MARCY GOLDBERG

SICHERHEIT, LANGEWEILE, SELBSTZERSTÖRUNG — FILMEMACHEN IM «GEFÄNGNIS SCHWEIZ»

ESSAY

... weil sie nur im Gefängnis sicher sind, nicht überfallen zu werden ...

Friedrich Dürrenmatt

Die erstarrte Bewegung

Im März 1979 erscheint die CINEMA-Nummer 1/79 mit dem Titel Fahren und Bleiben. In seiner Einleitung schreibt Jörg Huber: «Wir widmen diese Nummer von CINEMA dem Thema, weil einige neue Schweizer Filme auf das Dilemma von Sehnsucht nach der Ferne und dem Verharren in der Enge eingehen – und wir alle in dieser erstarrten Bewegung gefangen sind.» Huber schreibt nicht nur als Filmkritiker, sondern auch als Betroffener, der das Phänomen aus eigener Erfahrung kennt. «Fahren und Bleiben. Man möchte weg, irgendwohin, alles zurücklassen, neu anfangen – aber man bleibt, wo man ist, harrt aus, gewöhnt sich [...] selbst an den Wunsch zu gehen und die Tatsache, dass man bleibt.»

Damit schildert er auf äusserst treffende Art ein Motiv, das sich seit den Siebzigerjahren bis heute in verschiedenen Variationen durch das Schweizer Filmschaffen zieht.1 «Die erstarrte Bewegung» wird durch eine Reihe von Filmfiguren unterschiedlich erlebt. Allen gemeinsam ist der doppeldeutige Begriff der Sicherheit: Die einen wählen ein sicheres, bequemes Leben, die anderen werden durch Sicherheitsmassnahmen gebremst. Während die einen im tristen Alltag ausharren und gar nicht erst versuchen wegzukommen, brechen andere zu Reisen auf, die schliesslich ins Nichts führen. Einige gehen still zugrunde, andere rasten aus und werden mit Gewalt gestoppt. Ob sie aber bleiben oder versuchen, doch zu fahren, das Scheitern ihrer Träume scheint vorprogrammiert zu sein.

Anlass für das CINEMA-Heft 1/79 lieferten hauptsächlich drei Spielfilme, welche Anfang jenes Jahres erschienen waren und je eine Variante der «erstarrten Bewegung» exemplarisch und meisterhaft darstellen: Yves Yersins Les petites fugues (CH/F 1979), Fredi M. Murers Grauzone (CH 1979) und Alain Tanners Messidor (CH/F 1979). Heute gelten alle drei als Klassiker des Neuen Schweizer Films, doch sie haben nichts Nostalgisches an sich. Es sind Klassiker mit bitterem Nachgeschmack, die das Leben in der Schweiz als langweilig, eng und ausweglos schildern.

Im besten Fall begnügt man sich mit «kleinen Fluchten», wie der Knecht Pipe in Yersins Film dies tut. Das Leben scheint an dem älteren ledigen Mann vorübergegangen zu sein. Nach lebenslangem Schuften auf dem Bauernhof kauft er sich mit seiner Altersrente ein Moped, doch seine Einsamkeit wird durch seine neue Mobilität erst recht betont, und nach verschiedenen Unfällen wird auch aus dem Töfffahren nichts. Sogar sein Traum vom Helikopterflug über das Matterhorn endet in der Desillusion: Von der Luft aus gesehen entpuppt sich der Berg als ein Haufen Steine.

Während Pipe sein monotones Leben auf dem Land führt, geht es bei Murer um das bequeme, ruhige und völlig sterile Leben in der «Grauzone» am Rand der Grossstadt, einer hochmodernen Welt aus Beton und Stahl. Sein Protagonist Alfred M. ist Abhörspezialist bei einem Unternehmen, das seine Arbeiter elektronisch überwacht. Im Lauf eines Wochenendes ergreift ihn zunehmend eine bodenlose Trauer, während ein Piratenradiosender von einer grassierenden Epidemie der Melancholie in der Bevölkerung berichtet. Später kündigt Alfred M. aus Protest seine Stelle, und am Ende des Films beobachtet er, wie sein ehemaliger Arbeitsplatz in die Luft gesprengt wird. Doch das bezeichnendste Bild für seinen seelischen Zustand befindet sich in der Mitte des Films und zeigt, wie er – in einen Wald ausserhalb der Stadt geflüchtet – in Fötalstellung auf einem Baum kauert und lautlos weint.

