LAURA DANIEL

REISSSCHWENK IM POSTKARTENIDYLL — EIN GESPRÄCH MIT FILIP ZUMBRUNN

ESSAY

2005 wurde Filip Zumbrunn für seine Kameraarbeit im Langstrassen-Krimi Strähl (Manuel Flurin Hendry, CH 2004) mit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnet. Daneben gehören Grounding (Michael Steiner, CH 2006) und Fuori dalle corde (Fulvio Bernasconi, CH/I 2007), der als einziger Schweizer Beitrag im Wettbewerb des 60. Filmfestivals von Locarno lief, zu seinen bekanntesten Arbeiten. Erst kürzlich hat Zumbrunn die Dreharbeiten zu Marcello, Marcello [Arbeitstitel] (Denis Rabaglia, CH 2008) beendet. Neben diesen Langspielfilmen hat der Autodidakt aber auch bei diversen Werbe-, Kurz- und Dokumentarfilmen die Kamera geführt. Filip Zumbrunn lebt mit seiner Frau, der Regisseurin Christine Wiederkehr, und seinen beiden Töchtern in Zürich, wo er nebst seiner Arbeit als Kameramann auch die Bars Acapulco und Mata Hari betreut, die er mitbegründet hat.

Folgendes Gespräch wurde im Oktober 2007 in Zürich geführt.

Laura Daniel: Filip, könntest du zu Beginn kurz schildern, woran du zurzeit arbeitest?

Filip Zumbrunn: Ich bin gerade an einem längerfristigen Projekt, nämlich dem Umzug meiner ganzen Familie in ein Haus, das wir gemeinsam mit einigen Filmfreunden gekauft haben. Abgesehen davon, arbeite ich momentan viel für die Werbung sowie an einem Dokumentarfilm über den verstorbenen Regisseur Daniel Schmid. Das ist ein Projekt von Pascal Hofmann und Beni Jaberg, die mit diesem Dokumentarfilm ihren Master an der Hochschule der Künste machen und dafür Koproduzenten gewinnen konnten, sodass daraus ein abendfüllender Kinofilm wird. Sie machen die Recherchearbeiten und die gesamte Arbeit mit dem Archivmaterial selbst, wollten aber jemanden, der die Interviews professionell filmt. Ich werde für diese Interviews zuständig sein. Gedreht wird im Oktober, November dieses Jahres, erscheinen wird er wohl erst im nächsten Jahr.

Du hast erst vor kurzem die Dreharbeiten von Denis Rabaglias Marcello, Marcello beendet. In welchem Stadium befindet sich dieses Projekt?

Die erste Schnittversion wurde vor einem Monat abgeliefert und ist nicht gut angekommen. Sie war zu sehr auf den Plot ausgerichtet, ganz knapp gehalten und wirkte dadurch nicht gerade atmosphärisch. Es wurde kein Schwerpunkt auf die Kinematografie gelegt, sondern auf die Story, eher wie bei einem TV-Movie. Für uns war aber von Beginn an klar, dass es sich bei diesem Film in erster Linie um eine poetische Geschichte handelt. Der Zuschauer soll diese Filmfiguren, die im Süditalien der Fünfzigerjahre leben, gern bekommen und sich mit ihnen wohlfühlen. Bei der zweiten Schnittversion wurde nun mehr Raum für den Vorlauf, Nachlauf und für Emotionen und atmosphärische Bilder geschaffen. Diese hat nun sowohl den internen und externen Zuschauern gefallen.

Die Drehbuchvorlage evoziert starke Bilder oder Vorbilder. Ich denke da an Il Postino (Michael Radford, I/F/BE 1994) oder an Cinema Paradiso (Giuseppe Tornatore, I/F 1988), also an das Italien einer Postkartenidylle. War dieses «Bilderbe» für dich als Kameramann eine Bürde?

Es war viel eher eine Herausforderung. Ich habe mir natürlich all die Filme angesehen. Einerseits eben jüngere Filme, die im Italien der Fünfzigerjahre spielen, aber auch Filme aus den Fünfzigerjahren, wobei es relativ schwierig ist, sich an letzteren zu orientieren. Seither ist technisch und ästhetisch so viel passiert. Denis Rabaglia und ich wollten uns für Marcello, Marcello nicht zu stark auf diese Filme beziehen und ihre schöne, aber fast schon «langweilige» Bildsprache weitertragen. Wir haben uns deshalb vorgenommen, diese italienische Idylle mit Stilmitteln aus der asiatischen Filmwelt aufzumischen. Elemente aus Kung-Fu-Filmen zum Beispiel, Reissschwenke und eine möglichst bewegliche Kamera, die mit den Menschen mitrennt. So wird durch das Bild eine völlig andere Dramaturgie transportiert und der Geschichte wird Tempo verliehen.

