«Que será, será / What ever will be, will be ...», singt eine Frauenstimme den Doris-Day-Schlager der Fünfzigerjahre. Selbstvergessen ist das Lied in den Tag hineingesungen, ungekünstelt und uneben. Mit einer Aufblende erscheint eine Stadtansicht, von unruhiger Hand gefilmt, vorne der Hafen, im Hintergrund Häuserzeilen mit Dutzenden von Wassertanks auf den Dächern. Wackelig und schief streift die Kamera über die Fassadenmalerei mit einem riesigen, an der Hausecke aufgeklappten Frauengesicht, entlang des Maschendrahts, dann zu einem Haufen Altkarton am Strassenrand. Kehrseiten einer Grossstadt. Sanft beginnen die Klangmobilés am Fenster zu glöckeln, ein leichter Windhauch hat die metallenen Schälchen und Münzen gestreift, sodass sie sich nun gegenseitig schubsen. Dann heftet sich die Kamera an die Fersen einer Frau, ihr Rocksaum schaukelt mit jedem Schritt. Sie dreht sich, und unvermittelt regnet es weisse Flocken, als ob der erste Schnee die Welt in eine flauschige Decke hüllte, alles Rohe dämpfte und zudeckte.
Nicht Schnee war es, sondern Blütenblätter, die vom Himmel fielen, klärt Pauline (Jennifer Jason Leigh) ihre Halbschwester Frannie (Meg Ryan) auf. Mit diesem Einstieg ist dem Film In the Cut (AUS/USA/GB 2003) von Jane Campion auch schon sein Grundmotiv gegeben. Die Dinge sind nicht so, wie wir sie gewohnt sind. Pauline ist auch nicht die Hauptfigur, wie der Einstieg vermuten lässt, sondern ihre Schwester – mit Meg Ryan in einer für sie untypischen Rolle besetzt. Ryan mimt die Englischlehrerin Frannie Avery, die Worte sammelt wie andere Leute Schmetterlinge. Für einmal gibt die Schauspielerin nicht «everybody’s darling», sondern beeindruckt als junge Frau, die sich immer tiefer in eine mysteriöse Beziehung verstrickt. Ungewohnt dumpf klebt ihr das Licht am Körper. Keine gleissenden Scheinwerfer, die einen makellosen Teint zaubern, stattdessen wirkt sie leicht schmuddelig, die Haare fallen strähnig auf die Schultern. Haltung, Auftreten, aber auch ihre Beziehungen zu einem ihrer Studenten, zu Detective Malloy (Mark Ruffalo) oder zum verflossenen Lover John Graham (Kevin Bacon) irritieren – einzig ihr Verhältnis zu Pauline wirkt kindlich unverkrampft.
Was mit der Darstellung eines eigenbrötlerischen Stadtlebens beginnt, erfährt eine unerwartete Wende. Eines Tages wartet Malloy auf Frannie, klärt sie über ein Gewaltverbrechen auf: Eine Frau wurde tot im Garten neben dem Haus aufgefunden – der Kopf vom Rumpf getrennt. Zuerst scheint es die Lehrerin nicht allzu stark zu tangieren. Sie wird befragt, doziert dann weiter vor einer Schar Studierender, macht sich am Wochenende auf, Pauline zu besuchen. Doch Frannie hat die Frau schon einmal gesehen. In einer Bar, auf dem Weg zum Klo, hat sie sie bei der Arbeit beobachtet, heimlich zugeschaut, wie sich ihr Kopf im Schritt eines Freiers bewegte: Lange blaue Fingernägel umschlossen rosa Fleisch, sein Tatoo am Handgelenk, Umrisse im Halbdunkel, kaum zu erkennen. Frannie war zugleich angezogen und abgestossen von der Szene, die ihr nicht aus dem Kopf geht. Verstärkt wird der Eindruck durch Detective Malloy, der dasselbe Tattoo trägt: eine Pik, über der Spitze eine Drei, was ihn für sie zum Verdächtigen macht.
Wem kann man glauben? Wem vertrauen? Dabei verwirrt nicht allein die Handlungsentwicklung, vielmehr ist es die Art, wie uns die Ereignisse präsentiert werden. Mithilfe der technischen Stilmittel löst der Film beim Zuschauer ein physisches Unwohlsein aus, Unbehagen macht sich breit. Die Kamera, Beleuchtung und Schnitt widersetzen sich unserem Bedürfnis, uns schnell in der fiktionalen Welt zurechtzufinden. Vielfach ist der gewährte Ausschnitt zu knapp oder die Kamera schwenkt weiter, bevor wir erkennen können, was im Bild alles geschieht. Sehr oft fransen die Bildränder aus; nur ein Teilbereich ist sichtbar, während die Umgebung sich neblig auflöst. Manchmal verändert sich die Tiefenschärfe abrupt. Unvermittelt taucht eine zweite Figur auf, und die erste entschwindet in der Umgebung, sodass wir nicht mehr sehen, wie sie reagiert. Die Kamera diktiert uns den Blick. Das aktiviert physische Missstimmungen, mit denen wir, die Zuschauer, die Ereignisse auf der Leinwand betrachten und interpretieren.