Dramatischer wird der Fluchtversuch der zwei jungen Frauen in Tanners Messidor gezeigt. Die Studentin Jeanne und die Verkäuferin Marie begeben sich aus Langeweile auf eine Reise per Autostopp. Wie später in Thelma and Louise (Ridley Scott, USA 1991) führt die Suche nach Freiheit und Vergnügen in Illegalität und Ausgrenzung. Nachdem die Frauen einem Vergewaltigungsversuch entkommen, stehlen sie einen Revolver. Weil ihnen das Geld ausgeht, brauchen sie nun die Waffe, um sich Essen zu beschaffen, und werden in der Folge von der Polizei gesucht. Der Ausflug wird zur Irrfahrt und schliesslich zur Hetzjagd. Messidor ist eigentlich ein «Anti-Reisefilm» – wie Corinne Schelberts CINEMA-Aufsatz präzisiert (1/79, S. 58) –, in dem die Heldinnen für ihren Wunsch nach Abenteuer und ihren versuchten Ausbruch aus der Enge grausam bestraft werden.

Die Frage bleibt, inwieweit die Frauen für ihr eigenes Scheitern verantwortlich sind. Ihre Entscheidung, ziellos per Autostopp zu reisen, hat auch etwas Masochistisches an sich: Sie sind jedem Fahrer (und es sind tatsächlich alles Männer) ausgeliefert, der sie mitnimmt. Einmal haben sie die Möglichkeit, mit einem hippen jungen Mann auszureisen, doch sie wollen die Grenze nicht überqueren, und so bleiben sie gefangen in ihrer Kreisfahrt durch die Schweiz. Auch bei Pipe und Alfred M. scheint es zum Teil die eigene Haltung zu sein, die ihnen im Weg steht. So bleibt ihnen die Chance verwehrt, ihr Leben positiv zu ändern, und so werden sie zu tragischen Figuren: Sie scheitern an der Grenze im Kopf.

Gefängnis Schweiz

«Die erstarrte Bewegung», so Jörg Huber, «ist weder eine neuartige noch eine typisch schweizerische Erscheinung.» Und doch: In seiner Schilderung ist diese geistige Lähmung eine direkte Auswirkung der gesellschaftlichen und politischen Strukturen der Schweiz:

Die Schweiz bietet keine Wirklichkeit. Die Institutionen des öffentlichen Lebens übernehmen die Funktion allgegenwärtiger Staubsauger: Sie saugen die Wirklichkeit auf. In der sterilen Sauberkeit des ausgewogenen Lebens ist alles wegradiert, was Brüche und Lücken aufweist, was Widerspruch enthält und unmittelbare Betroffenheit auslösen könnte. Was sich nicht nach Tradition und Konvention ausrichtet, erscheint als absurd und verrückt.

«Sicherheit und Wohlstand», «Verständigung und Kompromiss», «Pluralismus und Neutralität» – wir kennen die Positionslichter des sicheren Hafens, in dem man gegen die Wogen der bewegten See geschützt ist, auf einem faulenden Tümpel dahintreibend. Meine persönliche Wirklichkeit und mein gesellschaftlicher Alltag ergeben keine sinnvolle Ganzheit mehr. Ich erfahre das Aufbrechen in disparate Teile und gleichzeitig die Tatsache, dass alles in der Schweiz ja gut geht. [...] Die Möglichkeit zu fahren taucht auf, als einziger Ausweg, als Bedrohung aber auch, denn es ist doch recht bequem hier. Ich habe mich mehr angepasst, als erwartet. Ich wurde zum perfekten Diplomaten mir selber gegenüber. Als verbaler Akrobat balanciere ich sicher über die Abgründe persönlicher Träume hinweg. (Huber, S. 4)

Konformismus und Stabilität, Neutralität und Sicherheit: Diese stereotypen schweizerischen Werte führen nicht nur zu einem langweiligen Leben, sie zerstören gar die Fähigkeit zu träumen. «Ich wurde zum perfekten Diplomaten mir selber gegenüber», schreibt Huber. Anders gesagt: Wie die Filmfiguren hat auch er die gesellschaftlichen Zwänge bis zur Selbstzensur internalisiert.