Wir haben den Film in vier Blöcke unterteilt, die sich in ihrer Bildsprache dramaturgisch unterscheiden. So beginnt der Film relativ gemächlich mit vielen Kranfahrten und der Kamera auf dem Dolly. Im zweiten Block steigt die Kamera von ihrem festen Untergrund ab und bewegt sich auf der Ebene der Figuren. Hier habe ich eine Handkamera gewählt, jedoch immer noch ab Dolly. Im dritten Block rennt die Hauptfigur Marcello nur noch und ich mit der Kamera hinterher. Am Ende, als sich schliesslich alles auflöst, kehrt die Kamera wieder zu ihrem Ursprung zurück, nämlich auf festen Untergrund und damit in ihre eher beobachtende Position – zur Ästhetik der Postkartenidylle.

In der ersten Schnittversion wurde diese Gliederung nicht berücksichtigt, sodass einzelne Sequenzen aus den verschiedenen Blöcken vermischt wurden. Ich erwarte nicht, dass mein Kamerakonzept dem Zuschauer auffällt, aber es wäre schön, wenn unsere Idee mindestens unbewusst wirken würde.

Wie stark bist du in die Postproduktion involviert?

Normalerweise werde ich nicht so stark involviert, ausser der Regisseur ist an meiner Meinung interessiert. Allerdings achte ich darauf, dass ich bei der Lichtbestimmung dabei sein kann, und baue in Verträgen sogar eine Klausel ein, dass ich eine Vertretung bestimmen darf, falls ich nicht dabei sein kann. Denn heutzutage kann man einem Projekt in dieser Phase noch einen grossen kreativen Schliff verleihen. Früher erhielt man die Filmmuster und konnte diese höchstens noch ein wenig dunkler machen, leicht einfärben oder aufhellen. Aber ansonsten waren sie so, wie der Film im Grossen und Ganzen aussehen würde. Heute sparen wir lieber Zeit am Set – was natürlich auch Erfahrungssache ist – und entscheiden uns bereits beim Dreh dazu, gewisse Effekte erst in der Postproduktion zu erzeugen, anstatt damit Zeit zu verlieren, ein gewisses Licht zu erzeugen etc. Heute versucht man, ein möglichst sauberes neutrales Negativ herzustellen, das einen möglichst grossen Spielraum für die Postproduktion ermöglicht.

Welchen Look möchtest du denn erzeugen?

Das ist völlig projektbezogen. Bei Grounding oder Strähl haben wir versucht, sämtliche warmen Töne zu eliminieren. Wir beliessen höchstens in der Kleidung der Junkies hie und da gewisse Rottöne, ansonsten wollten wir das Ganze so düster wie möglich hinkriegen. Bei Grounding haben wir zwei Welten unterschieden, eine private, die freundlicher und wärmer ist und eine Business-Welt, in der alles grau und blau ist, geprägt von Silber, Glas und Metall. Dieser Effekt wurde vor allem in der Postproduktion erzeugt. Allgemein wird ungefähr ein Viertel des Looks erst in der Postproduktion geschaffen, deshalb ist mir dieser Arbeitsprozess auch sehr wichtig.

Unter deinen Filmen gehören Strähl und Grounding wohl zu den erfolgreichsten und bekanntesten. Wenn man diese beiden vergleicht, lassen sich in der Bildsprache durchaus Parallelen feststellen. Beide weisen eine eher düstere, schattige und kontrastreiche Bildsprache auf. Hast Du so etwas wie eine eigene Handschrift entwickelt? Oder haben diese Parallelen eher damit zu tun, dass du Projekte auswählst, die nach einer derartigen Bildsprache verlangen?

