MICHA LEWINSKY

SCHREIBEN MACHT TRAURIG

CH-FENSTER

Schreiben macht traurig. Ich würde es niemandem raten. Es ist das Gegenteil von erfülltem aktivem Leben. Schreiben ist schlecht für die Augen, schlecht für den Rücken, schlecht fürs Gemüt. Es trifft alle ausnahmslos. Den Doktoranden, die Journalistin, den Literaturnobelpreisträger. Die Qualen der Schreiberei verteilen sich teuflisch gerecht auf alle Schreibenden unabhängig von Herkunft, Alter oder Talent. Nur die Verfasser von Drehbüchern trifft es noch etwas härter.

Das wusste ich alles schon, als ich an jenem Morgen im Februar 2005 zufrieden unter der Dusche stand und meinen schläfrigen Gedanken nachhing. Und ich dachte nicht im Traum daran, in absehbarer Zeit wieder zu schreiben. Ich hatte ihn schon zu oft erlebt, den immer gleichen Verlauf: Anfangs ist man euphorisch, man hat eine unschlagbare Idee, und es gibt keinen erdenklichen Grund, der gegen eine Oscar-Nominierung oder im Mindesten einen Schweizer Filmpreis sprechen würde. Dann beginnt man, die Idee aufzuschreiben. Doch leider stellt sich heraus, dass die Idee, trotz ihrer Unschlagbarkeit, noch nicht ganz ausgereift ist. Es gibt ein paar periphere Details, die man erst noch lösen muss, bevor man das Werk in seiner ganzen Pracht zu Papier bringen kann. Und nach einer Woche merkt man, dass die peripheren Details doch keine Details sind, sondern leider Teil eines grösseren Problems. Man beginnt, sich sehr schlecht zu fühlen, weil man noch immer nichts geschrieben hat. Und ein gutes Jahr später hat man endlich erkannt, dass das eigentliche Problem bei der unschlagbaren Idee selber lag, die gar nicht unschlagbar, sondern ganz grässlich dumm war. Und man denkt: Das passiert mir nie wieder!

Wie gesagt, das wusste ich alles, an jenem Morgen im Februar 2005. Doch die Dusche war so schön warm und der Kopf noch etwas müde vom ausgedehnten Schlaf, ich war viel zu entspannt um mich zu sorgen. Und ich war gerade über eine Erinnerung gestolpert, die mich rührte. Ein Erlebnis aus meiner Teenagerzeit, ein kleiner Moment nur. Eigentlich eher ein Gefühl als ein Erlebnis. Eine ziellose wohlige Melancholie, die zarte Verliebtheit in ein Mädchen, das ich damals als Teenager nie kennenlernen durfte. Und noch bevor das Duschwasser vollständig durch den verstopften Abfluss gegurgelt war, hatte ich einen Entschluss gefasst: Darüber will ich einen Film machen.

Ich setzte mich also hin und versuchte, die Erinnerung aufzuschreiben. Und dann stand ich wieder auf und machte mir einen Kaffee. Danach versuchte ich noch einmal, die Idee aufzuschreiben, spülte stattdessen aber alles Geschirr und war anschliessend etwas ungehalten, weil meine Mitbewohnerin nach Hause kam und mich bei der Arbeit störte. Ich wusste: Wenn ich aus meiner Idee wirklich einen Film machen will, dann brauche ich äusseren Druck. Keine Muse küsst so effektiv wie eine knappe Deadline. Also rief ich meinen Produzenten an und sagte ihm, dass ich eine Idee für einen Film hätte. Und er freute sich und antwortete: Dann schreib sie auf!

Drei Monate später sass ich in einem Seminarhotel zusammen mit elf weiteren hoffnungsvollen Autorinnen und Autoren. Einige von ihnen wirkten recht fröhlich und hatten eine gesunde Hautfarbe. Daran konnte man unschwer erkennen, dass sie noch keine langjährige Berufserfahrung hatten. Wir nahmen sie trotzdem herzlich auf in unserer Runde.

Und dann erzählten wir uns alle gegenseitig unsere verworrenen aber ambitionierten Ideen. Das mag sich anhören wie eine Selbsthilfegruppe, und es sah auch aus wie eine Selbsthilfegruppe, in Wahrheit war es aber eine neuartige Erfindung, die man «Stoffentwicklungsprogramm» nennt. Und damit die Stoffe schön entwickelt werden, waren vier erfahrene Entwicklungshelfer geladen, so genannte Script Consultants, die sich geduldig unsere Geschichten anhörten. Ich räusperte mich also bedeutungsvoll, als ich an die Reihe kam, und erzählte der versammelten Runde meine Idee. (Das Erzählen von Geschichten ist übrigens auch eine neue Erfindung, man nennt sie Pitchen.) Alle hörten zu. Und ein amerikanischer Script Consultant, der sehr nett war und sehr leicht zu begeistern, sagte begeistert: «Great! I love that story!», und dann wollte er noch wissen, ob es in meiner Geschichte auch einen Antagonisten gebe. Ich errötete, weil ich nicht an einen Antagonisten gedacht hatte. Dabei weiss jedes Kind, dass eine Geschichte einen Antagonisten braucht, weil der Held sonst kein Held ist. Und einen Helden braucht es, weil der Film sonst keine Hauptfigur hat. Und eine Hauptfigur braucht es, weil man sonst als Zuschauer nicht weiss, für wen man sein soll. Und man muss immer für jemanden sein, weil man sich sonst langweilt. Also beschloss ich, einen Antagonisten zu erfinden.