Auch Frannie scheint bedroht – von ihrem früheren Liebhaber John Graham, einem psychisch angeschlagenen Ex-Soap-Darsteller, der nun Arzt und damit seiner Fernsehrolle gerecht werden will. Er agiert neurotisch exaltiert, übertrieben emotional und impulsiv in seinen Gemütsäusserungen. Er spioniert ihr nach, verfolgt sie, beobachtet sie aus Distanz und drängt sich immer wieder in ihr Leben. Mit dem Hündchen auf dem Arm – Mitleid erheischend – schleudert er ihr sein «Fuck! Fuck!» ins Gesicht, als sie ihm das Ende ihrer Beziehung mitteilt. Die Kamera imitiert Johns Verhalten. Wie dieser folgt sie Frannie, lauert ihr mit ihm zusammen im Café auf, und beide rennen ihr dann nach um zu sehen, mit wem sie sich trifft. Sie wird aus dem Auto heraus heimlich beobachtet, durch die Heckscheibe, ohne dass diese Perspektive einer Figur im Film zugeordnet werden könnte. Folgt die Kamera der Protagonistin aus sicherer verdeckter Position, versperren uns immer wieder Gegenstände das Sichtfeld. Kartons, Mülleimer, Strassenschilder, Gebüsch, oder was die Schatten auch immer sein mögen, wischen vor unseren Augen vorbei und verstellen uns für Augenblicke die Sicht. Dies verengt und zerstückelt zugleich den Filmausschnitt und scheint Frannies Aktionsraum erheblich einzuschränken. Manchmal wirkt sie sogar gefangen zwischen unheimlichen Schatten und fransigen Umrissen. Es ist nicht die Position eines stillen Voyeurs, die die Kamera einnimmt, sondern diejenige eines heimlichen Verfolgers, eines Wegelagerers, der jeden Moment aus dem Versteck hervorbrechen und Frannie anfallen könnte. Eine latente Bedrohung wühlt sich atmosphärisch ins Bild, sodass uns ein ängstliches Bangen erfasst, ahnend, dass ihr etwas geschehen wird.
Abrupte Schwenks, wenn die Kamera dem Blick der Protagonistin folgt, aber auch das schnelle Schneiden von einer Person zur anderen, steigern die Erregung. Wie ein Pingpong-Ball «fliegt» die Kamera dem Dialog hinterher, manchmal überholt sie den verbalen Schlagabtausch sogar, um auf dem Gesicht die Reaktion des Zuhörenden abzuwarten. Ungelenk wie die Handkamera eines Amateurs scheint sie bemüht, die Protagonistin im Bild zu halten, die in zügigen Schritten durch die Strassen marschiert. Tatsächlich reist Frannie oft durch die Stadt, von der Schule zu Pauline, mit der U-Bahn zurück in ihre Wohnung. Dabei spielen die Fortbewegungsmittel eine ästhetisch wesentliche Rolle. Ob im Auto der Polizisten, die sie während der Fahrt verhören, ob in der U-Bahn – die Bilder wabern nervös. Ausserdem hält die Kamera die Figuren derart gross im Bild, dass ihre Köpfe an die Bildränder schlagen und immer wieder den Rahmen durchstossen. Kaum versuchen wir uns im Bild zu orientieren, halten wir Ausschau nach optischen Ankern, entgleiten sie uns und wir wissen nicht, ob wir tatsächlich gesehen haben, was wir hätten sehen müssen.
Dass etwas geschehen wird, geschehen muss, hat sich schon länger angekündigt. Trotzdem erschrecken wir, als plötzlich diese Maske aus der regennassen Nacht auftaucht und Frannie von hinten packt. Mit einem Schlag werden wir aus der gespannten Erwartung geschreckt; vor unseren Augen ringen Angreifer und Opfer miteinander. Eben war sie noch in einer Bar, in der sie sich mit Malloy und seinem Arbeitskollegen Rodriguez (Nick Damici) getroffen hatte, aber nachdem sie deren sexistisches Geschwätz nicht länger ertrug, steht sie jetzt wieder auf der Strasse. Die Lichter spiegeln sich in den Tropfen an einer Autoscheibe und in den Pfützen der Strasse. Gleissend hell werden sie vom nassen Asphalt in die dunkle Nacht zurückgeworfen, zentrifugal driftende Lichtkegel, die unsere Sicht verschleiern. Dann hört es auf zu regnen, die Sicht ist klarer und wir für einen Augenblick gelöster, da greift eine schwarze Hand von hinten um Frannies Hals. Wir zucken zusammen, denn schon kämpft die Gestalt mit ihr und wirft sie zu Boden. Frannie taumelt auf die Strasse, wo sie – sogleich von einem Taxi erfasst und auf den Asphalt geschleudert – liegen bleibt. Die ganze Szene ist sehr spärlich ausgeleuchtet, nur Umrisse sind zu erkennen. Dazwischen blitzen ihre Beine, ihr Haar oder ein Arm im Gegenlicht auf. Zerstückelt, in einem staccato-artigen Ablauf wechselnder Einstellungen, spielt sich der Kampf vor unseren Augen ab. Die raschen Bildwechsel lancieren Energieschübe, sowohl mental wie körperlich spürbar. Wir starren gebeutelt, die Muskeln verkrampfen sich, die Herzen rasen und sind endlich erschöpft durch die visuelle und akustische Reizüberflutung.