Was die Bildsprache betrifft, sind die beiden Filme tatsächlich relativ ähnlich, aber ich weiss nicht, ob ich einen eigenen Stil oder eine eigene Bildsprache habe. Bestimmt habe ich aber einen eigenen Geschmack, der meine Bilder prägt. Marcello, Marcello war bisher das erste Projekt, bei dem ich fast ständig draussen und mit viel Sonne arbeiten konnte. Bei Strähl und Grounding haben wir eher darauf geachtet, dass es bewölkt ist oder haben in Innenräumen gedreht, die sich beleuchtungstechnisch gut kontrollieren liessen. Fuori dalle Corde ist in seiner Bildsprache noch dunkler und dreckiger geraten; er ist härter, gefährlicher und blutiger.

Wie gehst du überhaupt an ein Projekt ran? Wie wählst du es aus? In welchem Stadium fliessen deine Ideen als Kameramann in die Produktion ein?

Meistens werden mir Drehbücher zugesandt, die ich dann natürlich erst einmal lese. Schon während dem Lesen des Buches überlege ich mir, wie ich die Geschichte bildlich umsetzen könnte. Zu Beginn lasse ich sämtliche Überlegungen dazu, was sich der Regisseur wohl vorstellt, aussen vor. In erster Linie muss ich Lust haben, die Geschichte zu bebildern, und natürlich muss die Geschichte gut sein. Es gibt Storys, die zwar fade sind, aber sich anbieten, spektakulär inszeniert zu werden. Daran bin ich nicht interessiert. Ich mache lieber einen Film, der eine Aussage hat, den es so oder in ähnlicher Form noch nicht gibt und der es uns ermöglicht, ein Thema neu zu entdecken. Kurz: Etwas, das sich lohnt, erzählt zu werden.

Wenn ich auf eine Geschichte Lust habe, treffe ich mich mit dem Regisseur, um herauszufinden, welche Idee er davon hat. An diesem Punkt kann es passieren, dass die jeweiligen Vorstellungen, wie ein Film auszusehen hat und wie er gemacht werden soll, vollkommen auseinanderdriften. Dabei spielt natürlich auch eine grosse Rolle, ob man sich gegenseitig versteht, oder besser ob man sich gegenseitig verstehen möchte.

Ich lasse den Regisseur immer an meinen Ideen teilhaben, schliesslich ist es nur hilfreich, wenn dieser von meinen Visionen überzeugt ist und hinter mir und meiner Arbeit steht, damit es am Set keine böse Überraschungen gibt. Mit Michael Steiner bei Grounding lief das zum Beispiel sehr gut. Wir haben das Projekt lange gemeinsam vorbereitet und unsere Ideen kanalisiert. Weil wir genau wussten, was dem anderen vorschwebt, ging die Arbeit sehr leicht von der Hand. Er liess mich machen, ich liess ihn machen – das hat uns gegenseitig inspiriert.

Bei Grounding gibt es einige Aussenaufnahmen von Flugzeugen. Habt ihr da mit Modellen gearbeitet?

Nein, vieles stammt aus Archiven. Bei Grounding war es sehr schwierig, Drehgenehmigungen zu erhalten. Weder die Swiss noch der Flughafen Kloten haben uns unterstützt. Überall standen wir vor verschlossenen Türen. Am Flughafen durften wir nicht mal hinter die Passkontrolle. Filmen konnten wir nur nachts. Da das Grounding aber am Tag stattfand, mussten wir den Flughafen taghell ausleuchten und Hunderte von Statisten aufbieten. Weder im Innern eines Flugzeugs wollte uns jemand haben, noch hat man uns eines für Aussenaufnahmen zur Verfügung gestellt. Wir mussten auf einen Flugzeugfriedhof in Frankreich ausweichen, auf dem haufenweise ausrangierte Flugzeuge standen, deren Einzelteile bereits verhökert worden waren. Dort haben wir dann einen Flieger gekriegt, der im Gegensatz zu seiner Aussenseite im Inneren noch intakt war. Bei einer weiteren Maschine war es genau umgekehrt und diese wurde dann als 3D-Vorlage für die Postproduktion verwendet. Die Jungs von der Postproduktion waren bereits vor Ort dabei, um uns zu beraten, was alles machbar sein würde. So wurde dieses lädierte Flugzeug, eine heruntergekommene kubanische Maschine, schliesslich in eine Swissair-Maschine verwandelt. Die Aussenaufnahmen sind alle total synthetisch. Die Szenen im Inneren des Cockpits wurden später im Flugsimulator gedreht – auch nur in der Nacht, da die Stunde über 1000 Franken kostet.

Wie bist du bei Grounding mit dem Archivmaterial umgegangen? Hast du dich für deine Bildsprache inspirieren lassen oder wolltest du dich klar davon abgrenzen?

