MARCY GOLDBERG

SUSPEKTE SCHÖNHEIT: — ÜBER DIE DARSTELLUNG DER BERGE IM NEUEREN SCHWEIZER FILM

ESSAY

Ernst Lubitsch soll gesagt haben, nur wer gelernt habe, die Berge zu filmen, könne auch Menschen filmen. Es ist aber gar nicht einfach, die Berge zu filmen. Neben technischen Herausforderungen gibt es ein grundsätzliches ästhetisches Problem, welches das Kino mit der Fotografie und der realistischen Malerei teilt, nämlich: die Schönheit. Ein Sonnenuntergang hinter dem Berggipfel ist schön. Aber ein Abbild einer solchen Szene wird fast immer zu Kitsch.

Die Struktur des schlechten Geschmacks

Warum das so ist, erklärt Umberto Eco anhand einer semiologischen Definition von Kunst und von Kitsch.1 Bei der «ästhetischen» oder «poetischen Funktion» ist es die Struktur der Botschaft, die das Kunstwerk ausmacht. Eine komplexe Struktur vermittelt nicht einfach Inhalte, sondern stellt sich selber in den Vordergrund und lädt zu unterschiedlichen Interpretationen ein. Während ein Kunstwerk immer eine gewisse Ambiguität bewahrt und nicht eins zu eins entziffert werden kann, kopiert das Kitschwerk einfach jene strukturellen Elemente des Kunstwerks («stylemes»), die in einem bestimmten kulturellen Kontext als schön gelten. Dies nennt Eco «die Struktur des schlechten Geschmacks». Das Kitschwerk zielt auf Wirkung, nicht Substanz, um sich ohne Ambiguität konsumieren zu lassen, und wird dabei zum ästhetischen «Kurzschluss».

Wird eine schöne Berglandschaft abgebildet, so wird sie auch meistens aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen und zum blossen Zeichen von Schönheit reduziert. Sie verfällt dem Kurzschluss und wird – oft ohne die Absicht oder sogar gegen den Willen ihres Schöpfers – zu Kitsch. Ein Berg wird zum «Berg»: einem eingerahmten Symbol von Ewigkeit, Majestät, unberührter Natur, Paradies, Freiheit und so weiter.

Heimatfilm und Anti-Heimatfilm

Dieses ästhetische Problem wird bald auch ein ideologisches, denn die symbolischen Werte, welche Landschaften – und vor allem Berglandschaften – verkörpern, sind oft die idealisierten Eigenschaften einer gegebenen Kultur oder eines Landes. Geht es beispielsweise um die Schweizer Berge, ist der Kurzschluss auch ein nationaler, um nicht zu sagen nationalistischer. Wie Yvonne Zimmermann schreibt: «Die Verknüpfung von Alpen und Eidgenossenschaft ist so eng, dass, wer Schweiz sagt, an Berge denkt, und wer von Bergen redet, die Schweiz assoziiert. [...] Der Berg als das touristische Aushängeschild ist so prägend, dass die Schweiz in der Fremdwahrnehmung vielfach als eine einzige Gebirgsformation erscheint.»2

Die Berge als Sinnbild für die Heimat und die damit verbundenen Idealwerte, aber auch als Markenzeichen für den Fremdenverkehr: Das Kino hat diese Ikonografie von anderen Medien geerbt – von der Literatur und den schönen Künsten, aber auch von der Werbung und der populären Kultur.3 Und der Schweizer Film hat sie jahrzehntelang mehr oder weniger unkritisch reproduziert.4

In den Dreissiger- und frühen Vierzigerjahren, im Kontext der Geistigen Landesverteidigung nahm die Darstellung der Schweizer Landschaft besondere symbolische Züge an. Die Berge wurden (erst recht) zum Symbol der Gründermythen – Freiheit, Unabhängigkeit, Widerstand, Tapferkeit, Demokratie – gemacht. Über die Verbindung mit der Natur wurden ideologische beziehungsweise politische Werte als natürlich, ursprünglich und unveränderlich dargestellt. Unter dem Einfluss der Geistigen Landesverteidigung wurden die Berge in den Filmen «ideologisiert» und «nationalisiert», im wachsenden Wohlstand und im Zug der Modernisierung der Fünfzigerjahre «idyllisiert».5