Die Gesellschaft als Selbstdisziplinierungsmaschinerie: Diese Schilderung erinnert an Michel Foucaults «Panoptikum»-Theorie aus Surveiller et punir: Naissance de la prison.2 Ursprünglich ein Modell für ein Selbstüberwachungsgefängnis, wird das Panoptikum bei Foucault zur Metapher für einen geistig repressiven Staat, der die ständige Möglichkeit der Überwachung benutzt, um seine Bürger zur Selbstkontrolle und Selbstzensur zu zwingen. Eine ähnliche Metapher wählte bekanntlich Friedrich Dürrenmatt in seiner «Havel-Rede» aus dem Jahr 1990, als er die Schweiz der allgemeinen Wehrpflicht und der Fichierung als Gefängnis bezeichnete.3

Weil alles ausserhalb des Gefängnisses übereinander herfiel und weil sie nur im Gefängnis sicher sind, nicht überfallen zu werden, fühlen sich die Schweizer frei, freier als alle anderen Menschen, frei als Gefangene im Gefängnis ihrer Neutralität. Es gibt nur eine Schwierigkeit für dieses Gefängnis, nämlich die, zu beweisen, dass es kein Gefängnis ist, sondern ein Hort der Freiheit, ist doch von aussen gesehen ein Gefängnis ein Gefängnis und seine Insassen Gefangene, und wer gefangen ist, ist nicht frei: Als frei gelten für die Aussenwelt nur die Wärter, denn wären diese nicht frei, wären sie ja Gefangene. Um diesen Widerspruch zu lösen, führten die Gefangenen die allgemeine Wärterpflicht ein: Jeder Gefangene beweist, indem er sein eigener Wärter ist, seine Freiheit. Der Schweizer hat damit den dialektischen Vorteil, dass er gleichzeitig frei, Gefangener und Wärter ist. (Dürrenmatt, S. 20)

Dürrenmatts bewusst groteskes Schweizbild macht das Paradox des Sicherheitsbegriffs sichtbar. Der Sicherheit zuliebe schliesst die Schweiz ihre Grenzen, zwingt ihre Bürger dazu, gleichzeitig Überwacher und Überwachte zu sein, und verunmöglicht dabei deren persönliche Freiheiten und utopische Träume. Im Gefängnis passiert sicher nichts, aber es ist sicher langweilig. Die Grenze befindet sich nun auch im Kopf oder wie Dürrenmatt listig hinzufügt: «Wer dialektisch lebt, kommt in psychologische Schwierigkeiten» (S. 21). Der Gefangene, der gleichzeitig sein eigener Wärter sein sollte, muss eine selbstzerstörerische Selbstdisziplin ausüben.

Langeweile und Selbstzerstörung

Mit dem Thema «Fahren und Bleiben» lieferte das CINEMA-Heft 1/79 eine Bestandesaufnahme und einen Blick zurück. Insbesondere der Beitrag von Bernhard Giger mit dem Titel «Der Enge trotzen – hier und jetzt» (S. 9–23) zeigt, wie sich das Motiv wie ein roter Faden durch die Spiel- und Dokumentarfilme der Siebzigerjahre zieht. Gleichzeitig gab es aber auch einen Blick vorwärts: Sowohl die CINEMA-Nummer 1/79 wie auch die darin besprochenen Filme enthalten seismografische Zeichen der kommenden bewegten Achtzigerjahre. Wie Felix Aeppli erklärt, sind die «Unruhen» von 1980 und danach nicht «aus heiterem Himmel» gekommen, sondern werden in Filmen wie Grauzone oder Messidor thematisiert: «Alle wichtigen Themen, Metaphern, Strategien und Umgangsformen der ‹Bewegung› finden sich bereits in wichtigen Schweizer Spielfilmen der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre. Diese kündigten den bevorstehenden Aufstand unmissverständlich an» (S. 408).4