Für uns war von Beginn an klar, dass wir keinen sogenannten Mockumentary machen wollten, sondern dass wir die Ebene der Dokumente klar von der Fiktion trennen. Nur die Figuren wollten wir in ihrem Äusseren möglichst den realen Personen angleichen. Da die meisten Archivaufnahmen aus den Neunziger- oder gar aus den Achtzigerjahren stammen, waren sie lediglich auf Beta verfügbar, was aufgeblasen auf 35 mm noch beschissener aussah. Zudem haben die Fernseh-Kameraleute nicht gerade eine sensationelle Bildsprache. Wir wollten diesen Reportagestil nicht, uns schwebte viel eher etwas Voyeuristisches vor, sodass der Zuschauer plötzlich merkt, dass er mitten in einer Verschwörung steckt. Wir wussten damals auch noch nicht, an welcher Stelle wir das Archivmaterial einbringen würden. Um eine Angleichung zu erreichen, hätten wir aber schon beim Drehen auf die Übergänge achten müssen. Wir haben das gar nicht erst versucht, damit wir am Ende die Karten quasi wieder neu mischen konnten.

Ich dachte dabei eher an das Wiederkehren von einer Art «Spontaninterview-Ästhetik». Du verwendest zum Beispiel Over-the-Shoulder-Shots bei Gesprächen zwischen Figuren, die dem Zuschauer das Gefühl vermitteln, jeweils der eigentliche Gesprächspartner und damit ganz nahe am Geschehen zu sein. Dann wieder gibt es diesen beobachtenden Blick, wie aus einem Versteck, der wohl mit der Idee der Verschwörung zu tun hat, die du eben erwähnt hast.

Es gibt sehr viele Storys über das Bankenmilieu und Business-Thriller, in denen man den Figuren ständig auf den Fersen ist. Allerdings ist man so schon fast zu nahe dran am Geschehen. Wenn man sich aber vorstellt, man sei ein Mäuschen, das sich irgendwo in einem Büro versteckt, dann befindet man sich genau dort, wo die richtig dreckigen Sachen verhandelt werden: Wir fanden, dies sei eine viel interessantere Herangehensweise für eine Verschwörungsgeschichte. Deshalb haben wir versucht, die Bankenwelt konsequent aus dieser Perspektive darzustellen, ausser wenn Corti – unser Held – vorkommt, an dem man dann doch wieder nahe dran ist. Nach den ersten Testaufnahmen drehten wir durchgehend mit zwei, oft sogar drei Kameras gleichzeitig, sodass wir im Schnitt diejenigen Aufnahmen auswählen konnten, die besser funktionierten. Eine Kamera war die direkte Kamera, ich führte meistens die zweite Kamera, mit der ich mich irgendwo im Dekor versteckte, wo ich hinter irgendetwas hervor, durch ein Loch oder über einen Spiegel filmte. Dies war auch für die Schauspieler aufregender, da sie oft nicht wussten, wo die zweite Kamera war. Schauspieler möchten schliesslich wissen, wohin sie sich richten sollen. Wir haben so das «beobachtet werden» quasi nochmal am Set für sie erzeugt.

Von Kameramännern hört man oft, wie wichtig die Zusammenarbeit und das Vertrauensverhältnis von Kameramann und Schauspieler ist, da man als Kameramann ja massgeblich daran beteiligt ist, dass die Schauspieler auf der Leinwand in einem möglichst vorteilhaften oder adäquaten Licht zu sehen sind. Wie arbeitest du mit Schauspielern?

Grundsätzlich natürlich so herzlich wie nur möglich, denn wenn man lieb mit ihnen umgeht, bekommt man meist auch das, was man von ihnen will. Meist ist aber ohnehin der Regisseur die erste Ansprechperson für die Schauspieler. Wenn ich etwas von einem Schauspieler will, gehe ich zunächst zum Regisseur. Ich gebe selten direkte Anweisungen.

Der deutsche Kameramann Michael Ballhaus erwähnte einmal, dass gewisse Stars klare Erwartungen an den Kameramann haben, dass ein Star wie zum Beispiel Michelle Pfeiffer darauf vertrauen kann, dass er sich bemühen wird, ihre Vorteile zu unterstreichen und Nachteile, wie ihre angeblich sehr ausgeprägten dunklen Augenringe, durch Beleuchtung und Kamerawinkel zu kaschieren. Hast du schon ähnliche Erfahrungen gemacht?