Zwei Monate später hatte ich einen fiesen Antagonisten in meine Geschichte hineingeschrieben. Und da es eine Deadline gab, konnte ich schliesslich dreissig Seiten abgeben, für die ich mich sehr schämte. So fuhr ich ins nächste Seminarhotel. Es bedrückte mich, dass ich offensichtlich nicht mehr schreiben konnte. Ich wusste nicht mehr, wie alt meine Figuren sind, was sie wollen (want), was sie brauchen (need), was sie tun, und warum sie tun, was sie tun, wenn sie überhaupt etwas tun (plot). Nach einer Woche mit den anderen Autorinnen und Autoren, die unterdessen alle mindestens so gequält wirkten wie ich, wusste ich eigentlich nur noch, dass ich ein unglücklicher Wurm war. Am liebsten wäre ich wieder abgereist. Doch mein Produzent hatte im Voraus bezahlt, und es gab zwei warme Mahlzeiten täglich. Also blieb ich.

Ich versuchte mich zu erinnern, warum ich diese Geschichte überhaupt hatte schreiben wollen. Doch es gab keinen triftigen Grund mehr. Ich wusste bloss, dass ich nicht länger Autor sein wollte, nur noch Regisseur. Als Regisseur hat man nämlich immer mit vielen Menschen zu tun, die gute Laune haben und manchmal ein Segelboot, man wird zu Filmfestivals eingeladen und zur eigenen Premiere (was bei einem Autor nicht zwingend dazugehört); als Regisseur ist man nie einsam, und es scheint immer die Sonne. Doch um Regie führen zu dürfen, braucht man ein Drehbuch. Und da gute Drehbücher so rar sind wie zufriedene Autoren, musste ich mein Drehbuch halt doch selber schreiben.

Ich quälte mich also weiter. Der Sommer ging zu Ende, der Herbst kam und dann der Winter. Ich fuhr noch zweimal in ein Seminarhotel, ich schrieb eine erste Drehbuchfassung und dann eine zweite und eine dritte. Ich veränderte das Alter der Figuren, ihren Beruf, ihr Umfeld. Ich erfand neue Figuren, neue Handlungsstränge und viele neue Gründe, um nicht schreiben zu müssen. Ich kontrollierte alle zwei bis drei Minuten meine E-Mails, ich ging manchmal joggen oder ärgerte mich wenigstens, dass ich nicht joggen gegangen war. Ich hatte Ideen für viele andere Filme, die viel einfacher zu schreiben wären (man müsste nur ein paar periphere Details klären). Und ich machte mir oft und ausführlich Vorwürfe und Sorgen. Ich zeigte mein Drehbuch auch etlichen Freunden und Bekannten. Und ich bekam viele interessante Rückmeldungen mit diametral gegensätzlichen Anregungen. Nur in einem waren sich alle einig: Die Geschichte hat Potenzial, irgendwas ist aber noch falsch.

Leider wusste ich nicht mehr, was falsch war und was richtig. Ich wusste nicht mehr, was ich erzählen wollte. Und Erzählen macht nur dann Spass, wenn man weiss, was man sagen will. Doch dazu muss man vorher nachgedacht haben. Und Nachdenken ist eine Beschäftigung, die erwiesenermassen keinen Spass macht. Sonst wäre sie verbreiteter. Zwar gibt es nach langem Nachdenken ab und zu den schönen Moment, in dem man etwas versteht. Doch oft versteht man nur, dass man zu dumm ist, um etwas zu sagen. Und dann bleibt man stumm.

Es muss an einem Februarmorgen im Jahr 2006 gewesen sein, als ich schliesslich aufgab. Ein Jahr, nachdem ich über die unselige Erinnerung gestolpert war. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch. Und diesmal schrieb ich wirklich: einen Brief an meinen Produzenten. Ich entschuldigte mich für mein Versagen. Ich versuchte zu erklären, dass es Geschichten gibt, die einfach nicht sein sollen, und dass meine Geschichte leider eine solche ist. Ich bedankte mich für das Vertrauen und die Freundschaft und das Geld. Ich wünschte ihm viel Erfolg mit neuen Projekten und anderen Autoren. Ich fühlte mich plötzlich sehr erleichtert. Sehr frei. Leider gelang es mir aber nicht, den Brief bis zum letzten Detail so zu formulieren, dass er mir gefiel. Und es war mir auch etwas peinlich, ihn abzuschicken. Also wagte ich mich stattdessen ein letztes Mal an mein Drehbuch. Ich hatte nichts mehr zu verlieren. Und ich schrieb einfach auf, was mir in den Sinn kam.