Als in den Sechzigern und Siebzigern eine neue, kritische Generation von Filmemachern zu arbeiten begann, machte diese nicht nur den «Vätern» den Prozess,6 sondern auch der verklärten Schweizer Landschaft der Aktivdienstgeneration. In den Worten Martin Schaubs: Die Berge konnten «nicht mehr naiv herbeizitiert werden als Sinnbild der Freiheit und der Schönheit».7 Als Schauplatz ihrer Geschichten wählten die Autoren und Autorinnen des Neuen Schweizer Films vermehrt die urbane Landschaft – nicht die pittoreske Altstadt, sondern eher die triste, einbetonierte Agglomeration. Wenn sie Berglandschaften zeigten, ging es darum, diese bewusst zu entmythologisieren, indem sie die real existierenden Probleme der Bergregionen thematisierten8 oder die Berge selber als unschön darstellten: durch unvorteilhafte Aufnahmen, ironische Kadragen, verfremdete Blickwinkel und eine Stimmung der Langeweile. Das ultimative Beispiel für diese filmische Dekonstruktion der Berge bleibt jene Szene aus Les petites fugues (Yves Yersin, 1979), in der der Knecht Pipe bei einem Helikopterflug erfährt, dass sein geliebtes Matterhorn aus der Luft gesehen lediglich ein Haufen Steine ist: «Y a que des cailloux ...»

Orte der Handlung

Der Berg als patriotisch, kitschig oder banal: Für die Generationen, die nach dem Neuen Schweizer Film gekommen sind, bleibt die filmische Geschichte der Berglandschaft ein schwieriges Erbe. Denn: Nachdem die Schönheit suspekt geworden war und der Berg zum blossen Stein reduziert, wie sollten die Filmemacher die hiesige Landschaft als Schauplatz ihrer Geschichten – als «Ort der Handlung» (Martin Schaub) – verwenden? Hiess es nicht Anfang der Achtzigerjahre sogar: «Nieder mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittelmeer»?

Und dennoch: In den letzten Jahren nahm das Problem der schönen Landschaften eine neue Wendung. Mit der anhaltenden Globalisierung und dem «Mainstreaming» des Kinos wird es immer schwieriger, von nationalen Kinematografien im ästhetischen Sinn zu reden, wie einst vom deutschen Expressionismus, italienischen Neorealismus, amerikanischen Roadmovie oder – es ist gar nicht so lange her – vom Hongkong-Actionfilm oder dem Bollywood-Musical. Auf der Ebene der Formen und Genres findet eine starke Durchmischung statt, den Filmschaffenden steht eine grosse stilistische Bandbreite zur Verfügung. Doch in diesem globalen Kontext nimmt gleichzeitig auch die Bedeutung des Lokalen zu. Und so wagen es immer mehr zeitgenössische Schweizer Filmschaffende, sich wieder mit der eigenen Landschaft und ihrer Schönheit zu beschäftigen.

Ein Vorreiter dieses Phänomens war Fredi M. Murers Höhenfeuer (1985). Hier bildet die schöne Alpenlandschaft eine fast magische Kulisse für die schwierigen Beziehungen innerhalb einer Berglerfamilie. Die präzis beobachteten ethnografischen Details aus ihrem Alltagsleben auf dem Urner Berggipfel bilden einen Kontrapunkt zur allegorischen Dimension dieser Geschichte von Inzest und Vatermord. Wie Peter Purtschert feststellt: «In Höhenfeuer gelingt es also, dem postkartengeschönten und dem nostalgisch-konservativ verbrämten herkömmlichen Bild der Schweizer Alpenlandschaft und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner eigene Bilder gegenüberzustellen. Höhenfeuer läuft deshalb nie Gefahr, zum Kitsch zu werden.»9 Das Thema des Konflikts zwischen den Generationen und der Wunsch nach «eigenen» Bildern gehören zwar noch zum «Neuen» Schweizer Film der Sechziger- und Siebzigerjahre,10 doch der Umgang mit der Berglandschaft ist hier anders als in früheren Filmen. Die Berge sind keine Idylle, sie dürfen aber ihre Schönheit und ihre Faszination behalten, denn diese gehören zum authentischen Umfeld der Protagonisten. Die Landschaft bildet ein spezifisches Setting, in dem die potenziell universelle und mythologisch anmutende Geschichte verankert werden kann.

Ironie und Vergnügen

Umberto Eco (der uns bereits dabei half, Kunstwerke von Kitschwerken zu unterscheiden) schildert in seinem Aufsatz «Postmodernismus, Ironie und Vergnügen» einen künstlerischen Umgang mit Kitsch – eine Strategie, die den jüngeren Filmergenerationen einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma bietet.11 Nachdem ein strenger Modernismus alles auf seine Grundelemente reduziert hat, nachdem die Berge zu blossen «Steinhaufen» geworden sind, besteht trotzdem ein Bedürfnis nach Geschichten, Kommunikation, Vergnügen. Die Kitschbilder lassen sich zu diesem Zweck rehabilitieren: Man kann sie auch ironisch überdenken und neu einsetzen – als Zitate, als Teil einer postmodernen Collage.