In der Schweiz gibt es die Schauspieler, die sich dies leisten könnten, nicht oder noch nicht. Wenn du hier als Schauspieler Allüren entwickelst, hast du bald keine Arbeit mehr, weil in der Schweiz immer noch die Technik das Sagen hat. In Hollywood oder überall dort, wo Schauspieler teurer sind, wird das ganze Gefüge möglichst um diese herum gebaut. Wenn ein Kameramann in so einem System sein Licht nicht in der gegebenen Frist hinkriegt, nämlich in derjenigen, in welcher die Schauspieler verfügbar sind, dann fliegt er schnell vom Set. Bei uns hingegen ist es eher umgekehrt: Hier werden die Bedingungen vorwiegend von der Technik diktiert. Man wartet zum Beispiel eher auf die Sonne, was in Amerika undenkbar wäre – dort versucht man mit möglichst konstantem Licht jeden Zufall zu vermeiden. Da die Schauspieler so teuer sind, muss die knappe Zeit mit ihnen optimal genutzt werden.

Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen Kameramann und Schauspieler sonst noch aus? Wie unterstützt du die Schauspieler?

In den Filmen der Vierzigerjahre, in denen man die Gesichter der Schauspieler mit Lichtstreifen und Schatten geradezu modellierte, sah diese Zusammenarbeit wohl noch ganz anders aus. Damals mussten allerdings auch die Darsteller unglaublich exakt arbeiten, zentimetergenau nämlich. Das können heute die wenigsten Schauspieler, zumindest nicht in unseren Breitengraden und in unserer Liga. Heute geht es viel mehr um Dynamik, und dafür braucht es auch völlig andere Lichtverhältnisse. Man muss grossflächiger ausleuchten, damit der sich bewegende Schauspieler in einem grösseren Bereich gut aussieht. Als Konsequenz davon lässt sich das Bild aber auch weniger gut kontrollieren.

Interessiert dich das Schöne und Makellose nicht?

Doch, natürlich interessiert es mich. Viel spannender finde ich aber, dass im Film so viele Ebenen zusammenspielen. Die Fotografie und die Malerei dagegen ermöglichen es dem Betrachter, ein Bild in Ruhe anzuschauen, und eignen sich meiner Meinung deshalb besonders, Schönheit abzubilden. Dem Film fehlt diese Zeit und dadurch wirkt die in der Bewegung konstruierte Schönheit manchmal fast schon zu intensiv. Durch das Zusammenspiel aller filmischen Möglichkeiten versuche ich, beim Zuschauer ein Gefühl zu erzeugen. Es soll im Kino schon fast riechen nach dem, was auf der Leinwand passiert: Es soll stinken, man soll schwitzen und frieren.

In Strähl hast du es, so scheint mir, eben erreicht, dass man mitschwitzt und mitriecht. Wie bist du vorgegangen?

Der Film war sowieso ein Kamikaze-Projekt, da wir einfach zu wenig Geld hatten für einen Kinofilm. Wir haben die ganze Crew reduziert, um das gesparte Geld für ein regelmässiges Mittagessen zu nutzen. So haben wir unter anderem auch die Maske gestrichen und die Schauspieler gebeten, sich selber zu schminken. Roeland Wiesnekker ist vor einer Szene jeweils wie ein Besessener herumgerannt, um möglichst verbraucht auszusehen, mit rot aufgequollenen Augen und Schweissperlen auf der Stirn. Diese Effekte hätten in der Maske wohl viel künstlicher ausgesehen. Die «Junkies» haben vor dem Dreh drei Tage nichts mehr gegessen.

Wir hatten auch sehr wenig Mittel, um die Drehorte auszuleuchten. Da Nachdrehs hinsichtlich des Lichts sowieso recht problematisch sind, mussten wir Orte wählen, die an sich schon gut beleuchtet waren, ergänzt durch mobiles Licht, das wir jeweils mit uns trugen. Das musste einfach Rock’n’Roll sein, und ich glaube, es ist uns auch gelungen, dass das Ganze wie Punkrock rüberkommt. Vielleicht auch, weil das auf diese Art und Weise niemand vor uns in der Schweiz ausprobiert hat. Jetzt vielleicht Schwarze Schafe (D/CH 2006) von Oliver Rihs, der für mich eine Art Fortsetzung von Strähl ist.