Die Beziehung zwischen Frannie und Malloy wird zunehmend unberechenbar. Obwohl sie ihn von Anfang an verdächtigt, die Frau mit den blauen Fingernägeln ermordet zu haben, lässt sie sich mit ihm ein. In der Nacht, in der Frannie überfallen wird, holt Malloy sie am Ort des Geschehens ab; bei der Befragung kommen sie sich näher. Sie fühlt sich von ihm sexuell angezogen, und zugleich misstraut sie ihm. Dieses Misstrauen wird durch die Kameraarbeit untermauert. Sprechen Frannie und Malloy miteinander, werden sie von einer intensiv bewegten Kamera aufgenommen, worauf man als Zuschauer mit wachsendem Unbehagen reagiert. Keinen Augenblick lang sind ihre Gesichter ruhig im Bild gehalten. Unentwegt pendelt die Kamera leicht, fast nachlässig, hin und her. Überdies bewegen sich die Köpfe der Protagonisten fortwährend – das ganze Bild ein Gewabere und Gerüttel –, sodass die Reizamplitude ins Unerträgliche steigt. Akut wird es besonders in der Szene am Fluss: Um der Hektik des Büros zu entfliehen, fährt Malloy mit Frannie zu einem stillen Platz am Wasser. «A place where they dump bodies», wie diese meint. Und sie fragt, was in den Säcken ist, die im Wasser treiben. Malloy nimmt seinen Revolver hervor und zielt; es ist nur Hausmüll drin. Dann geht er auf Frannie zu. Die Kamera nimmt seine Position ein und zoomt in Schrittbewegung auf sie zu, die erschrocken auf die Waffe starrt. In Erwartung, dass sie das nächste Opfer sein wird, reagiert sie schockiert. Stattdessen lehrt Malloy sie die Pistole zu gebrauchen, zu zielen, dann konzentriert und entschlossen abzudrücken. Für einen Moment bricht die ganze Unsicherheit in der Szene auf – die Bedrohung wird physisch manifest. Was hat er vor? Ist Malloy so nett und verständnisvoll, wie er sich gibt? Oder ist das Ganze bloss Tarnung, damit der Schrecken umso heftiger über Protagonistin und Zuschauerin hereinzubrechen vermag?
Frannie möchte genau wissen, wie die Frauen ermordert wurden. Was machte der Mörder mit ihnen? «Why do you think knowing’s going to make a difference?», fragt Malloy. Zu wissen, alle Details zu kennen, hilft das? Schützt Kenntnis vor dem Verbrechen? Fühlt man sich sicherer, nur weil man weiss, wie der Mörder Schicht um Schicht der Kehle mit seinem Messer durchtrennt hat, bis sich der Kopf vom Körper lösen liess. Und auch der Film? Werden vor uns nicht dauernd mögliche Hinweise verschleiert? Denn meist ist nur ein schmaler Bereich im Mittelgrund scharf gestellt, während alles, was davor oder dahinter liegt, allmählich zu diffusen Umrissen transgrediert. Dadurch wirken die Bilder einerseits zauberhaft entrückt, andererseits ungemein anstrengend, weil die Objekte und Figuren dauernd in die Unschärfe abzugleiten drohen. Ist es dieses Entschwinden oder die permanenten Wechsel, sind es die schnellen Schwenks oder die wabernden Bilder, die uns an die Nerven gehen, die ein Gefühl der Angespanntheit, der bangen Erwartung hinterlassen? Jedenfalls packt das unsere Aufmerksamkeit und fesselt unsern Blick an die Leinwand fest.
Nach der Ermordung der Schwester ist der Boden gänzlich weggezogen. Nichts und niemandem ist mehr zu glauben. Mit Rehaugen beteuert Malloy seine Unschuld, umso fataler nur. Körperliches Gefühl und Story mischen sich. Hin und her gerissen zwischen Hoffnung und Hysterie – treibt Frannie dem Ende, auf die unheilvolle Verstrickung zu, aus der sie sich nur mit einem beherzten Schuss zu befreien vermag. Und wenn sie zum Schluss erschöpft neben dem angeketteten Malloy niedersinkt – nach schwerer Arbeit heimkehrend – sitzen auch wir erschöpft im Kinosessel.