2003 präsentierte Regisseur Frédéric Choffat am Filmfestival in Locarno seinen Kurzfilm Genève–Marseille, in dem eine Frau und ein Mann sich im Zug von Genf nach Marseille näherkommen. Drei Jahre später hat der Filmemacher nun das Konzept zum Spielfilm La vraie vie est ailleurs ausgearbeitet, der in Locarno im Wettbewerb «Cinéastes du présent» seine Welturaufführung feiern durfte. Ausgehend von der Frage, ob das wirkliche Leben woanders stattfinde, begleitet Choffat drei Menschen, die in Genf in den Zug steigen und auf der Fahrt durch die Nacht dem Leben begegnen. Abwechselnd werden die Erlebnisse der drei weitererzählt.
Ein junger Mann möchte nach Berlin zu seiner Frau und dem neugeborenen Kind reisen, verpasst aber in Dortmund den Anschlusszug. Im verlassenen Bahnhofsgebäude trifft er auf eine hemmungslose Pariserin, die sein Leben kräftig durcheinanderwirbelt. Gleichzeitig fährt eine Forscherin nach Marseille, wo sie einen für ihre Karriere entscheidenden Vortrag halten soll. Nachdem sie für einen Mann im Zug die Fahrkarte bezahlt, bringt sie ihn nicht mehr los. Im dritten Erzählstrang begibt sich eine junge Italienerin, die in Genf aufgewachsen ist, mit ihrer Katze auf eine Reise nach Neapel, wo sie fortan leben möchte. Ein aufdringlicher Zugbegleiter bringt ihre Vorstellungen von der Welt aber ziemlich durcheinander. Wie unterschiedlich das Leben aus verschiedenen Blickwinkeln beurteilt werden kann, kommt in dieser Episode am deutlichsten zum Ausdruck. Als die Protagonistin sich über die Einschränkungen im «Paradies Schweiz» beschwert, erklärt der Zugbegleiter nur, dass er das Leben in einem Gefängnis dem Leben in einem Mülleimer vorziehe.
Choffat entschloss sich, die Geschichte ohne fertiges Drehbuch mit einer Kleinstequipe zu drehen, nur mit ein paar Ideen im Kopf und der Erfahrung der Schauspieler, «um eine offenere Form auszuprobieren, die es erlaubt, einen Entwurf zu schaffen, der dem Dialog und dem improvisierten Spiel Platz lässt». Choffat spielt denn auch gekonnt mit den Emotionen seiner Protagonistinnen und Protagonisten, lässt sie zwischen Freude und Begeisterung, Wut und Elend hin und her pendeln. In der Konfrontation zweier Personen konzentriert er sich auf die kleinsten Zeichen der Kommunikation. Die Nähe der Kamera erlaubt diesen intimen Einblick in die Gefühlswelt der erfrischend lockeren Schauspieler.
Nicht nur die Handlung und die Schauspieler vermögen zu überzeugen, auch die Kameraarbeit erweist sich als äusserst schwungvoll. Schon auf die erste Einstellung folgt ein erster Höhepunkt: eine knapp vierminütige Plansequenz, in der die Hauptfiguren auf ihrem Weg quer durch den Bahnhof von Genf begleitet werden. Damit gibt Choffat auch gleich den Rhythmus des Films vor. La vraie vie est ailleurs ist eine rastlose Fahrt durch die Nacht, in der selbst die ruhigen Momente in den engen Zugsabteilen ihre Spannung nicht verlieren. Während die Welt vor den Zugfenstern vorbeizieht, ist das wahre Leben überall.