Allerdings haben auch nach der «Bewegung» viele Filmfiguren immer noch ihre Mühe, sich selber in Bewegung zu setzen beziehungsweise sich irgendwohin zu bewegen. Ein exemplarisches Beispiel ist Clemens Klopfensteins so genannte «Berner-Männer-Trilogie», bestehend bis dato aus den vier (!) Filmen E Nachtlang Füürland (CH 1981), Füürland 2 (CH 1991), Das Schweigen der Männer (CH 1996) und Die Vogelpredigt (CH 2005).5 Darin verkörpert Max Rüdlinger einen Veteranen von ‘68 – und später auch von ‘80 –, der an seinem monotonen Schweizer Alltag leidet und sich ständig darüber beklagt, ohne sich davon befreien zu können. In E Nachtlang Füürland träumt er vom Ausbrechen, Reisen, von der grossen Liebe. Zusammen mit seiner neuen Geliebten Chrigel heckt er einen subversiven Plan aus: Er wird seinen Job als Nachrichtensprecher schmeissen, indem er ein revolutionäres Statement anstelle der Nachrichten vorliest, um dann zusammen mit Chrigel nach Feuerland auszuwandern. Im entscheidenden Moment fehlt ihm aber der Mut: Er liest doch die offiziellen Nachrichten und wird von Chrigel verlassen – er bleibt schliesslich in seiner Bequemlichkeit gefangen. Jahre später, in Das Schweigen der Männer, beschwert er sich darüber, dass in der sicheren Schweiz – «wo die Bundesräte mit dem Tram zur Arbeit fahren» – nie etwas passiert. Doch am Schluss des Films, endlich in Ägypten angekommen und auf einem Kamel an den Pyramiden vorbeireitend, scheint er die «exotische» Landschaft gar nicht wahrzunehmen und sehnt sich stattdessen nur nach dem Wurstsalat seiner Berner Stammkneipe.

Wegfahren wollen, es aber nicht über die Grenze schaffen: Dies bleibt auch nach 1980 ein wiederkehrendes Motiv im Schweizer Film. (Die Grenze, die die Ausländer und Asylsuchenden aus vermeintlichen Sicherheitsgründen aus dem Land ausschliesst, ist ein verwandtes Motiv, doch das ist eine andere Geschichte.) Nach den Heldinnen von Messidor fahren auch andere Figuren im Kreis durch das Land wie etwa der Handelsreisende Krieger in Christian Schochers Reisender Krieger (CH 1981) oder die drei Hauptfiguren von Thomas Imbachs Restlessness (CH 1991). Das Thema der rebellischen Kräfte, die – wie in Messidor – schliesslich gegen sich selber gerichtet und selbstzerstörerisch werden, kommen auch nach den Achtzigerjahren vor, nicht zuletzt in jenen Filmen, welche auf die bewegten Zeiten zurückblicken wie etwa Marcel Gislers De Fögi isch en Souhund / F. est un salaud (CH/F 1998) oder Walo Deubers Ricordare Anna (CH 2005). (Spätere Dokumentarfilme über die Achtziger thematisieren auch oft die selbstzerstörerischen Tendenzen innerhalb der «Bewegung», doch auch dies ist eine andere Geschichte.)

Die erstarrte Bewegung; die Unfähigkeit, in Fahrt zu kommen; das Scheitern der Träume aufgrund des Sicherheitszwangs: Auch in Filmen der letzten Zeit findet man diese kritische Darstellung der Schweiz und die Dramaturgie des Scheiterns. Neu ist aber, dass diese Filme nun auch mit Genrefilm-Elementen jonglieren und einen ironisch-distanzierten Erzählstil vorweisen. Somit sind sie eher der Postmoderne verpflichtet – im Gegensatz zu den Klassikern des Neuen Schweizer Films der Siebzigerjahre, welche grösstenteils eine fast neorealistische Ästhetik verwendeten.