Wobei natürlich – bei aller Kreativität – diese Art von unbezahlter Arbeit langfristig keine Produktionskontinuität garantieren kann.

Nein, aber es ist wichtig, dass es solche Filme gibt. Auch bei Strähl haben wir alle für ganz wenig Geld gearbeitet. Aber damit lässt sich in der «normalen» Produktionswelt vielleicht doch etwas auslösen, weil man sieht, dass es auch so möglich ist, einen Film zu produzieren und nicht nur unter sicheren, aber vielleicht auch langweiligeren Umständen.

Würdest du vor diesem Hintergrund sagen, dass dir diese Projekte erlauben, deine Bildsprache zu erneuern, da weniger Geld und weniger Verantwortung auf dem Spiel stehen?

Das ist schwer zu beantworten. Je grösser das Budget eines Filmes ist, desto mehr Konformität wird erwartet, desto eher muss man sich an den Normen orientieren und Erwartungen erfüllen. Man kann nicht einfach rocken, wie es einem beliebt. Aber ob dies weniger kreativ ist, bleibt fraglich. Bei Marcello, Marcello, einer grösseren Produktion, haben wir auch versucht die Fünfzigerjahre ganz anders als üblich zu filmen. Die Herausforderung bleibt bei allen Filmen dieselbe, aber vielleicht muss man bei grösseren Budgets seinen Ansatz besser begründen, da die Produzenten stärker ihre Vorstellungen erfüllt haben wollen.

Wie unterscheidet sich deine Herangehensweise als Kameramann im Werbefilm vom Spielfilm?

Im Werbefilm muss man Geschichten oft in kürzester Zeit erzählen. Das setzt eine ganz andere Herangehensweise voraus, vielleicht auch die Anwendung einer anderen Ästhetik. Denn in den meisten Fällen steht ein Kunde oder eine Agentur hinter dem Monitor und vermittelt äusserst direkt konkrete Vorstellungen, die der Kameramann umsetzen soll. Im Spielfilm hingegen wird man viel ganzheitlicher involviert, da bin ich wahrscheinlich viel mehr als Mensch gefragt und es zählt nicht nur mein fachliches Wissen und Können. Aber ich mache eigentlich sehr gerne Werbefilme: Die Drehs dauern nur kurz, man arbeitet mit viel höheren Budgets und kann deshalb auch in technischer Hinsicht einiges ausprobieren. Der Werbefilm ist auch ein Experimentierfeld, aus dem Erfahrungen später wieder in den Spielfilm einfliessen.

Übst du als Kameramann im Privaten eigentlich für dich, so wie es ein Musiker tun würde?

Ich glaube nicht, dass es für einen Kameramann eine spezifische Art des Übens gibt. Ich beobachte sehr gerne Menschen und Situationen und lasse mich von ihnen inspirieren. Ich versuche, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Dabei beobachte ich nicht nur Lichtsituationen, sondern auch Leute, wie sie aussehen, wie sie sich bewegen, in welchen Stimmungen sie sich befinden. Dies scheint mir die einzige Art des Übens im Alltag zu sein. Ich mache zum Beispiel auch keine Ferien- und Familienfilme, was mir meine Frau manchmal vorwirft. Wenn es nicht für ein bestimmtes Projekt ist, habe ich keine Lust, durch den Sucher zu blicken.

Bist du in dieser Hinsicht vielleicht ein eher untypischer Kameramann, da du dich scheinbar sehr bewusst aus der Filmwelt zurückziehst, zum Beispiel als Mitinhaber der Acapulco-Bar?

Das kann schon sein. Ich wollte immer verschiedene Standbeine haben. So wird es einem nicht zu schnell langweilig im Leben. Aber es scheint mir auch gefährlich zu sein, sich vollkommen von so einer unberechenbaren Sparte wie der Filmwelt abhängig zu machen. Filme werden manchmal kurzfristig abgesagt, wie zum Beispiel Daniel Schmids letzter Film, da Daniel nach nur drei Drehtagen ins Krankenhaus musste und dann leider schon ein halbes Jahr später verstarb. Wenn man in solchen Momenten gar nichts anderes hat, dann hat man es sehr bald mit Existenzängsten zu tun, die einen gar dazu verleiten, unwichtige Projekte zu realisieren. Nichts gegen meine Kollegen! Aber bevor ich mittelmässige Fernsehfilme mache, hinter denen ich nicht stehen kann, arbeite ich lieber hinter dem Tresen oder kümmere mich um unseren sonntäglichen Karaoke-Abend. Lieber warte ich auf ein Projekt, von dem ich überzeugt bin, dass es wichtig und richtig für mich ist.