Exemplarisch für diese Strategie ist Anka Schmids Essayfilm Magic Matterhorn (1995). Hier stellt die Filmemacherin, die lange im Ausland lebte, die Frage: «Was ist Heimat heute?» – und versucht, über eine Analyse des Matterhorns dem Begriff näher zu kommen. Einerseits untersucht sie den Standort Zermatt dokumentarisch: mit einem Blick ins dortige Alltagsleben, in Interviews mit Dorfbewohnern und Touristen, sowie durch Aufnahmen mit letzten Stellvertretern traditioneller Berufe wie Senn und Käser. Diese Ebene des Films knüpft an die binnenethnografische Tradition an, wie sie früher beispielsweise von Henri Brandt, Kurt Gloor und Fredi M. Murer, und heute noch von Erich Langjahr praktiziert wurde. Doch darüber hinaus spielt Schmid mit dem Matterhorn als Sinnbild für Schweizer Tradition sowie als Marketing-Ikone von «Swissness» in der populären Kultur.

In inszenierten Sequenzen lässt sie die Kabarettisten Geschwister Pfister vor der Bluescreen-Kulisse kitschiger Schweizer Landschaften auftreten, wo sie in Musical-Nummern ihre (fiktiven) Biografien als Waisenkinder zwischen dem Heimatort Zermatt und dem Glamourparadies Las Vegas nachspielen. Zur Melodie des Bossa- Nova-Klassikers «The Girl from Ipanema» singen sie ein Loblied auf den Schweizer Käse – natürlich auf Englisch, der Sprache des Showbusiness und der Globalisierung. Swissness kann also auch performativ sein.

Die spielerische Verzerrung der Ikonen der Swissness setzt Schmid in ihrer Filmsprache fort: zum Beispiel durch buchstäbliche Zerrbilder des Matterhorns, gefilmt in der Spiegelung der Seilbahnfenster, oder in Grossaufnahmen von drehenden Postkarten und Nippes auf Souvenirständern. Durch Trickfilmtechniken wird das Matterhorn animiert und vermenschlicht, und schliesslich – mittels Fotomontage – auf eine Weltreise geschickt, wobei seine unverkennbaren Formen nun auf anderen Panoramen prangen: neben den Pyramiden, dem Taj Mahal, dem Eiffelturm, im Grand Canyon, in New York und Hongkong ... Dieses mobile Matterhorn steht auch für die subjektiven Matterhornbilder der Touristen, die den Berg aus ihrer jeweiligen kulturellen Perspektive wahrnehmen und für sich definieren.

Ist Heimat nur «ein Berg von Klischees», wie Schmids Kommentartext fragt? Oder ist sie eine Projektionsfläche, welche alle mit ihren eigenen Vorstellungen füllen können? Neben ihrer Kritik an der Kommerzialisierung der Landschaft und ihrem ironischen Blick auf die Vermarktung eines oberflächlichen Schweizbildes scheint Schmid doch noch die persönliche, subjektive Bedeutung der Landschaft für den Betrachter anzuerkennen und zu schätzen.

Imaginierte Landschaft

Die Rolle von Subjektivität und individueller Vorstellungskraft bei der Wahrnehmung von Landschaften thematisiert auch Matthias Caduff in seinem Essayfilm Gespräch im Gebirg (1999) über die gleichnamige Erzählung von Paul Celan. Dieser «Bericht eines Lesers» (wie der Film im Untertitel heisst) ist Caduffs Versuch, Celans Text filmisch umzusetzen und sich dabei mit dem – auch darin thematisierten – komplizierten Verhältnis zwischen Wort und Bild auseinanderzusetzen.

Caduff, der Erzähler, zieht sich in seine Wohnung zurück, wo er Celans Beschreibung einer imaginären Begegnung in einer imaginären Berglandschaft in seine eigenen Bilder und Symbole übersetzt. Aus Alltagsgegenständen wie Kopfkissen, Salzkristallen, gefalteten Hemden und Scherenschnittfiguren bastelt er verspielte und eigensinnige Berge. Er zeichnet Abschnitte aus Celans Text auf die Wände seines Zimmers, wobei die geschriebene Sprache auch zum Panorama wird. Zwischen diesen gefilmten Szenen wird auch Videomaterial geschnitten: Ansichten von Schweizer Berglandschaften, von Celans Geburtsstadt Czernowitz und von seinem letzten Wohnort Paris. Damit kehrt Caduff paradoxerweise die gängige dokumentarische Praxis um, in der Aussenaufnahmen von schönen Landschaften meist mit der Filmkamera und Intérieurs auf Video gedreht werden. Hier hingegen bilden die grobkörnigen Videoaufnahmen aus der Aussenwelt eine weitere subjektive Ebene, indem sie halbabstrakt und traumähnlich wirken, während die Filmaufnahmen das imaginäre Universum in der Wohnung präzis abbilden.

