DORIS SENN

NICOLAS BOUVIER, 22 HOSPITAL STREET (CHRISTOPH KÜHN)

SELECTION CINEMA

Nicolas Bouvier war 23 Jahre alt und kam frisch von der Uni, als er 1952 mit seinem Fiat Topolino von Genf aus Richtung Osten losfuhr. Seinen Freund Thierry Vernet, der sich wenige Wochen vor ihm auf die Reise gemacht hatte, traf er in Belgrad. Türkei, Iran, Indien ... am liebsten einmal rund um die Welt. Nicolas wollte schreiben und fotografieren, Thierry malen. Ein Foto zeigt die beiden Abenteurer zu Beginn ihrer Reise – ihren offenen Blick, die Neugier, die sich in ihren jungen Gesichtern spiegelt: Die Welt erfahren, in sie eintauchen, mit Haut und Haaren, das war ihr Ziel.

In rund 14-monatiger Reise gelangten sie bis nach Afghanistan. Doch dann hatte Vernet genug vom Unterwegssein und vor allem genug von der Trennung von seiner Verlobten Floristella Stephani: Er flog nach Delhi und von dort nach Ceylon, wo er sie treffen sollte und ein halbes Jahr später heiratete. Bouvier reiste mit seinem Auto hinterher, gesundheitlich angeschlagen, und schaffte es gerade noch pünktlich zu den Hochzeitsfeierlichkeiten. Das frisch gebackene Ehepaar kehrte in die Schweiz zurück, während Bouvier allein an der Südspitze der Insel zurückblieb. Auf sich zurückgeworfen, vor allem aber von Tropenkrankheiten an den Rand seiner physischen Kräfte gebracht, blieb er neun Monate lang in einem Guesthouse an der Hospital Street 22 – unfähig, seine Reise weiterzuführen oder abzubrechen: «Hier wird Vegetieren zur Lebensform. Sogar intellektuell», schrieb er.

Christoph Kühn, der sich in seinen Filmen vorzugsweise mit Lebensgeschichten beschäftigt – Das ganze Leben als Reise (1990) über Ella Maillart oder Sophie Taeuber-Arp (1993) –, konzentriert sich bei seinem Porträt Bouviers auf dieses Schlüsselmoment in der Biografie des Autors: dessen Aufenthalt im ceylonesischen Galle, der für Bouvier Limbus und Katharsis zugleich darstellt und den dieser erst 23 Jahre später in seinem Buch Skorpionsfisch verarbeitete. Anstatt zu einer Dokumentation der «äusseren» Reise wird Kühns Film so zu einer einfühlsamen Rekonstruktion der inneren Reise Bouviers – auf der Entdeckung des eigenen Ich.

Nicolas Bouvier reinszeniert die Erlebnisse des Westschweizer Autors – seine Einlieferung ins Spital, die Begegnung mit der breithüftigen Krämerin, mit dem Pater –, befragt aber auch Zeitzeugen, etwa den GuesthouseBesitzer, der sich noch gut an seinen Schweizer Gast erinnern kann. Im Zentrum jedoch stehen die Erinnerungen des Schriftstellers (Bruno Ganz liest aus dem Off Bouviers Texte). Der Filmemacher evoziert die Stimmung jener Zeit mit wiederkehrenden Bildern in körnigem Sepiabraun: Im düsteren Licht des Zimmers, unter laufendem Ventilator, bedrängt von Insekten und Skorpionen, war der Reisende in einem Niemandsland gestrandet. «Ich war mir vollkommen abhanden gekommen», schrieb er später. Nicolas Bouvier lässt den halluzinatorischen Zustand, in dem dieser verharrte und in dem alles in Gärung zu sein schien – Bouviers Seele, sein Körper, seine Umgebung – in atmosphärischen Bildern Gestalt annehmen, er fasst dessen Kreisen um sich selbst und verleiht der Zeit Dauer. Kühn gelingt so ein anschauliches Porträt von Bouviers Suche nach den «spirituellen Wurzeln des Reisens» und damit eine subtile Annäherung an Bouviers Wesen und Werk.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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