In Xavier Ruiz’ Neutre (CH 2001) zum Beispiel ist es das Genre «Armee- Abenteuerfilm», das durch die Schweizkritik unterwandert wird. Hier geht es um eine Soldatentruppe im WK, die es nicht über die Grenze schafft. Sie steht allerdings in diesem Fall auf der falschen Seite: Weil die Soldaten während einer Übung die grüne Grenze zu Frankreich versehentlich überquert haben, müssen sie versuchen, über denselben Weg zurück in die Schweiz zu kommen, um nicht vom Militärgericht als Deserteure bestraft zu werden. Natürlich endet dieser Versuch, zurück ins Gefängnis Schweiz einzubrechen, in Desaster und Tod: Bei der Überquerung einer gefährlichen Schlucht stirbt ein Soldat und schliesslich landen die restlichen auf einem Minenfeld, wo eine andere Übungstruppe auf sie schiesst. Die Militärübungen werden als sinnlos und absurd dargestellt, die Null-Bock-Haltung der Soldaten wird durch die willkürlichen Autoritätsstrukturen des Militärs noch intensiviert, sodass sie schliesslich nicht mehr in der Lage sind, vernünftig zu handeln, um sich selber zu retten.

Samirs Snow White (CH/A 2005) kombiniert ein kaltes, erstarrtes Schweizbild mit dem Genre des Melodrams, wo selbstzerstörerische Tendenzen ohnehin zum Grundrepertoire gehören. Nachdem seine Heldin Nico, das «poor little rich girl» von der Zürcher Goldküste, sich in den engagierten Westschweizer Hip-Hopper Paco verliebt hat, versucht sie, aus ihrem verwöhnten, aber sterilen und sinnlosen Kokain-und-Gucci-Leben auszubrechen. Doch in den entscheidenden Momenten trifft sie immer wieder die falsche Wahl (hier helfen auch die Konventionen des Melodrams kräftig nach). Statt zu Paco nach Paris zu fliegen, landet sie – wie so viele Schweizer Filmhelden und -heldinnen, von Charles mort ou vif (Alain Tanner, CH 1969) bis hin zu Utopia Blues (Stefan Haupt, CH 2001) – in der psychiatrischen Klinik. In Snow White wie auch in Utopia Blues gibt es ein offenes Ende und möglicherweise ein besseres Leben nach der psychischen Krise – im Gegensatz zu älteren Filmen, welche mit der Einweisung in die Klinik schliessen.6

Skepsis als Widerstand

In seinem Aufsatz «Maddin and Melodrama»7 betont der kanadische Filmwissenschaftler William Beard das subversive Potenzial des Melodrams für einen Filmemacher wie Guy Maddin, der die «Allergie» der meisten kanadischen Filmautorinnen und Filmautoren auf Hollywood-Erzählmuster teilt.8 Melodramatischer Exzess erlaubt es dem skeptischen Filmemacher, heftige Gefühle zu zeigen, ohne seine ironische Distanz zu verlieren. In einer nationalen Kinematografie wie derjenigen Kanadas, wo die meisten Protagonisten gescheiterte Helden, Exzentriker oder einfach Verlierer sind, kann diese Mischung aus Melodram und Gesellschaftskritik besonders wirksam sein. Vielleicht liesse sich ein ähnliches Argument für Samirs Film aufbauen.

Sowohl das kanadische wie auch das Schweizer Kino stehen grösstenteils und absichtlich jenseits der Ideologie- und Erzählmuster des Mainstreams. Road movies, in denen die Reisenden ihre Ziele nicht erreichen beziehungsweise nicht erreichen wollen; gescheiterte Liebhaber; Langeweile und Melancholie: Dies sind typische Motive des kanadischen Kinos, in dem man – so die Filmkritikerin Katherine Monk – lieber die eigene nüchterne Realität zeigt, als dass man «falsche Mythen» zelebriert.9 Im Fall von Kanada wird diese ablehnende Haltung vor allem durch die Nähe zu den Vereinigten Staaten und Hollywoods Vorherrschaft über kanadische Kinoleinwände begründet.10 Was der Vergleich Schweiz–Kanada auf jeden Fall zeigt: Die Dominanz der gescheiterten Figuren in diesen beiden Kinematografien darf man keinesfalls als Zeichen eines Scheiterns seitens der Filmemacher sehen, sondern als bewusste Verweigerung einer Mythologie des Heldentums und des Happy Ends. Im Fall der Schweiz wird das Scheitern der Filmfiguren zum Zeichen des Widerstands der Autoren, weil dieses Scheitern ein Licht auf das Funktionieren des «Gefängnis Schweiz» wirft.

