SIMONA FISCHER

NOCTURNE (RICCARDO SIGNORELL)

SELECTION CINEMA

Wenn sich die Nacht über Sils Maria legt, erwachen die Geister des todessehnsüchtigen David (Martin Rapold). Im Angesicht der eigenen Ansprüche an seine Schaffenskraft verzehrt er sich zwischen Genialität und Wahnsinn. David bittet seinen Bruder Gian (Patrick Rappold) in die zeitlose Abgeschiedenheit des Nobelhotels Waldhaus. Unerwartet erscheint dieser jedoch mit seiner elfenhaften Freundin Valeria (Lisa Maria Potthoff). Im Spannungsfeld des angekündigten Freitodes bricht eine metaphysische Weltverlorenheit hervor, der sich die unfreiwillig zusammengefundene Gesellschaft gleichermassen ausgesetzt fühlt. Die unerhörte Bitte Davids, der Inszenierung seines Suizids beizuwohnen, diese Schicksalhaftigkeit kraft einer unausweichlichen Situation, wird von Signorell sensibel in Szene gesetzt und erlaubt dieser schwierigen Thematik, sich im direkten Mimenspiel der Beteiligten zu entfalten.

Als sich Valeria der wertherschen Todesromantik Davids nicht mehr entziehen kann, scheint die unerträgliche Angespanntheit zwischen den Figuren ihre Klimax zu erreichen. Gleichzeitig läutet die Ménage à trois eine Wende ein, die den Beteiligten den Weg eröffnen könnte, sich und der Welt neu zu begegnen.

Der Bündner Filmregisseur Riccardo Signorell hat mit seinem zweiten Spielfilm Nocturne ein Suiziddrama in Schwarzweiss geschaffen. Damit schliesst er an den Themenkreis Tabu an, wie schon in dem vor drei Jahren realisierten Inzestdrama Scheherezade (2001). Was der Regisseur dort anlegte, ist in Nocturne in formaler Hinsicht noch konsequenter realisiert. Wenn einerseits das Schwarzweissmaterial als Spiegel der Introspektion gelesen werden kann, so erzeugt die Wahl des Drehortes, das Grandhotel in Sils Maria, das in seiner leeren Mondänität geradezu absurd wirkt, ein Gefühl der Raum- und Zeitlosigkeit. Eigenartig entrückt scheinen darin die drei Figuren. Was hier seine Darstellung findet, entbehrt jeglicher realer Bezüge und ist bereits im Titel thematisch angelegt: Nocturne, ein nächtliches Stück, das die Nachtseiten der menschlichen Psyche, Identitätsverlust und die Suche danach in den Mittelpunkt des Erzählens stellt. Was in der Literatur spätestens seit der Romantik seinen Niederschlag gefunden hat, findet in der Figur Davids seine zeitgenössische filmische Entsprechung: der Topos des Depressiven. Während die entscheidende Sinnvermittlung den literarischen Bezügen zu Geistesgrössen wie Nietzsche und Rilke, der Musik und den sorgfältig komponierten Bildern oder der Montage und der intimen Darstellung der Schauspieler zugeschrieben wird, findet die Sprache nur in verknappter Form und kurz gehaltenen Dialogen ihren Ausdruck. Die herausragende Kameraarbeit Felix von Muralts bannt in distanziertem Blick die inneren Prozesse bestechend auf die Leinwand und hält die wechselseitige Bedingtheit von Weltabgewandtheit und Nähe in stark rhythmisierter Montage fest. Die Sehnsucht nach Echtheit, nach der puren Essenz des Seins, erinnert nicht nur inhaltlich, sondern auch formal an das Meisterwerk Truffauts Jules et Jim (F 1962).

Riccardo Signorell ist mit diesem Film etwas gelungen, das nur wenige schaffen. Er nimmt sich einem grossen Thema an, der Enttabuisierung des Suizids, und schafft trotz dem konstitutiven Motiv des Leidens Augenblicke der Heiterkeit und des Glücks.

Simona Fischer
geb. 1972. Studium der Germanistik, Publizistik und der Filmwissenschaft. Arbeitet für das Literaturhaus Zürich und als freie Journalistin in Zürich.
(Stand: 2006)
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