Dieser tastende, vielschichtige Ansatz erweist sich als genau richtig im Umgang mit Celans Text, der unter anderem als Antwort gilt auf Adornos Behauptung, es sei barbarisch, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben. Das Unbehagen des Dichters Celan über die Kluft zwischen Gesprochenem und Gelebtem widerspiegelt sich in Caduffs sorgfältig ausgewählten visuellen Kontrapunkten. Bei all seinem Zweifel über die Mittel der Repräsentation und die Begrenztheit der Sprache stellt sich Celan – und mit ihm Caduff – klar gegen jedes Bilderverbot.

Von der «paysage narcissique» zur neuen Subjektivität

Den Gebrauch der Landschaft als idealisierte Projektion der eigenen Identität, oder um gesellschaftliche Ideale zu widerspiegeln, nennt Maria Tortajada12 «le paysage narcissique».13 Genau diese ideologischen Konnotationen der Schweizer Landschaft wurden vom Neuen Schweizer Film in Frage gestellt. Die erneute Beschäftigung der hiesigen Filmschaffenden mit der Landschaft in letzter Zeit bewegt sich weg von den nüchternen Analysen der Generation der «alten Neuen», sollte aber nicht als narzisstisch verstanden werden. In ihren Filmen wird – wie die folgenden Beispiele illustrieren – die Landschaft nicht instrumentalisiert, sie wird personalisiert: Sie erscheint weder monumental noch banal, sondern wird aus einer klar deklarierten subjektiven Wahrnehmung dargestellt, wo auch Emotionen eine grosse Rolle spielen.

Der autobiografische Essayfilm Hans im Glück (2003) von Peter Liechti verbindet die Landschaft nicht nur mit dem Gemüt des Filmemachers, sondern auch mit seinem Körper. Drei Mal wanderte Liechti auf drei verschiedenen Routen zu Fuss von seinem Wohnort Zürich zu seinem Heimatort St. Gallen als Versuch, mit dem Rauchen aufzuhören. Mit einer kleinen Videokamera filmte er sich selber bei den tagelangen anstrengenden Märschen. Seine Aufnahmen der Landschaft werden dabei von seinem eigenen Körper durchdrungen: seine Schritte, das Zittern seiner Hände, sein Atmen – alles ist in den Bildern spür- und hörbar. Die Topografie bildet nicht nur die Kulisse für sein körperliches Leiden, sie soll ihn dazu bringen, die Tabaksucht zu überwinden. Doch sie zwingt ihn auch dazu, seine Idee von Heimat sowie die eigene Identität neu zu denken. Die harmlose Wanderung nimmt bald nationale Dimensionen an: «Ich ertappe mich, wie ich einfach so vor mich hinschweizere...», so Liechtis halbironischer Kommentar.

Liechtis Wahrnehmung der Landschaft ist zunächst geprägt von Enttäuschung und Irritation. Die Belanglosigkeit seiner Tage steigert den Frust des Zigarettenentzugs. Er sieht nur öde Gasthäuser im Flachland, hässliche Bergrestaurants auf den Gipfeln. Die touristischen Alpfeste erscheinen ihm künstlich und «schäbig». In seiner Gereiztheit kann er die pittoresken Ansichten gar nicht geniessen: «Ich bin nicht einmal froh, endlich oben angekommen zu sein, sondern nur noch wütend, wütend auf diesen Berg, auf mich selber, auf alle, die je behauptet haben, dass es toll sei, auf einen Berg zu steigen.»

Potenziell schöne Schweizbilder werden stets verfremdet; idyllische Super-8-Aufnahmen aus dem Appenzellerland oder das Feuerwerk am Nationalfeiertag werden von der Leinwand beziehungsweise vom Bildschirm abgefilmt. Und dennoch: Trotz seiner Absicht, die Bergwanderung und die Berge selber zu entmythologisieren, obwohl er auf Banalität und Langeweile beharrt, geniesst Liechti ab und zu für einen Augenblick den Charme des Frühlings oder die Schönheit der Landschaft. Manchmal sogar zu seiner eigenen Überraschung, wie beim Hinuntersteigen vom Säntis: «Ich stelle fest, dass ich wach bin, zum ersten Mal richtig wach auf diesem Marsch, und dass diese grosse alte Alp wahnsinnig schön ist.»

Landschaft der Gefühle

In den Neunzigerjahren war Thomas Imbach einer der ersten, der einen neuen Umgang mit der hiesigen Landschaft suchte. Ein unverkennbarer Bestandteil seiner Dokumentarfilme Well Done (1994), Ghetto (1997) und Nano-Babies (1998) sowie des Spielfilms Happiness is a Warm Gun (2001) waren die lyrischen 35- mm-Aussenaufnahmen, welche als Atem- und Denkpausen zwischen den (oft rasanten) Videoschnittserien der eigentlichen Handlung platziert waren. Ein Vogelschwarm über einer Wiese; eine Autofähre auf dem Zürichsee; eine schneebedeckte Strasse im Wald; ein Flugzeugstreifen am Himmel über einem Hochhaus: Diese und andere Bilder stehen im Kontrast zu den hochmodernen Intérieurs und den zwischenmenschlichen Beziehungen, die es sonst zu untersuchen galt.

