NATALIE BÖHLER

HINTERRHEIN (LISA RÖÖSLI)

SELECTION CINEMA

Die Käserei, die Schule und die Post gibt es schon lange nicht mehr; der einzige Treffpunkt im Bündner Dorf Hinterrhein ist ein kleiner Lebensmittelladen, betrieben von einer Frau, die ihn auch aus diesem Grund führt. Neu sind der Militärschiessplatz, dessen Lärm das Dorf zuweilen erbeben lässt, die Autostrasse, die via San Bernardino an Hinterrhein vorbei ins Tessin führt, und die Begradigung des Rheins, der sich früher seinen eigenen mäandrierenden Weg durch die Landschaft suchte. 80 Bewohner zählt das Dorf heute noch. Wo vor einigen Jahrzehnten 17 Familien von der Landwirtschaft lebten, sind es bald nur noch acht.

Der Vergleich zwischen einst und heute bildet den Ausgangspunkt von Lisa Rööslis Dokumentarporträt des Dorfes. Die Filmemacherin hat das Glück, auf wunderschöne Archivaufnahmen aus dem Jahr 1945 zurückgreifen zu können. In archaisch anmutenden Szenen sehen wir den Alltag der Bergbauern vor

60 Jahren: die Bergheuete etwa, das Mähen des wilden Grases an steilen Berghängen über dem Dorf. Später dann, im Winter, der Transport des Heus auf halsbrecherisch steilen, eisigen Schneisen den Hang hinunter – reinste Knochenarbeit. Früher, erzählt der alte Hans Lorez, ein ehemaliger Bewohner Hinterrheins, beim Betrachten dieser Aufnahmen, habe man die schwere «Büez» halt getan, ohne sich über deren Effizienz Gedanken zu machen. Umso weniger verstehe er es, dass die Leute jetzt trotz moderner Melk und Mähmaschinen über die harte Arbeit und den Zeitmangel klagen.

Lisa Röösli zeigt Dorfbewohner, die aus verschiedenen Generationen stammen, diese Aufnahmen und sammelt deren Kommentare. Bei den älteren Menschen tauchen viele Geschichten auf: die Freude beim unverhofften Wiederentdecken eines bekannten Gesichts, die Erinnerungen ans Dorfbild von früher, an Freundschaften und das Bauernleben. Die Aussagen der Jüngeren zeugen vom Zeitwandel. Nach Bildern von Bäuerinnen, die mitten im Winter die dampfende Wäsche am Dorfbrunnen schrubben, meint eine ansässige Hausfrau, es sei eben eng in einem so kleinen Dorf. Da sei es ratsam, Distanz zu halten zu den Nachbarn, um mögliche Konflikte zu vermeiden. Während sie erzählt, stopft sie ihre Wäsche in die vollautomatische Waschmaschine. Durch den kontrastreichen Schnitt, die Sorgfalt der Kamera und vor allem durch die engagierte Nähe der Filmemacherin zu den Dorfbewohnern bleibt der Film stets lebendig und gegenwartsbezogen, ohne zu einer einseitigen, nostalgisch überhöhten Klage über verlorene Werte zu werden.

Was über die Jahrzehnte bleibt, sind die majestätischen Berge, die hoch über Hinterrhein thronen und schweigend den Zeitwandel mitverfolgen. Lorez, der schon lange ins Tessin umgezogen ist, erzählt, er kehre heute noch beinahe jede Nacht in seinen Träumen nach Hinterrhein zurück. Und ein jüngerer Dorfbewohner meint, der Anblick der Berge sei es, der ihm das Gefühl von Heimat gebe. Mit diesem Flecken Erde sei er auf ewig verbunden, und er werde ihn nie verlassen können.

Natalie Böhler
Filmwissenschaftlerin, lebt in Zürich. Mitglied der CINEMA- Redaktion 2002–2007. Promotion zu Nationalismus im zeit- genössischen thailändischen Film. Interessenschwerpunkte: World Cinema, Südostasiatischer Film, Geister im Film.
(Stand: 2021)
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