All of my dreams are short films. Feature filmmakers, novelists, the heads of multi-national corporations are different. When they lie asleep they have a single dream lasting the whole night.
Mike Hoolboom (2001, New York)
Der kanadische Avantgardefilmemacher Mike Hoolboom stellt sich Kurzfilmemacher als Menschen mit eigenständiger Lebensphilosophie vor: Geboren, um mit der Kürze zu experimentieren, sowie ständig auf der Suche nach neuen Formen. Betrachtet man das einheimische Kurzfilmschaffen, merkt man schnell, dass sich die Kurzfilmszene gerade deshalb nicht einfach fassen lässt. Sie ist – hier wie anderswo – ein Konglomerat aus verschiedenen Filmszenen und so vielfältig wie die ganze Bandbreite des bewegten Bildes: Experimentalfilme, Musikvideos, Animationen, Videoinstallationen, ethnografische Werke, Kostümfilme, Stummfilme, Mockumentaries, Road Movies (um nur einige zu nennen). Der gemeinsame Nenner bildet nur die zeitliche Definition. Getreu dem Motto: Was ein Kurzfilm ist, sagt mir meine Uhr.
Kurzfilme werden an vielen Schweizer Filmfestivals gezeigt. Die Festivals bieten eine Plattform, um den Kurzfilm erst als eigenständige Kunstform wahrnehmen zu können und spüren Tendenzen in der Arbeit mit dem kurzen Format auf. Jedes Filmfestival präsentiert die kurzen Formate gemäss seiner eigenen Ausrichtung: Solothurn konzentriert sich auf das Einheimische, Fantoche auf das Animierte, Nyon auf das Dokumentarische und die Videoex auf das Experimentelle. Das Filmfestival Locarno hat zum Ziel, den Film-Leoparden von Morgen zu entdecken; hier werden junge Filmemachertalente präsentiert, die meistens schon mit einem Auge auf den abendfüllenden Spielfilm schielen. Kurzfilmfestivals wie die Internationalen Kurzfilmtage Winterthur zeigen Kurzes über alle Genregrenzen hinweg. All diese Festivals ermöglichen einen Überblick über die sonst separierten Kurzfilmszenen. Dies provoziert jedoch auch immer wieder die Kritik, Kurzfilmfestivals funktionieren nach einem Gemischtwarenladen-Prinzip. Doch unbestritten ist, dass Kurzfilmprogramme an Festivals dem Zuschauer ermöglichen, Neues zu erforschen und mit den Filmemachern direkt in Kontakt zu treten. Anhand der Schweizer Filmeinreichungen an den Festivals und der daraus getroffenen Auswahl lässt sich ein Bild über die einheimische Kurzfilmproduktion machen. Der Kurzfilm wird in der Schweiz vor allem als Sprungbrett für Jungtalente wahrgenommen. Grösstenteils entstehen diese Kurzfilme in einem institutionalisierten Kontext, als Übung oder Abschluss an Kunstschulen. Hierunter fallen die Diplomfilme von Studierenden kantonaler Kunsthochschulen, die ihren Kurzfilm als Visitenkarte verstehen, um sich so für spätere Auftragsarbeiten im freien Filmdschungel zu empfehlen. Oder sie stammen aus dem Umfeld von etablierten oder aufstrebenden Produktionsfirmen, die sich die Finanzierung ihrer Projekte immer wieder aufs Neue erkämpfen müssen. Solchen freien Projekten bleibt einzig der Gang durch die Förderungsselektionen des Bundes, von kantonalen oder privaten Kulturstiftungen oder des Schweizer Fernsehens.
Was in der Schweiz fehlt, sind passionierte Kurzfilmemacher à la Hoolboom, die an die kreativen Möglichkeiten dieser Ausdrucksform glauben. Die Finanzierung eines Featurefilms ist hierzulande trotz strukturellen Verbesserungen immer noch sehr schwierig. Oft weichen Schweizer Filmemacher auf das kurze Format aus und hoffen, dann von Geldgebern für ein Langfilmprojekt entdeckt zu werden. Das Geld für einen Kurzfilm aufzutreiben, ist nicht unbedingt einfacher – doch es gibt Improvisationstalenten mehr Spielraum. Kurzfilme sind wegen geringerer Kosten unabhängiger vom Markt und deshalb thematisch wie formal freier. Doch viele Filmemacher nutzen diese Freiheiten der kurzen Form gar nicht. Sie orientieren sich lieber am Langspielfilm und versuchen sich an Geschichten, die sich in der Kürze nicht entwickeln können. Es fällt auf, dass Regisseure der jüngeren Generation aneckende Themen meiden. Die Stimmung an den Schweizer Kunstschulen hat sich weitgehend entideologisiert und der Mut für das formale Experimentieren ist in den Hintergrund getreten. Harmlose, aus dem Leben gegriffene Geschichten haben hingegen Hochkonjunktur. Das Individuum mit seinen alltäglichen Problemen rückte in den letzten Jahren in den Mittelpunkt des Kurzfilmschaffens. Polarisierendes wird gestrichen, Geschichten schön, aber kantenlos inszeniert. Damit gibt das junge Schweizer Filmschaffen einen Trumpf des Kurzfilms aus der Hand. Experimentierfreudig und unbequem könnte es viel mehr Aufmerksamkeit erregen. Unabhängige Kurzfilmprojekte mit gesicherter Finanzierung wie die Plattform Agent Provocateur weisen in eine richtige Richtung. Sie zeigen neue Facetten des engagierten Kurzfilms auf, indem sie ihre Inhalte in einer Form präsentieren, die an Werbespots erinnert. Sie brechen dadurch mit Wahrnehmungsgewohnheiten und filmischen Konventionen. Und doch folgen Agent-Provocateur-Filme dem ungeschriebenen Gesetz: Je kürzer, desto klarer müssen Kurzfilme eine Idee vermitteln. Während der halbstündige Dokumentarfilm Zeit zum Entwickeln und Porträtieren seiner Thematik findet, muss der Werbefilm seine Botschaft in wenigen Sekunden platzieren. In dieser Spannbreite können Kurzfilme radikal und subjektiv sein sowie mit neuen Themen oder Formen experimentieren. Die neuen Möglichkeiten zur Verbreitung warten auf überraschende Inhalte, um so ein breiteres Publikum erreichen zu können.
