SIMONA FISCHER

RICORDARE ANNA – ANNA ERINNERN (WALO DEUBER)

SELECTION CINEMA

Walo Deuber, vornehmlich bekannt als Dokumentarfilmer, bewegt sich mit dem Spielfilm Ricordare Anna – Anna erinnern nicht weit von seinem Ansatz weg, Geschichten an das wahre Leben zu knüpfen, basiert die Familientragödie doch auf einer wahren Begebenheit. Der Regisseur wagt sich damit nicht nur an das bewegende Thema Aids, sondern schafft durch die Zweifachführung der Lebensund Liebesgeschichte von Vater und Tochter eine über die Generationen hinwegreichende Erzählung.

Die Erinnerung an Anna (Bibiana Beglau) und ihre Kinder lässt Viktor Looser (Mathias Gnädinger) seit deren tragischem Tod nicht mehr los. Ein Jahrzehnt muss vergehen, bis er aufbricht, um den Ort aufzusuchen, der einst das Leben und das Schicksal seiner Tochter bestimmte: Sizilien. Dorthin zog es Mitte der Achtzigerjahre die rebellische Anna, nachdem sie sich von ihrem Engagement in der militanten Zürcher Jugendbewegung zurückgezogen und das Angebot einer universitären Karriere ausgeschlagen hatte. Letzteres zum Entsetzen des Vaters, der in der Tochter das Glück verwirklicht sehen wollte, das ihm selbst verwehrt blieb. Aber statt auf die erwartete Klärung von Annas Tod stösst er zunächst auf die Spuren ihres Lebens. Allmählich setzt sich für ihn das Bild der Liebesund Leidensgeschichte Annas zusammen. Nachdem sie Zürich verlassen hatte, um an einer Schule zu unterrichten, fand sie in Salvo (Pippo Pollina) ihre grosse Liebe. Der Heirat der beiden sah der Vater mit grossem Misstrauen entgegen. Daran konnte auch die Geburt der Zwillinge Tonino und Paolo nichts ändern. Viktor schien Recht zu behalten: Bald schon sollte Anna ihren Eltern eröffnen, dass sie und die Kinder an Aids erkrankt waren. Viktor zweifelt keinen Moment daran, dass Salvo die Schuld an der Tragödie trägt. So muss die Suche Viktors zwangsläufig ihren Höhepunkt in der Begegnung mit dem Schwiegersohn finden. Schuldzuweisung und Anklage kehren sich schliesslich in einen Akt der Erkenntnis und Versöhnung.

Der Realität dieser zeitgenössischen Familientragödie setzt Walo Deuber zauberhafte, bisweilen geradezu märchenhafte Momente entgegen. So wird es möglich, dass die Suche nach Antworten weder im inneren Monolog des Vaters noch in Gesprächen mit Freunden endet, sondern gleichsam auf wundersame Weise in der Erscheinung der toten Anna wegweisende Ergänzung erhält. Oder die engelhafte Giuseppina, ein mysteriöses Mädchen, unerwartet aus dem Nichts kommend und darin wieder verschwindend, erscheint dem Suchenden als Zeichendeuterin. Allerdings fragt man sich bisweilen, warum der Regisseur sich solcher Taschenspielertricks bedient, statt die Figuren für sich selbst sprechen zu lassen. So wie die eindringlichen Landschaftsbilder, die ihre Wirkung dank der Authentizität der Drehorte nicht verfehlen. Der Einsatz fantastischer Elemente trägt daher eher zur dramaturgischen Unklarheit bei. Der Mut des Regisseurs, sich mit diesem Film dem Konzept des «Entstehens einer lebbaren Wahrheit» anzunähern, ist möglicherweise die grösste Schwäche der Geschichte.

Nichtsdestoweniger hat Walo Deuber mit seinem zweiten Spielfilm in Eigenregie – den ersten, sehr erfolgreichen drehte er 1988 mit Klassezämekunft – einen eindringlichen Film um das Drama der Krankheit Aids geschaffen und ihn bis in die Nebenrollen erstklassig besetzt. Daran vermag auch die Synchronisation der Originalversion (aus Budgetgründen) nichts zu ändern.

Simona Fischer
geb. 1972. Studium der Germanistik, Publizistik und der Filmwissenschaft. Arbeitet für das Literaturhaus Zürich und als freie Journalistin in Zürich.
(Stand: 2006)
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