Solche verdichteten Stimmungen und flüchtigen Momente erinnern an die magische Atmosphäre und die archaische Kraft der Natur in Höhenfeuer – Elemente, welche in den Jahren zwischen Murers Film und Imbachs Arbeiten kaum im Schweizer Film vorgekommen waren. Vielleicht weil er diesen schwer definierbaren Zuständen noch näher kommen wollte, machte Imbach die Landschaft zum zentralen Motiv seiner beiden letzten Filme Lenz (2005) und I Was a Swiss Banker (2007). Als Doppelprojekt konzipiert, spielt der erste in der Region Zermatt im Winter, während der zweite eine sommerliche Odyssee quer durch die Schweizer Gewässer vom Bodensee zum Genfersee darstellt. In beiden Filmen dreht sich die Handlung um eine männliche Hauptfigur in der Lebenskrise, deren Flucht in die Landschaft auch eine Sinnsuche und eine Reise ins eigene Innere ist.

Aufnahmen wie etwa das Matterhorn in der Winterdämmerung (Lenz) oder das Spiel von Sonnenstrahlen auf Wellen (I Was a Swiss Banker) laufen Gefahr, die Grenze zum Kitsch zu überschreiten. Doch in Imbachs Händen tun sie es nicht. Weil seine Bilder stets mit den inneren Zuständen seiner Hauptfiguren in Verbindung gebracht werden, funktionieren sie nicht als blosse Kulissen, sondern als Spiegel der Gedanken beziehungsweise der Gefühle dieser Figuren. In Lenz wird das Matterhorn sogar zur Filmfigur und zum imaginären Kontrahenten des gegen den Wahnsinn ankämpfenden Protagonisten; in I Was a Swiss Banker bilden die Schweizer Seen einen Traumpfad, dem der Ex-Bankier Roger wie ein Märchenheld folgen muss. So gewinnt in diesen Filmen die Landschaft jene mystische Kraft zurück, welche in Höhenfeuer so stark zum Ausdruck kommt, und welche der – in den Filmen absichtlich gestreiften – touristischen Vermarktung dieser Orte entgegenwirkt.

Die Landschaft als Spiegelbild innerer Zustände – wäre dies nicht auch eine Art «paysage narcissique» im Sinne Tortajadas? Sie ist es aber nicht, und der Unterschied besteht darin: Während jene «narzisstische Landschaft» als Projektionsfläche für eine idealisierte und erstarrte nationale Identität dient, ist diese «subjektivierte» Landschaft ein poetischer Ansatz fast romantischer Art, eine temporäre und situationsbedingte Ausdrucksmöglichkeit. Wie in der Rhetorik der Romantik gibt es eine Wechselwirkung zwischen Ansichten und Einsichten, Wetterlage und Gemütslage. Mal ruft die Landschaft besondere Emotionen im Betrachter hervor, mal widerspiegelt sie heftige Gefühle. Doch die Subjektivität dieser Darstellungen wird als Ansatz offengelegt, die Landschaft wird nicht instrumentalisiert, sondern visionär porträtiert.

Halbwegs zwischen Himmel und Erde

Ein weiteres Beispiel dafür aus dem neueren Schweizer Filmschaffen ist Andrea Štakas Spielfilm Das Fräulein (2006). Durch den ganzen Film widerspiegeln Farbtöne und Beleuchtung bewusst die Gefühle der Protagonistinnen. Für Ana, eine junge Bosnierin, die an Leukämie leidet, erscheint die Stadt Zürich als fremd und kalt, aber zugleich faszinierend – in ihrer Fremdheit und als Ort möglicher Begegnungen. Dieser Kontrast wird einerseits durch blaue und graue Farbtöne und andererseits in präzis beleuchteten Nachtszenen evoziert.

