NATHALIE JANCSO

NACHBEBEN (STINA WERENFELS)

SELECTION CINEMA

Du musst immer schauen, dass du nicht der Idiot bist – so belehrt H.-P., die Hauptfigur in Nachbeben, seinen Sohn Max. Im Lauf des Nachmittags wird H.-P. selber zum Idioten, zum Verlierer, der zu hoch gepokert hat, dies aber vor sich selbst und vor seiner Familie nicht zugeben kann. Von Anfang an verweist in Stina Werenfels’ stimmigem Kinospielfilmdebüt jede Dialogzeile auf die Tragödie, die sich in den nächsten Stunden auf dem Rasen einer schicken Villa am Zürichsee abspielen wird.

H.-P., bis anhin erfolgreicher Investmentbanker, lädt seinen Chef Philip und dessen Gattin zum Grillabend in seine Villa. Die Einladung erfolgt nicht ohne Hintergedanken: H.-P. hat sich verspekuliert, für den rettenden Deal, der ihn vor dem finanziellen Ruin bewahren soll, braucht er Philips Einwilligung. H.-P.s Frau Karin weiss nichts vom drohenden Bankrott, die Beziehung zwischen den Eheleuten ist aber auch so schon angespannt genug.

Ein weiterer Gast taucht auf: Toni Gutzler. Er tritt unglaublich selbstsicher auf, als wäre er weit mehr als bloss Philips neuer Praktikant – und schon bald flirtet er ungeniert mit Karin. H.-P. behandelt den Jüngeren betont von oben herab. Sein Versuch, Philip allein zu sprechen, scheitert, dieser hat nämlich ein ganz anderes Problem: Er möchte sein Verhältnis mit Birthe, dem Au-Pair-Mädchen von H.-P. und Karin, beenden. Doch Birthe lässt sich nicht so leicht abwimmeln. Als sie ihn nach einem heftigen Streit mit einer überrissenen Geldforderung erpresst, wendet sich Philip an H.-P., dieser soll Birthe zur Vernunft bringen. Ansonsten droht Philip, ihn in den Ruin zu treiben. Doch die Strategien, die im Geschäftsleben funktionieren, scheitern im Privaten: Der «Deal» der beiden lässt den Abend in einem Fiasko enden.

Der Vergleich von Nachbeben mit Thomas Vinterbergs Festen (DK/S 1998) liegt nahe. Ähnlich wie im Dogma-Film wird auch hier eine Handvoll Figuren mit ihrer Vergangenheit konfrontiert; Fehler werden vertuscht und Machtspiele sollen den drohenden Gesichtsverlust kaschieren. In beiden Filmen münden die gelüfteten Geheimnisse in ein tragisches Ende. Neben diesen frappanten inhaltlichen Parallelen und der Einheit von Zeit und Ort finden sich auf formaler Ebene jedoch wenig Ähnlichkeiten: Die bewegliche, aber nie zu bewegte Kamera, fliessende Übergänge von extremen Nahaufnahmen zu distanziert-beobachtenden Totalen sowie die sorgfältige Farbgebung verraten einen strengeren Formwillen, als es der Dogma-Stil zulässt.

Eine starke Ensembleleistung der durchwegs am Theater geschulten Darstellerinnen und Darsteller macht die Selbstentlarvung der Schweizer Business-Elite zu einem packenden Kammerspiel. Einzig die Figur des Sohnes von H.-P. und Karin, Max, der das Geschehen mit seiner Überwachungskamera verfolgt, wirkt in seiner pubertären Fettleibigkeit seltsam klischiert; zu angestrengt wird er auf seine Funktion als Voyeur reduziert.

Wie bereits im preisgekrönten Kurzfilm Pastry, Pain and Politics (1998) beweist Stina Werenfels erneut ihre Stärke in der genauen Beobachtung zwischenmenschlicher Beziehungen. Dazu kommt das perfekte Zusammenspiel von Form und Inhalt. Beides zusammen macht Nachbeben zu einem der aufregendsten Schweizer Filme der letzten Jahre.

Nathalie Jancso
*1969, Studium der Anglistik, Filmwissenschaft und Germanistik an der Universität Zürich. Arbeitet als Filmredaktorin beim Schweizer Fernsehen und war von 2007 bis 2011 Mitglied der CINEMA-Redaktion.
(Stand: 2013)
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