Einen Monat später hatte ich eine Drehbuchversion, die dann auch wirklich von der Zürcher Filmstiftung gefördert wurde.

Ich war nun sehr euphorisch und begann sogleich, mich intensiv mit dem Casting auseinanderzusetzen. Ich hatte es geschafft. Ich war endlich Regisseur. Ich kaufte mir neue Jeans und einen sportlichen Pullover, der sehr gut zu einem Regisseur passt und falls nötig auch auf ein Segelboot. Ich war guter Dinge, als der Frühling kam, und ich war fassungslos, als kurz darauf eine Absage der Bundesförderung eintraf. In wenigen Sätzen, die mir sehr beleidigend erschienen, wurde mir erklärt, dass mein Drehbuch noch nicht fertig sei und dass ich es noch einmal überarbeiten müsse, um die weitere Finanzierung für den Film zu bekommen. Falls überhaupt. Ich fluchte sehr laut und dynamisch, wie Regisseure fluchen, wenn sie unzufrieden sind. Das half mir aber leider nichts.

Ich musste mich noch einmal hinter die Geschichte setzen. Und was noch schlimmer war: Ich musste zugeben, dass die Kommission Recht gehabt hatte. Die Figuren waren unklar bis unsympathisch, die Geschichte hatte kein klares Ende und überhaupt gab es viel zu viel Dialog.

Ich schrieb zwei weitere komplette Fassungen, die beide nicht besser waren als die vorherigen, nur anders. Weitere Monate vergingen. Ich kaufte einen Ratgeber, mit dem Titel «Fearless Creating», wagte aber nicht, ihn zu lesen. Und beinahe hätte ich auch eine Selbsthypnose-CD gekauft, um aus der Schreibblockade zu finden. Stattdessen klappte ich meinen Computer zu und flog nach Südamerika. Ich ging schwimmen und reiten, ich nahm sogar ein paar Tango-Lektionen. Und ich schrieb kein Wort. Es war wundervoll. Ich konnte komplett abschalten. Nur einmal erreichte mich eine E-Mail, die meine Arbeit betraf. Eine junge Sängerin, die ich für eine Rolle im Film angefragt hatte, schrieb mir, dass sie gerne mitgemacht hätte, dass sie aber nicht glaube, dass aus diesem Drehbuch je etwas Gutes entstehen werde. Und dass sie deshalb leider absagen müsse. Die E-Mail war sehr eloquent, und sie brachte mich einen Tag lang in äusserst schlechte Laune.

Als ich wieder in Zürich war, bat ich die junge Sängerin um ein Treffen. Wir sprachen über die Geschichte, über die Figuren, über Musik und gute Filme. Sie schien im Grunde verstanden zu haben, was ich hatte schreiben wollen. Und plötzlich verstand ich es selber wieder. Einfach so. Ich erinnerte mich an das Gefühl, das ich an jenem Morgen im Februar 2005 gehabt hatte, an die Erinnerung von damals ...

Eine Stunde später sass ich wieder zu Hause an meinem Schreibtisch. Ich öffnete ein neues Dokument und begann, ganz von vorne, das Drehbuch neu zu schreiben. Ohne Kaffee zu kochen, ohne E-Mails zu lesen. Ich schrieb bis morgens um vier. Keine Figur blieb gleich, keine Szene. Und einen Antagonisten gab es auch nicht mehr. Ich schrieb zehn Tage durch, jeden Tag zehn Seiten. Es war ein Rausch, ein grosses Glück. Das Schreiben machte endlich wieder Spass. Alles passte plötzlich zusammen, alles machte Sinn. Ich konnte es wieder. Einfach so. Es waren die besten zehn Tage der letzten zwei Jahre.

Zwei Monate später habe ich den Bescheid des Bundesamtes für Kultur erhalten: Die Förderung wurde gewährt.

Natürlich ist die Arbeit damit nicht abgeschlossen. Das Drehbuch wird sich immer noch weiter verändern und hoffentlich verbessern. Und dann, wenn es am besten ist, wird es Makulatur. Schauspieler werden den Figuren ihre Gesichter leihen, sie werden tun, was ich jetzt bloss beschreibe, man wird es rauschen hören, da wo jetzt nur das Wort «Meer» steht, man wird erschrecken, wenn es knallt. Und die dann unnützen Seiten meines Drehbuchs werden unter der Sonne, die uns Regisseuren immer scheint, langsam vergilben. Ich werde sehr, sehr glücklich sein. Spätestens bis zur Premiere, an der mich mein Produzent beiseite nimmt und mich fragt, was ich denn nun als Nächstes vorhabe. Und ich werde sagen, dass ich so eine Idee hätte, noch nicht ausgereift, aber vom Ansatz her eigentlich unschlagbar.

Micha Lewinsky
geb. 1972, ist Drehbuchautor und Regisseur. Lebt in Zürich und manchmal auch in Berlin.
(Stand: 2007)
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