Mögliche Wege für den Gang des Kurzfilms aus dem Nischendasein an die breite Öffentlichkeit wären vorhanden. Die Verbreitungsmöglichkeiten haben sich erheblich verbessert und sind nicht nur von Filmfestivals abhängig. DVD-Kompilationen1 sind ein möglicher Vertriebsweg, der für den Schweizer Kurzfilm an Bedeutung gewinnt. Auch auf Schweizer Internetportalen2 lassen sich mehr Schweizer Kurzfilme bestellen als früher im Videoladen um die Ecke. Mit Sponsoring beteiligt sich die Wirtschaft immer mehr an Kurzfilmprojekten. Autofirmen sponsern einen Kurzfilm-Award. Elektronikunternehmen fördern Handyfilm-Preisausschreiben. Telekommunikationsfirmen unterstützen Kurzfilmnächte im Openair-Kino. Die Kurzen bekommen ein jugendliches Image verpasst. An dieser Entwicklung ist die digitale Entwicklung nicht ganz unschuldig. Was früher auf einer Super-8-Rolle auf dem Dachboden verstaubte, wird nun sofort in die Welt des World Wide Web eingespeist. Das You-Tube-Phänomen boomt. Auf Internetseiten werden jegliche filmische Eigenproduktionen hochgeladen. So feiert das Amateurfilmschaffen Hochkonjunktur. Ob Kunststück der Nachbarskatze, Trampolinunfall seiner Nichte oder Tortenschlacht an der Hochzeit – heutzutage ist jeder sein eigener Kurzfilmemacher. Denn alle besitzen – dank Handy, digitaler Foto- und Filmkamera – die Möglichkeit, bewegte Bilder zu produzieren.
Vom Schweizer Kurzfilmschaffen werden diese Verbreitungsmöglichkeiten noch zu wenig genutzt. Welches Potenzial im Bereich der Kurzfilmauswertung steckt, zeigt ein Blick auf Deutschland. Neben der Entwicklung von neuen Onlineportalen3 für den Kurzfilm finden in unserem Nachbarland einflussreiche Kurzfilmfestivals statt. Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen oder das Internationale Kurzfilmfestival Hamburg verleihen, im Vergleich zur schwerfälligen Berlinale, der deutschen Festivallandschaft Impulse. Zudem werden neue Vorführungskanäle ausgelotet: Filmwettbewerbe für Handyfilme oder Musikvideos, Vorführungen der Kurzfilme an Hauswänden im Hamburger Programm The Wall Is a Screen, Stummfilme auf den Screens in der Berliner U-Bahn. Diese Präsentationsformen werden keine grossen Revolutionen in den Sehgewohnheiten des Publikums auslösen, doch man spürt die Neugier am Entdecken des Neuen. Dies ist bei der schweizerischen, staatlichen Förderungspolitik momentan nicht zu erkennen. Die Filmförderung des Bundes zwängt den Kurzfilm in das Korsett des Kinovorfilms, wie dies schon in den Siebzigerjahren gang und gäbe war. So wird der Erfolg eines Kurzfilms abhängig von den Kinoeintritten seines Featurefilms und die Länge auf weniger als fünf Minuten beschränkt. Der Ansatz, Filmproduktionen zu fördern, die bei der Konzeption auch schon an die Auswertung denken, ist sicher löblich. Klar muss man sein filmisches Produkt anders produzieren, wenn man es später an einem Experimentalfilmfestival zeigen will, als wenn der kurze Film als Vorfilm eines Blockbusters laufen soll. Die Entscheidung, ob eine aussagekräftige Geschichte fünf oder fünfzehn Minuten braucht, hängt immer noch stark vom Inhalt ab und nicht von einer vorgegebenen Form oder Auswertung.
Deshalb ist es wichtig, stets nach neuen Plattformen zu suchen. Es sollte ein Nährboden für kreative Kurzfilmkultur entstehen, die solche Plattformen mit Inhalten füllen will. Bleibt zu hoffen, dass es auch in der Schweiz eine wachsende Anzahl Filmemacher gibt, die nur von Kurzfilmen träumen. Denn was früher nie genug war, kann heute nie zu wenig sein.