Arztbesuche wecken im Allgemeinen keine besonders schönen und schon gar keine nennenswerten Erinnerungen. Felix von Muralts Visite médicale widersetzt sich dieser Sitte mit humorvollem Charme und handwerklicher Präzision. Über zehn Jahre liess Felix von Muralt – der sich als Kameramann von über dreissig Filmen einen Namen gemacht hat – seit seinem ersten Kurzfilm Pflatsch (1994) vergehen, ehe er mit diesem Kammerspiel überraschte.
Im «Medizinischen Empfangszentrum für Ausländer», irgendwo in den Pariser Banlieues, trifft für die kurze Dauer eines schwülen Sommertages ein bunt gemischter Haufen Menschen verschiedenster sozialer und kultureller Herkunft aufeinander. Hier landet jeder nichteuropäische Staatsbürger, der in Frankreich leben und arbeiten will. Es ist die letzte Etappe eines unübersichtlichen Parcours durch die Vorzimmer französischer Bürokratie, die es zu überwinden gilt, ehe man in den Genuss einer «Carte de séjour» kommt. Nicht anders geht es dem jungen Helden (Carlos Leal) – als Schweizer bekanntermassen NichtEuropäer – der glaubte, sich dieses langwierigen formellen Prozederes kurzerhand entledigen zu können. Die Gleichheit in der Ungleichheit des Immigrantenstatus schafft Solidarität und Nähe. Und so trifft der Eidgenosse aus der französischsprachigen Schweiz auf eine lebenskluge und attraktive Kamerunerin, mit der eine amouröse Fortsetzung der Geschichte nicht ausgeschlossen scheint.
Vor dem Hintergrund dieser realistischen Szene schafft der Film auf humorvolle Art das Gefühl der Absurdität, welches das Individuum im Umgang mit abstrakter Staatsgewalt befallen kann. Die agile Kamera schafft den Balanceakt zwischen dokumentarischem und fiktionalem Gestus. Sie gleitet um die Protagonisten in einem wie eingefroren scheinenden Dekor, was den Blicken und Gesten eine umso suggestivere Wirkungskraft verleiht. In auffälligem Gegensatz dazu stehen die ausserhalb spielenden Sequenzen, die auf stark rhythmisierte Dramaturgie setzen und so der Hektik des Alltags, aber auch der Bewegungsfreiheit des Individuums Nachdruck verleihen. Die unrealistische Überhöhung der Nebengeräusche schafft eine slapstickartige Leichtigkeit in einer eigentlich bedrückenden Situation.
Felix von Muralt ist mit Visite médicale ein unvergessliches Stück Kurzfilm gelungen, das in 15 Minuten einen Mikrokosmos gesellschaftlichen Zusammenlebens in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt und von sozialem und politischem Engagement zeugt, ohne je das Augenmerk vom eigentlich Wesentlichen, nämlich dem menschlichen Schicksal, abzuwenden, und so der Gefahr entkommt, moralisierend zu sein.