Eine Schlüsselsequenz bildet Anas Ausflug zusammen mit ihrer Arbeitgeberin Ruža aus der urbanen Landschaft in die Berge, nach Amden. Die Frauen fahren mit der Sesselbahn hoch, schauen von der Bergkante in den Abgrund hinunter und spielen im Schnee. Typische touristische Erlebnisse, doch in Štakas Darstellung erinnern sie nur augenzwinkernd an Heimatfilme oder Kitsch. Zum einen werden auch diese Aufnahmen durch ihre matten Farbtöne verfremdet und die Bergansichten eher zitiert als eins zu eins wiedergegeben. Zum anderen haben die Szenen eine genaue Funktion innerhalb des Zeichensystems des Films, worin räumliche Parameter wie etwa Tiefe und Höhe, Innen und Aussen, konsequent mit Gefühlslagen und Denkprozessen gepaart sind und die Kulissen für entsprechende Handlungen bilden – wie etwa der Üetliberg als Schauplatz einer hoffnungsvollen Szene oder die Tiefgarage als Ort der Konfrontation. So wird die Reise aus der Stadt und die Lage zwischen Himmel und Erde zur Zone, wo über das eigene Leben reflektiert werden kann.14

Und schliesslich dient dieser typisch schweizerische Ort dazu, die Frauen an ihre fremde Herkunft zu erinnern – vor allem Ruža, die dann gleich und zum ersten Mal im Film von ihrer Vergangenheit zu sprechen beginnt und die Nähe zu Ana (vergeblich) sucht. Zurück im nächtlichen Zürcher Hauptbahnhof ist die Distanz zwischen den beiden wieder hergestellt, und der sonnige Nachmittag auf dem Berg erscheint nachträglich noch stärker als Traum, als Ausflug oder sogar Ausbruch aus der Realität. Die Augenblicke auf dem Berg sind die Ausnahme, die das eigentliche Leben der Frauen durch den Kontrast dazu definiert.

Ausflug in die Versöhnung

Die Berge können also eine persönliche oder kontextbedingte Symbolik transportieren. Dies zeigt auch Mon frère se marie (Mein Bruder heiratet) von Jean-Stéphane Bron (2006). Bereits der Vorspann ist von Postkarten-Ansichten des Matterhorns geprägt: Was zunächst als frivoles gestalterisches Spiel erscheint, stellt sich nach und nach als wichtiges dramaturgisches Motiv heraus. Der Berg besitzt nämlich einen besonderen symbolischen Wert für die Protagonisten des Films – die Familie von Vinh.

Vinh kam vor zwanzig Jahren als Flüchtlingskind aus Vietnam in die Schweiz und wurde von einem Westschweizer Ehepaar mit zwei eigenen Kindern adoptiert. Nun heiratet er, und seine leibliche Mutter – damals in Vietnam geblieben – soll ihn zum ersten Mal in der Schweiz besuchen. Natürlich ist die Adoptivfamilie längst auseinandergegangen. Die Eltern sind geschieden, die erwachsenen Kinder reden zum Teil nicht mehr mit ihnen. Doch anlässlich des Besuchs aus Vietnam versuchen sie, eine glückliche Familie zu spielen, um Vinhs Mutter und Onkel nicht zu enttäuschen.

Symbol dieser vorgetäuschten heilen Welt ist – was denn sonst – das Matterhorn, zumal es zur Familientradition gehörte, jedes Jahr zu Weihnachten Postkarten mit Matterhorn-Ansichten aus den vermeintlichen Familienferien nach Vietnam zu schicken. Und natürlich wird ein gemeinsamer Ausflug dorthin geplant. Doch bis es so weit ist, kommt alles in dieser Komödie mit dramatischen Elementen anders. Das familiäre Täuschungsmanöver fliegt auf, das Hochzeitsfest wird zur Katastrophe. Am nächsten Morgen reist die Gruppe doch noch nach Zermatt, obwohl es nun mit den Illusionen vorbei ist. Oder gerade deshalb? Denn sie besuchen dort kein nationales oder touristisches Symbol, sondern das Sinnbild ihrer eigenen familiären Vergangenheit.

Ihre Katerstimmung widerspiegelt sich im Bild des vernebelten «Cervin». Die Aussicht ist nicht besonders schön, doch auch das ist angebracht, denn in der Dramaturgie des Films steht die Reise zum Matterhorn für die Bereitschaft, sich den wirklichen Zuständen zu stellen. In einer der letzten Einstellungen des Films stehen Vinhs zwei Mütter vor dem Berg, mit dem Rücken zur Kamera. Die leibliche Mutter aus Vietnam umarmt die Adoptivmutter aus der Schweiz, während beide in Richtung Matterhorn schauen. Zeugten die Matterhorn-Postkarten vom gefälschten, idealisierten Familienbild und vom vorgegaukelten Schweizbild, das in die Welt geschickt wird, so steht die Begegnung mit dem echten Berg für Versöhnung, für die Entwicklung dieser Familie von einer vorgetäuschten zu einer echten Intimität.