Um noch einmal auf ästhetische Fragen zurückzukommen: Hast du Vorbilder, die sich in deiner Bildsprache niederschlagen?

In meiner Teenagerzeit, als ich pro Woche mindestens dreimal ins Kino ging, war ich ein unglaublicher Lynch-Fan. Blue Velvet (David Lynch, USA 1986) gehört für mich nach wie vor zu den grössten Filmen der Filmgeschichte. Was die Kameraarbeit betrifft, könnte ich keinen bestimmten Kameramann nennen. Es ist eher so, dass mich einzelne Filme oder Momente in einem Werk begeistern, wie Dante Spinottis Arbeit in Heat (Michael Mann, USA 1995) und in The Insider (Michael Mann, USA 1999), schlicht genial. Dann Guillermo Navarro, der in El Laberinto del Fauno (Guillermo del Toro, MEX/E/USA 2006) die Kamera führte. Und Emmanuel Lubezki, der Children of Men (Alfonso Cuarón, JP/GB/USA 2006) gemacht hat. Beide fand ich grossartig. Der Versuch, bei Children of Men mit Plansequenzen zu arbeiten, ist wunderbar geglückt. Es fällt gar nicht auf, dass fast keine Schnitte vorkommen; der Film versucht auch nicht, darauf aufmerksam zu machen, was er kann. Wenn mir so etwas erst beim genaueren Schauen auffällt, dann finde ich das unglaublich spannend. Es gefällt mir, wenn unterschwellig und unangestrengt ein Konzept vermittelt werden kann.

Bei all den genannten Beispielen herrscht aber schon auch eine Bildsprache vor, die du zum Teil selber anstrebst, das Düstere, Schattige ...

Ich war früher ein Punk und habe mehr Zeit in verrauchten Kellern verbracht als an irgendwelchen Ecstasy-Partys. Ich habe harte Musik gehört und selber gespielt und das schlägt sich wohl auch in meiner Bildsprache nieder. Wahrscheinlich liegen mir in meinem Innersten düstere Geschichten eher als sonnige, aber ich kann meine Arbeit in dieser Hinsicht nur schwer selbst beurteilen.

Hast du je mit dem Gedanken gespielt, nach Deutschland zu gehen?

Natürlich habe ich das. Allerdings muss ich gestehen, dass ich keine Lust habe, nochmals auf Klinkenputztour zu gehen. Das lohnt sich gar nicht. Ich weiss, wie das dort läuft: Die einschlägigen Agenturen kriegen pro Woche gleich mehrere Showreels von Kameramännern. Ich könnte es höchstens mit einem Film schaffen, der einen deutschen Release hat, und so Aufmerksamkeit auf mich zieht. Oder mit Koproduktionen: Eine hätte ich machen können, die jetzt in den deutschen Kinos läuft (Anmerkung der Redaktion: Luftbusiness von Dominique de Rivaz), aber leider hat sich das mit Marcello, Marcello überschnitten. Wir waren schon mitten in der Vorbereitung und dann hat sich durch Verschiebungen ein Engpass ergeben. Man arbeitet oft an zwei Projekten gleichzeitig, noch öfter wird etwas verschoben. Verträge werden oft erst am fünften oder sechsten Drehtag unterschrieben. Eigentlich läuft dies alles recht lausig, denn wenn eine Filmproduktion ja mit jemandem arbeiten möchte, müsste sie einen Vorvertrag erstellen – eigentlich. Um die Kosten möglichst klein zu halten, wird dies jedoch in der Praxis nie so gehandhabt.

Wie erlebst du die Stimmung momentan in der Schweizer Filmszene, den Höhenflug 2006 und die scheinbare Flaute im Jahr danach?

Dass wir einen Hype erleben durften und dass mehr Gelder gesprochen wurden, finde ich toll. Aber es müsste auch seriöse Filmförderungskommissionen geben, die das Feld erweitern und auch unabhängige Produktionen unterstützen. Ich finde, in der Schweiz müssten unbedingt auch ohne staatliche Förderung Projekte ermöglicht werden, etwa mithilfe von Geldern aus der Wirtschaft. Andererseits ist es natürlich sehr schwierig, das bestehende Fördersystem zu kritisieren, da ich selbst auch nicht wüsste, wie man es besser machen soll.

