sind, er scheint sie mit seinen Berührungen geradezu verinnerlichen zu wollen.

Ein grosser Teil von Gerhard Meier – Das Wolkenschattenboot besteht aus Aufnahmen aus Kappelers erstem Film über den Schriftsteller. Der Filmemacher hat sie aber überarbeitet, gekürzt oder ergänzt. Dorli, eine aufgeweckte und bodenständige Frau voller Zuversicht und Elan, ist in diesen früheren Aufnahmen stets sehr präsent – umso deutlicher wird die Leerstelle, die sie im Leben von Gerhard Meier hinterlässt. Besonders nah geht die Sequenz, in der sie von ihrer selbstlosen Arbeit an einem Kiosk erzählt, um ihrem Mann das schriftstellerische Schaffen zu ermöglichen.

Der Dokumentarfilm Gerhard Meier – Das Wolkenschattenboot ist nicht nur ein aufschlussreiches Porträt eines wenig bekannten Schweizer Dichters, sondern auch ein berührendes Kleinod über die Kraft der Liebe und der Kunst.

René Müller
*1977, Studium der Filmwissenschaft, Publizistik und Neueren Deutschen Literatur in Zürich und Paris. Er ist beim Migros Museum für Gegenwartskunst für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. Von 2007 bis 2012 Redaktionsmitglied von CINEMA.
(Stand: 2014)
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