THOMAS HUNZIKER

UNE NUIT BLANCHE (MAJA GEHRIG)

SELECTION CINEMA

Das Bett ist leer. Eine Sirene heult. «Luis stirbt.» Vor dem Haus steht der Krankenwagen. Der Mann liegt auf der Bahre, versucht sich am Leben festzuhalten. Dann: «Luis ist tot.» Zurück bleibt Bernadette. Sie leidet unter Schlaflosigkeit. Dann taucht Luis wieder auf. Eine Erinnerung? Ein Geist? Ein Monster? Im Fenster sieht er, wie Bernadette umherwandert. Auf der Suche nach dem erholsamen Schlaf, nach dem erlösenden Schlafmittel. Luis möchte ihr die ersehnte Schlaftablette bringen. Aber das Schattenspiel, vom gegenüberliegenden Häuserblock auf die Fassade unter Bernadettes Fenster geworfen, lenkt ihn von seiner Absicht ab. Das grüne Leuchtkreuz im Fenster der Apotheke blinkt ununterbrochen weiter. Aber die Schattenspiele lassen die Liebenden nicht los. Bis Bernadette mit einem kreischenden Glas ihren Liebsten zu sich locken kann. Den Schlaf findet sie dennoch nicht.

«Nuit blanche» bezeichnet im Französischen eine Nacht, in der man nicht schlafen geht. Unfreiwillig im Fall der beiden Hauptfiguren aus Maja Gehrigs Stop-Motion-Film Une nuit blanche. Angesiedelt zwischen Albtraum und Märchen entfaltet sich die Liebesgeschichte über den Tod hinaus. Das grüne Kreuz verspricht Hoffnung, aber dunkle Schatten liegen über der Beziehung. Gefangen in der Zwischenwelt sucht Luis den letzten Kontakt, bevor das Licht der Leidenschaft endgültig erlischt. Durchgeschüttelt und gehindert von Geräuschen und Schatten aus seiner Gefühlswelt. Bernadette und Luis sind Nachtgestalten, getrieben von Schmerzen der Trennung.

Gekonnt spielt Gehrig mit den Schattenspielen, mit den Geräuschen und der Musik auf der Tonspur, mit Assoziationen von Trauer und Liebe vor und nach dem Tod. Eingefangen hat sie ihre Schattenwelt in subtilen Bildern, die den Verlust der Figuren überzeugend und nachvollziehbar wiedergeben. Der Animationsstil und die erzeugte Stimmung erinnert dabei an einzelne Werke von Jan Švankmajer oder auch an Street of Crocodiles (1986) von den Quay Brothers.

Für ihren an der HGKL entstandenen Abschlussfilm durfte Gehrig bereits mehrere Auszeichnungen in Empfang nehmen. Neben dem Förderpreis von Suissimage/SSA für den «Besten Nachwuchsanimationsfilm» in Solothurn hat Une nuit blanche auch den ersten Preis am Flip Festival Internacional de Cine de Animación in Valparaíso (Chile) gewonnen und im Schweizer Wettbewerb des Neuchâtel International Fantastic Film Festival den Preis für den «Besten fantastischen Kurzfilm».

Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)
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