DANIEL DÄUBER

KLINGENHOF (BEATRICE MICHEL)

SELECTION CINEMA

Der Dokumentarfilm über eine Wohnsiedlung in einem multikulturellen Zürcher Quartier beginnt mit kommentarlosen Bildern von dem Ort, den er die nächsten gut 80 Minuten zum Thema machen wird. Beatrice Michel umreisst als Erzählerin aus dem Off kurz die Situation, wie sie und ihr Lebensgefährte Hans Stürm zum Motiv vor der Haustür kamen, obwohl sie gewohnt waren, die Themen ihrer bisherigen Filme in der weiten Welt zu finden. Einzelne Mosaiksteinchen des Mikrokosmos rund um den grossen Innenhof (von mehreren Mietshäusern) werden ausgelegt. Dabei wechseln sich stille Beobachtungen von (meist namenlosen) Menschen und Interviewpassagen mit Bewohnern der Mietshäuser ab. Es entsteht ein buntes Gemisch. Die «umherstreunende Kamera, die mehr der Neugier denn einem Konzept folgt» (Michel), scheint wie zufällig Lebensgeschichten und kleine Alltagsanekdoten aufzusammeln.

Langsam zeichnet sich ab, dass der umtriebige Dani, genannt «Ratz», als eigentlicher Reiseführer fungiert. Er, der für Ordnung sorgt, hat nicht nur immer eine Lebensweisheit oder einen passenden Spruch in breitestem Zürichdeutsch auf den Lippen, sondern auch ein Händchen dafür, die Leute zusammenzuführen. Damit sorgt er für einen geregelten «Warenaustausch» im Quartier.

Wir begegnen unterschiedlichsten Leuten und erhaschen einen kurzen Blick auf ihre Existenz, ihre Geschichte: Filmschüler Nico, der im kleinen Kiosk hinter der Kasse steht, möchte seine peruanischen Wurzeln zum Thema seines Abschlussfilms machen; Heidi hat einst in der Uhrenindustrie in Grenchen gearbeitet und verreist von Zeit zu Zeit; Herr Minh aus Saigon betreibt einen Take-away; der Kurde Mahdi sucht als junger Mann eine Vaterfigur. Kameramann Hans Stürm bleibt im Folgenden dran, rückt dieselben Menschen immer wieder ins Blickfeld. Nico, Heidi, Herr Minh, Mahdi – sie alle erzählen ihre Geschichte weiter, die Filmemacherin hört gespannt zu, stellt wenige Rückfragen.

Klingenhof schafft das Kunststück, die Schlagworte Heimat und Fremde mit Inhalten zu füllen, persönlichen Geschichten, die teilweise das Klischee in unseren Köpfen erfüllen, dem dann aber auch entgegenlaufen oder sogar etwas Neues etablieren. So kommt Nico nach seiner Südamerika-Reise zum Schluss, dass es zwar wichtig war, seine leibliche Mutter kennen zu lernen. Nun ist seine Heimat aber in der Schweiz, im Mittelpunkt steht seine eigene Familie.

Mutig ist der Einbezug des plötzlichen Todes von Beatrice Michels beruflichem und privatem Weggefährten Hans Stürm, das Bewusstwerden der Vergänglichkeit jeden Lebens. Gegen den Schmerz des Verlustes hilft schliesslich das Geschichtenerzählen, wie ein afrikanisches Sprichwort sagt. Und das beherrscht Beatrice Michel im Film Klingenhof in einer zurückhaltenden, diskret gestaltenden Art.

Daniel Däuber
*1966, hat in Zürich Filmwissenschaft studiert, unter anderem für die Schweizer Filmzeitschreiften Zoom und Film geschrieben und arbeitet zurzeit als Filmredaktor beim Schweizer Fernsehen.
(Stand: 2011)
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