Man darf also die Filmemacher nicht mit ihren Figuren verwechseln. Oder, anders gesagt: Ein Filmemacher kann sehr wohl aus optimistischen Gründen einen pessimistischen Stoff wählen. Wie Bernhard Giger in seinem CINEMA-Aufsatz erklärt, sind auch die Filmemacher mit der Frage konfrontiert: Fahren oder bleiben? In der Schweiz ausharren oder zugunsten der Karriere auswandern (S. 23)? Und sie sind geblieben. Aber: «Sie sind geblieben – nicht weil sie resigniert sind und sich ewig im Kreise drehen, sondern weil sie eingesehen haben, dass eine Abreise nicht viel ändern würde, weder für sie noch für das Land, dem sie den Rücken zukehren. Sie wollen nicht, wie der Neinsager im Film von Yves Yersin, nach Jahren zurückkommen und in der Kälte erwachen. Sie wissen, dass sie an Veränderungen nur hier und jetzt arbeiten, dass sie der Enge nur hier und jetzt trotzen können.»

Martin Schaub nannte es «das Motiv vom Wegfahrwunsch und vom Dableibzwang.» Martin Schlappner und Martin Schaub, Vergangenheit und Gegenwart des Schweizer Films (1896–1987), Basel 1987, S. 107. Schaubs bahnbrechende Arbeit über dieses Motiv in den Filmen der Siebzigerund frühen Achtzigerjahre, und insbesondere sein Kapitel «Die Desertion, eine Versuchung» (S. 107–118) war eine wichtige Grundlage für diesen Text.

Michel Foucault, Surveiller et punir: Naissance de la prison, Paris 1975. Deutsch: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt am Main 1994.

Friedrich Dürrenmatt, «Rede auf Václav Havel zur Verleihung des Gottlieb-Duttweiler-Preises am 22. November 1990 in Zürich», in: Die Schweiz – ein Gefängnis. Die Havel-Rede. Zürich 1997.

Felix Aeppli, «Vom unerreichbaren Ort des unerreichbaren Glücks: Die Achtzigerbewegung im Spiegel des Schweizer Spielfilms», in: Heinz Nigg (Hg.), Wir wollen alles, und zwar subito! Die Achtziger Jugendunruhen in der Schweiz und ihre Folgen, Zürich 2001.

Die beiden ersten in Co-Regie mit Remo Legnazzi.

Vgl. Vinzenz Hediger: «Maintenant, ils font un passage en clinique et, à la fin du film, commencent timidement une nouvelle vie [...].» Ders.: «Lettre de Zurich», in: Trafic, Revue de cinéma, hiver 2002.

William Beard, «Maddin and Melodrama», in: Canadian Journal of Film Studies, 14:2 (2005), S. 2–17.

William Beard (wie oben): «Canadian cinema is famous for its depressiveness and for its distrust of a ‹clean› narrative [...] Canadian cinema’s allergy to classical-realist Hollywood, with its neat categories, moral absolutes, totally ‹solved› plots and happy endings, is obviously shared by Maddin» (S. 14).

Vgl. Katherine Monk: «No ...myth» (S. 5). Dies.: Weird Sex and Snowshoes, and other Canadian film phenomena, Vancouver 2001. «No, we don’t make sugar-coated serials. We make challenging, cerebral, ambiguous and decidedly offbeat films. [...] The point is, they reflect who we are, not someone else’s bogus myth.» (S. 5).

Siehe z.B. Seth Feldman und Joyce Nelson (Hg.), The Canadian Film Reader. Toronto 1977; Christine Ramsay, «Canadian narrative cinema from the margins», in: Gene Walz (Hg.), Canada’s Best Features, Amsterdam 2002, S. 1–24.

Marcy Goldberg
geb. 1969, Studium der Filmwissenschaft, Semiotik und Philosophie, University of Toronto und York University (Kanada). Wohnt seit 1996 in Zürich. Redaktionelle Mitarbeiterin des DOX Documentary Magazine. Mitglied der Programmkommission des Dokumentarfilmfestivals «Visions du réel» in Nyon.
(Stand: 2018)
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