DORIS SENN

MON FRÈRE SE MARIE (JEAN-STÉPHANE BRON)

SELECTION CINEMA

Vinh steht kurz vor seiner Hochzeit mit Sarah. Als Flüchtlingskind in den Siebzigern adoptiert, wuchs er mit Schwester Catherine und Bruder Jacques in einer Schweizer Vorzeigefamilie auf. Seither ist viel passiert: Die Eltern Claire (Aurore Clément) und Michel (Jean- Luc Bideau) sind geschieden, Michel steht vor dem geschäftlichen Bankrott, und die Geschwister haben sich entfremdet. Da melden sich überraschend Vinhs Mutter und Onkel aus Vietnam zu den Feierlichkeiten an, und man beschliesst, Vinh zuliebe den Schein zu wahren und die Familie für die Dauer der Hochzeit wiederzuvereinen.

Was nach klassischer Culture-Clash-Komödie klingt, wird unter Jean-Stéphane Brons Regie zum ebenso leichtfüssigen wie tiefgründigen Familiendrama. So hat Mon frère se marie nicht wenig humoristische Ingredienzien – etwa wenn Michels Villa wieder auf familiäres Zuhause getrimmt wird, wenn die Familie sich den Anstrich katholischer Gläubigkeit verpasst oder die Hochzeitsgesellschaft ad hoc mit Nachbarn, Arbeitskollegen und sonstigen Zufallsbekanntschaften bestückt wird. Doch zum Plot gehören auch die unterschwelligen Spannungen zwischen den Familienmitgliedern, die einen ganzen Film lang eine schwelende Dramatik erzeugen: Nicht nur zwischen Claire und Michel brodelt es ganz gehörig, auch zwischen Catherine und ihrer Mutter liegt eine Menge im Argen.

Mit Mon frère se marie wagt der Dokumentarfilmer Bron den Sprung in den fiktionalen Film, wobei sich in der schweizerisch-französischen Koproduktion durchaus Spuren seiner vorangehenden Werke finden: etwa die Multikulti-Thematik seines La bonne conduite (1999), in dem Bron fünf Fahrlehrer-Schüler- Paare als dokumentarische Comédie humaine porträtierte, oder die spannungsvolle Dramaturgie des erfolgreichen Mais im Bundeshuus (2003), in dem der Filmemacher den Parlamentarieralltag in eine Art Thriller verwandelte.

Auch formal knüpft Mon frère se marie an Brons vorhergehendes Schaffen an: etwa wenn einzelne Sequenzen sich wie eine Art Video- Tagebuch präsentieren (Jacques lässt seine Familienangehörigen ihre Sicht der Dinge frontal in die Kamera erzählen) oder wenn sich die Kadrierung an einen dokumentarischen Gestus anlehnt, die Kamera den Figuren buchstäblich auf den Fersen bleibt und eine visuelle Dynamik erzeugt, welche die Montage mit vielen Jump Cuts noch unterstützt.

Der Handlungsverlauf bleibt dabei erfrischend unvorhersehbar: Bron verzichtet auf jegliche Zugeständnisse an gängige Handlungsschemen – keine grosse Aussprache, keine grosse Versöhnung. Und selbst solch visuelle Schlüsselszenen wie diejenige, in der Michels ausrangierte Fabrik zum farbenfrohen Festsaal à la vietnamienne wird, oder der Ausflug der Grossfamilie zum Matterhorn, dem Schweizer Symbolberg par excellence, werden gegen den Strich gebürstet: Die Festansprachen von Claire und Michel enden im Desaster, und der ominöse Berg präsentiert sich recht unspektakulär als nebelverhangener Sporn in einer Steinwüste. Zwar strapaziert die Fokussierung auf das Hier und Jetzt mitunter etwas die Glaubwürdigkeit des Plots und die Plastizität der Charaktere. Doch bleibt der Film bis zum offenen Ende seiner ungeschönten, möglichst realitätsnahen Sicht der Dinge treu. Dafür steht auch das verhaltene «Fazit» des Films, das sich in einem Foto kristallisiert, das Vinhs Mutter vor dem Matterhorn macht. Dieses zeigt die Familienmitglieder so, wie sie tatsächlich sind: als atomisierte Individuen, die ohne falsche Kompromisse ihren eigenen Weg suchen.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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