VERONIKA GROB

VITUS (FREDI M. MURERFREDI M)

SELECTION CINEMA

Im Jahr 2006 wurde Fredi M. Murers Höhenfeuer (1985) von einer Expertenjury der «SonntagsZeitung» zum besten Schweizer Film aller Zeiten gewählt. Sieben Jahre nach dem eher ausufernden Mystery-Krimi Vollmond (1998) hat Murer nun mit seinem rührenden Wunderkind-Drama Vitus einen Film vorgelegt, der durchaus Parallelen zu Höhenfeuer aufweist: Wiederum steht ein Kind im Zentrum, statt der Gehörlosigkeit plagt den jungen Hauptdarsteller nun aber das absolute Musikgehör.

Der kleine Vitus hat einen IQ von schwindelerregender Höhe, löst jegliche Rechenaufgabe innert Sekunden und spielt auf dem Klavier die Werke der grossen Meister; solch ein Genie muss gefördert werden! Während sich Vitus’ Mutter ganz auf die Karriere ihres Sohnes fixiert, flüchtet der Bub immer öfter zu seinem bodenständigen Grossvater. Eine Gehirnerschütterung nimmt Vitus schliesslich als Chance wahr, endlich zum «ganz normalen» Jungen zu werden: Er gibt vor, Intelligenz und Talent verloren zu haben. Nur den Grossvater weiht er in sein Geheimnis ein. Als die Familie aber in finanzielle Nöte gerät, baut sich Vitus eine Doppelexistenz auf.

Im Wunderkind-Mythos verdichten sich die Probleme des Erwachsenwerdens. Einerseits schwingt bei uns Normalsterblichen immer die Bewunderung für das unvorstellbare Talent der «kleinen Klugscheisser» mit, andererseits auch das Bedauern über eine verlorene Kindheit, die durch die Forderungen der Eltern und die Ausgrenzung durch die Gleichaltrigen verstärkt wird. Vitus sichert sich mit seiner Verweigerung all dieser Ansprüche unsere Sympathien. Aus den weisen Gebrauchsphilosophien seines liebevollen Grossvaters scheinen wir die Stimme des Regisseurs zu hören, der aus der Fabel ein rundes, musikalisches Märchen geschaffen hat, das auf vielfältige Art mit der Metapher des Fliegens spielt. Es hat sich durchaus gelohnt, dass Altmeister Murer mit Vitus nochmals neue Wege beschritten hat und zum ersten Mal mit der jungen Produktionsfirma Hugofilm zusammenarbeitete.

Um sein Mammutprojekt, das einst als grosse europäische Koproduktion geplant war, zu entschlacken, hat er zudem Verflixt verliebt-Regisseur Peter Luisi als Drehbuchautor hinzugezogen. Luisi hat geholfen, «die Kathedrale abzubrechen und daraus ein Einfamilienhaus zu machen». Das hat frischen Wind in die Produktion gebracht. Die wunderbaren Bilder von Murers langjährigem Kameramann Pio Corradi und die darstellerische Präsenz von Bruno Ganz würdigen aber auch die Generation des Regisseurs. Bruno Ganz, der das erste Mal mit Murer arbeitete, wird als kauziger Grossvater zum ruhigen Zentrum des Films. Aber natürlich steht und fällt eine solche Produktion mit den Kinderdarstellern: Während Fabrizio Borsani als kleiner Vitus einfach ein «Schnügel» ist, wirkt Teo Gheorghiu als sein älteres Pendant manchmal ein wenig hölzern, ist aber dafür ein virtuoser Klavierspieler. Man mag es dem luftigen, herzerwärmenden Drama gönnen, dass es nicht nur in den Schweizer Kinos zum Publikumsrenner wurde, sondern sich mittlerweile auch als Exportschlager des Schweizer Films erwiesen hat.

Veronika Grob
geh. 1971, hat Literaturwissenschaften studiert und arbeitet als Filmredaktorin bei SF DRS. Mitglied der CINEMA-Redaktion seit 2002.
(Stand: 2018)
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