«Ein Mädchen gibt den Ton an!», titelt die Illustrierte «Sie & Er» Anfang der Fünfzigerjahre, als die Schweizer Jazzpianistin Irène Schweizer am Amateurjazzfestival Zürich ihren ersten Erfolg mit dem eigenen Trio feiert. Wie aussergewöhnlich nicht bloss der Sieg, sondern nur schon die Teilnahme am Wettbewerb für eine Frau damals war, zeigt der Hauptpreis: ein Herrenhemd. Diese Episode aus dem Dokumentarfilm Irène Schweizer von Gitta Gsell (Propellerblume, 1997, Lilo & Fredi, 2004) könnte stellvertretend für das Leben der Porträtierten stehen, die nonkonform und innovativ den anderen immer ein wenig voraus war – ob als musikalische Pionierin und Autodidaktin oder als Kämpferin für die Rechte von Frauen und Homosexuellen. Mit viel Gespür für persönliches Timbre nähert sich Gsell einer Meisterin des (eigenen) Rhythmus, einer sperrigen Persönlichkeit, die zugleich bodenständig und nahbar wirkt. Gerade so, als ob sie nie vom heimatlichen Schaffhausen, wo sie im elterlichen Gasthof während der Kriegsjahre erstmals mit Jazz in Berührung kam, in die weite Welt gezogen wäre, um Musikgeschichte zu schreiben.
In chronologischer Abfolge werden die einzelnen Dekaden seit Schweizers Geburt 1941 mit der Gegenwart verwoben. Eine Kommentarstimme (Gilles Tschudi) begleitet Archivbilder von Wochenschauen und Privataufnahmen und schafft so einen fliessenden Übergang zwischen Zeitgeschichte und Biografie. Auf der Tonebene spielt jedoch die Jazzmusik die erste Geige, die das visuelle Geschehen oft kongenial unterstützt, um schliesslich immer wieder mit den tanzenden Fingern Schweizers bildlich zu verschmelzen. Um die Gegenwart zu repräsentieren, verwendet Gsell hier vor allem Konzertmitschnitte aus jüngerer Zeit, Interviewsequenzen mit Bekannten Schweizers sowie Aufnahmen, die diese privat beim Jassen mit Freundinnen oder beim Schwimmen im Zürichsee zeigen.
Mittels Split Screen wird Vergangenes und Aktuelles, werden Beschreibende und Beschriebene einander gegenübergestellt. Dieser äusserst raffiniert gehandhabten Bilddramaturgie verdankt der Film zahlreiche unterhaltsame und pointierte Momente. Sie symbolisiert aber auch die Wichtigkeit der verschiedenen Ereignisse und Stationen, die nicht nur für die Entwicklung der Privatperson und der Musikerin Schweizer, sondern für diejenige einer ganzen Generation prägend waren. In 75 Minuten gelingt Gsell so eine gesellschaftspolitische wie musikalische Zeitreise: von der dixiebegeisterten Aktivdienstgeneration über die Quasiemigration der legendären Township-Combo The Blue Notes ins Zürcher Jazzcafé Africana bis hin zu den berüchtigten Globuskrawallen und Kunsthappenings der 68er, wo ziviler Ungehorsam noch Pflicht und «Kaputtspiel-Musik» (so nannte man den Freejazz in seinen Anfängen) eine Provokation war.
Gitta Gsell präsentiert uns keinen übermenschlichen Superstar sondern eine stets in Zürich verwurzelt gebliebene Altmeisterin ihres Fachs mit internationaler Ausstrahlung und schweizerischer Bescheidenheit, die ihr ganzes Leben in den Dienst der Jazzmusik gestellt hat. Bezeichnenderweise zeigt das Schlussbild Schweizers Flügel, während die Pianistin sich ausserhalb des Bildrands wohl vor dem hörbar begeisterten Publikum verneigt.