Wenn du davon sprichst, das «Feld zu erweitern», wie ist dies gemeint?

Das jetzige System sieht vor, dass Drehbücher von Produzenten oder Produktionsfirmen auf gewisse Aspekte hin geprüft und budgetmässig eingestuft werden. Erreicht man ca. 90% des veranschlagten Budgets, geht man in Produktion. Wenn man es aber nicht bis dahin schafft, wird das Projekt auf Eis gelegt oder abgeschossen. Liesse man sich aber mehr Zeit in der ersten Projektphase, in der schon ein unabhängiges Gremium das Buch beurteilen könnte, bevor die Produzenten mit ihren Budgets kommen, würden qualitativ bessere Bücher abgeliefert und später bessere Geschichten verfilmt. Dänemark hat ein Förderkonzept aufgebaut, das ähnlich verfährt. In erster Linie werden Drehbücher gefördert. Bücher mit Potenzial werden herausgepickt und darin wird investiert. Schreiber, die mit Ähnlichem beschäftigt sind, bringt man zusammen und schafft dadurch einen besonderen Arbeitspool. Es braucht in der Schweiz nicht zwanzig Filme pro Jahr, vier bis fünf würden reichen.

Wenn du ein Lieblingsprojekt skizzieren müsstest, welche Gestaltungsmittel würdest du wählen, welche Farben, Kontraste und welches Material?

Am Schönsten ist für mich die Arbeit mit 35 mm im Scope-Format, da 35 mm nach wie vor die grösstmöglichste Informationsspeicherung bietet, die im digitalen Bereich nun mal noch nicht möglich ist, auch wenn sich aus dem digitalen Material auch eine Menge machen lässt.

Marcello, Marcello war allerdings der erste Film, bei dem ich mit Scope-Breitformat auf 35 mm arbeiten durfte. Ansonsten kommt es immer auf die Produktionsumstände an. Ich bin nicht der Typ, der um jeden Preis für ein technisches Format kämpft. Ich finde, das ist völlig fehl am Platz. Wenn man nicht darauf angewiesen ist, eine bestimmte Art der Schönheit einzufangen oder bestimmte Kontrastwerte zu erreichen, dann kann man sich sehr gut auf ein billigeres Format beschränken. Nur wegen des Drehformats ist ein Film noch nie zu einem besseren Film geworden, da sind das Drehbuch, die Schauspieler und die Drehorte wichtiger. Lieber setzt man das Geld entsprechend für diese Bereiche ein, als dass es für ein besseres Format draufgeht.

Kannst du retrospektiv ein Lieblingsprojekt nennen, bei dem du möglichst ideale Bedingungen hattest?

Bei Grounding sind unser Konzept und unsere Idee sehr gut aufgegangen. Allerdings hat mich die Verwebung von persönlichen Schicksalen mit der harten Businesswelt ein bisschen gelangweilt. Mir hätte es gereicht, wenn wir uns auf die Verschwörungsebene beschränkt hätten, ohne die Nebenschauplätze der betroffenen Angestellten. Bei Grounding hatten wir auch grossen Rückhalt beim Produzenten PC Fueter, der Michi und mir grosses Vertrauen schenkte und uns einfach machen liess.

Wenn du aber von idealen Bedingungen sprichst, so muss ich auch meine Kamera-Crew erwähnen, mit der ich mittlerweile drei bis vier Filme machen durfte und die meine Arbeit ungemein entlasten. Der Chefbeleuchter Peter Demmer und meine Kameraassistentin Orit Teply, mit denen ich gar nicht mehr viel sprechen muss, weil sie mich ohne Worte verstehen. Diese Energie fliesst dann direkt in die Kreativität, was die Arbeit ungemein bereichert.

Laura Daniel
geb. 1978, studiert an der Universität Zürich Germanistik, Film­wissenschaft und Philosophie sowie klassischen Gesang, zeitgenössische Musik und Jazz. Mitglied der CINEM A-Redaktion seit 2002. Lebt in Zürich. Daniel Däuber, geb. 1966, hat in Zürich Filmwissenschaft studiert, u.a. für die Schweizer Filmzeitschriften Zoom und Film geschrieben, arbeitet zurzeit als Filmredaktor beim Schweizer Fernsehen.
(Stand: 2018)
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