Folklore in Zeiten der Globalisierung

Mit seinem Dokumentarfilm Heimatklänge (2007) setzt Stefan Schwietert seine anhaltende Reflexion über zeitgenössische musikalische Formen und Praktiken fort, welche ihre Wurzeln im sogenannt Volkstümlichen haben. Nach Dokumentarfilmen über das Akkordeon und die jüdische Klezmermusik wandte sich Schwietert – in der Schweiz aufgewachsen, seit vielen Jahren in Berlin zu Hause – 2003 mit Das Alphorn auch der Schweizer Volksmusik zu. Bereits in diesem Film tauchen «Dissidenten» der Schweizer Volksmusik auf, wie etwa der Alphornspieler Hans-Jürg Sommer, der aufgrund seiner avantgardistischen Jazz-Kompositionen in Schwierigkeiten mit dem auf Tradition pochenden schweizerischen Jodlerverband gerät.

Die in Heimatklänge porträtierten Sänger Christian Zehnder und Noldi Alder und die Sängerinnen Erika Stucky und Sina, ebenfalls musikalische Dissidenten, lassen sich vom traditionellen Jodeln und von der Folklore wie auch von imposanten Alpenlandschaften inspirieren, um diese Elemente auf eigenwillige und originelle Art in ihre Stimmkunst zu integrieren. Dass sie eigene Ansprüche auf einheimisches Brauchtum erheben, erweist sich als heikles Unterfangen. Sie stossen einerseits auf Unverständnis bei Vertretern der «echten» Folklore, die diesen Umgang mit der Tradition als «unschön» bezeichnen, und gehen das Risiko ein, andererseits von Musikerkollegen und Fans abgelehnt zu werden, welche eben diese Tradition als politisch fragwürdig beziehungsweise kitschig bezeichnen.

Schon der Titel des Films führt möglicherweise zu Irritationen, zumal «Heimat» nationalistisch konnotiert ist. Doch genau darin liegt die Absicht dieser Künstlerinnen und Künstler sowie des Filmemachers: den Symbolwert von traditionellen Elementen und Praktiken in Frage zu stellen, sie mit neuen Ideen und anderen Formen zu assoziieren. Eine Tendenz, welche mit der Globalisierung und der Medialisierung eng zusammenhängt. So erklärt Christian Zehnder, während andere nach fernen Kontinenten aufbrechen, um sich dort mit World Music15 zu beschäftigen, interessiere er sich auch für vergessene oder absichtlich verdrängte Traditionen im eigenen Land: «Alle rennen nach Kuba, alle trommeln auf der Djembe, aber was soll ich damit? Wo ist mein Boden, den ich in die Luft werfen kann?» Diese Wurzelsuche führt zu einem neuen Verständnis der eigenen Identität und leistet – nicht ganz nebenbei – Widerstand gegen konservative oder reaktionäre Kreise, welche die alten Traditionen für sich pachten und die Schweizer Identität eigenhändig definieren wollen.

Die von Pio Corradi präzis gefilmten und zum Teil monumental wirkenden Landschaftsaufnahmen werden von Schwietert bewusst eingeführt, um den Musikexperimenten einen Kontext und eine Topografie zu verleihen. Neben diesen im herkömmlichen Sinn dokumentarischen Aufnahmen benutzt er alte und neue Super8-Aufnahmen als visuellen Kontrapunkt: Sowohl die echten Familienfilme wie auch das neu gedrehte Material wirken wie Kitsch-Zitate, um die «heile» Alpenwelt zu relativieren und ironisieren.

Begegnung mit der eigenen Geografie

Diese Musikergeschichten thematisieren die gleiche Herausforderung, mit der die Schweizer Filmemacher konfrontiert sind: den Umgang mit einem faszinierenden, aber auch problematischen kulturellen Erbe. Wie kann sich eine Sängerin vom Jodeln inspirieren lassen, ohne dabei an Volksmusikschlager und politische Parteitage zu erinnern? Wie kann ein Filmemacher schöne Land- schaften zum Ort der Handlung machen, ohne sie gleich in kitschige Ansichten zu verwandeln? Kurz: Wie kann man sich mit dem Lokalen beschäftigen, ohne rückständig zu wirken und veralteten Ikonografien zu verfallen?

Die Antwort besteht darin, diese Elemente nicht als kitschige «Kurzschlüsse» einzusetzen, sondern sie neu zu denken und in eine persönliche Ästhetik zu integrieren. Stucky, Alder und Zehnder verstehen es, im Dienst der eigenen Ausdrucksmöglichkeiten die archaische Kraft des Jodels heraufzubeschwören, trotz der Tradition volkstümlicher Schlager und ihrer Assoziation mit konservativer Politik. Filmemacherinnen und Filmemacher wie jene, die hier erwähnt wurden, entdecken die Schweizer Berge wieder als Drehort für zeitgenössische Geschichten, trotz der Last des Heimatfilms wie auch des Antiheimatfilms. In ihren Werken dient die «schöne» Landschaft nicht als vorgefertigtes Symbol ideologischer Werte, sondern als Gelegenheit, die Begegnung mit ihrer eigenen Geografie zu suchen und das eigene Bild der Landschaft zu erneuern. Thematisiert der iranisch-amerikanische Filmwissenschaftler Hamid Naficy das transnationale «accented cinema» von Filmemachern im Exil,16 so könnte man hier vielleicht vom «dialect cinema» sprechen: von Filmen, welche die hörbaren und sichtbaren Züge ihres Ursprungsortes beibehalten.

Umberto Eco, «The Structure of Bad Taste» in: ders., The Open Work, übers. von Anna Cancogni, Cambridge 1989, S. 180–216. Ursprünglich erschienen als «La struttura del cattivo gusto», in: Apocalittici e integrati, Milano 1964.

Yvonne Zimmermann, «Die Berge aus Schweizer Sicht – ein Streifzug durch den Schweizer Film», in: Alexandra Schneider (Hg.), Bollywood: Das indische Kino und die Schweiz, Zürich 2002, S. 124–133.

Zimmermann (wie Anm. 2), S. 124–5.

Vgl. Martin Schlappner, «Heimatfilm – Was ist das?» und «Berge, meine Berge, im Film», in: Martin Schlappner und Martin Schaub, Vergangenheit und Gegenwart des Schweizer Films 1896–1987, Zürich 1987.

Zimmermann (wie Anm. 2), S. 128–9.

Vgl. Martin Schaub, «Prozesse mit den Vätern», in: Schlappner und Schaub (wie Anm. 4).

Martin Schaub, «Der Ort der Handlung», in: Schlappner und Schaub (wie Anm. 4), S. 188.

Zwei Beispiele aus dem Dokumentarfilmbereich, welche diese schwierigen Umstände zeigen und analysieren, sind: Die Landschafts- gärtner (Kurt Gloor 1969) und Wir Bergler in den Bergen sind nicht schuld, dass wir da sind (Fredi M. Murer 1974).

Peter Purtschert, «Das Phänomen Höhenfeuer», in: CINEMA 46: Heimspiele, Zürich 2000, S. 114.

Vgl. Martin Schaub, «Die eigenen Angelegenheiten», in: Schlappner und Schaub (wie Anm. 4).

Umberto Eco, «Postmodernismus, Ironie und Vergnügen», in: ders., Nachschrift zum «Namen der Rose», München 1984, S. 76–84. Ursprünglich erschienen als Postille a «Il nome della rosa», Milano 1983.

Maria Tortajada, «Cinéma suisse: comment échapper au paysage narcissique?», in: Marc- Olivier Gonseth, Jacques Hainard & Roland Kaehr (Hg.), Derrière les images, Neuchâtel 2000, S. 279–306. «Il suffit qu’il soit désigné comme ‹notre lieu, notre pays› pour qu’il nous renvoie, comme un miroir, notre propre image. Le paysage devient facilement une figure privilégiée du même, de l’auto-identification, et le support de l’origine. [...] Le mécanisme qui régit son fonctionnement idéologique doit masquer son artifice, cacher le fait qu’il n’est que le résultat d’une construction culturelle.» S. 280.

Vgl. auch Katrin Oester, «Die narzisstische Struktur des folkloristischen Diskurses», in: Umheimliche Idylle: Zur Rhetorik heimatlicher Bilder, Köln 1996.

Eigentlich hätte die Szene laut Drehbuch bei trübem Winterwetter stattfinden sollen. Doch die Natur wollte anders (Interview mit Andrea Štaka, August 2007). Durch die Manipulation des Lichts und der Farben ist es Štaka und ihren Mitarbeitern immer noch gelungen, der Szene eine nicht naturalistische Qualität zu geben.

«World Music» ist zugegeben ein etwas unglückliches Etikett, das dennoch zum Sammelbegriff geworden ist für alles, was mit lokalen oder ethnischen und vor allem nicht westlichen Traditionen zu tun hat – wobei er im Prinzip auch westliche folkloristische Formen wie etwa irische oder skandinavische Volksmusik nicht ausschliesst. Ein weiteres, für diese Diskussion relevantes Merkmal davon ist das Kombinieren oder Vermischen verschiedener Stile oder Traditionen.

Vgl. Hamid Naficy, Home, Exile, Homeland: Film, Media and the Politics of Place, London 1999, und An Accented Cinema: Exilic and Diasporic Filmmaking, Princeton 2001.

Marcy Goldberg
geb. 1969, Studium der Filmwissenschaft, Semiotik und Philosophie, University of Toronto und York University (Kanada). Wohnt seit 1996 in Zürich. Redaktionelle Mitarbeiterin des DOX Documentary Magazine. Mitglied der Programmkommission des Dokumentarfilmfestivals «Visions du réel» in Nyon.
(Stand: 2018)
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