In seinem Aufsatz «Der Mythus Haufler oder Wie ein Geist Filme heimsucht» hat Roland Cosandey anlässlich der Wiederentdeckung Max Hauflers Anfang der Achtzigerjahre die Rezeption des Malers, Regisseurs und Schauspielers untersucht.1 Der so genannte Neue Schweizer Film befand sich damals in einer Krise – wie so oft, möchte man sagen, ist doch die Rede von der Krise im Schweizer Film beständiger als das Schaffen manch eines Filmemachers. Eine neue Generation von Regisseuren suchte damals nach Vorbildern für ihr eigenes Leiden an der Diskrepanz zwischen freiem künstlerischem Ausdruck und den als beengend empfundenen gesellschaftlichen und politischen Strukturen. Ein Vorbild fand sich in der Person von Max Haufler. Der Argumentation des Neuen Schweizer Films zufolge ist Haufler am Gegensatz von künstlerischer Originalität, wie sie in zwei seiner drei Spielfilme zum Ausdruck kommt (Farinet, 1939 und Menschen, die vorüberziehen, 1942), und dem repressiven Produktionssystem zerbrochen, das jeden nonkonformistischen Ausdruck im Keim erstickt und «den Künstler zu verblödender Auftragsarbeit zwingt (Emil – Me muess halt rede mitenand, 1941), zu frustrierenden Werbefilmen oder zur Tätigkeit als Schauspieler», wie Cosandey spitz bemerkt.2 Hauflers Freitod, der sich 2005 zum vierzigsten Mal jährt, hat die Stilisierung seiner Person zum exemplarischen Opfer des Systems zusätzlich begünstigt: Haufler wurde in den Achtzigerjahren zum Beweis für das Kontinuum des Martyriums im Schweizer Film erklärt.
Cosandeys Dekonstruktion des Mythos Haufler besitzt heute noch Gültigkeit. Der Aufsatz beschränkt sich allerdings auf die Person Haufler und seine Spielfilme; seine rund zehn zwischen 1943 und 1954 entstandenen Auftragsfilme werden ausgeklammert.3 Im Folgenden soll das Feld erweitert und die grundsätzliche Haltung des Neuen Schweizer Films gegenüber dem Alten und insbesondere gegenüber dem Auftragsfilm anhand von zeitgenössischen Kritiken und Aussagen von Betroffenen untersucht werden. Der Konflikt entzündet sich im Wesentlichen an zwei scheinbar unvereinbaren Konzepten: Autorenfilm und Auftragsfilm. Neben Haufler rücken dabei andere Vertreter des Alten Films wie Hans Trommer und Otto Ritter in den Blick. Auch sie sind in den Siebziger- und Achtzigerjahren vom Autorenfilm «heimgesucht» worden – wenn auch mit weniger Erfolg.
Der Übergang vom Alten zum Neuen Schweizer Film in den Sechzigerjahren wird gerne als radikaler Bruch und totaler Neuanfang, als «Jahr Null» bezeichnet.4 Diese Auffassung leugnet Kontinuitäten, die beispielsweise auf personeller Ebene vorhanden waren. Wenn nicht von einem Bruch, so kann doch von einem Graben gesprochen werden; einem Graben, den die neue Generation von Filmemachern in den späten Fünfzigerund Sechzigerjahren aufgerissen hat: demjenigen zwischen Auftrags und Autorenfilm. Die seinerzeit radikale Ablehnung des Auftragsfilms ist kein spezifisch schweizerisches, sondern ein internationales Phänomen, das eine Formulierung und Etablierung des so genannten Autorenfilms überhaupt erst ermöglicht hat. Die Propagierung des Neuen Films, des Autorenfilms, vollzog sich über die Negierung des Alten, des Auftragsfilms, als einer überholten, ideologisch und künstlerisch inakzeptablen Produktionsform. Alexander J. Seiler etwa, der gemäss eigener Aussage selber den «beschwerlichen und künstlerisch gefährlichen Umweg über den Auftragsfilm» nehmen musste, bevor er mit Siamo italiani 1964 seinen ersten freien Film drehen konnte, sprach dem Auftragsfilm aufgrund seines werbenden Charakters jede «künstlerisch-geistige» Funktion ab.5 Man kann indes noch einen Schritt weiter gehen und behaupten, dass der «freie» Autorenfilm seine Existenz dem «unfreien» Auftragsfilm, sosehr er ihn auch verpönte, zu verdanken hat. Lange bevor die neue Generation von Filmemachern auf den Plan trat, machten sich Branche und Presse für eine staatliche Filmförderung stark, deren Einführung 1963 die Finanzierung des unabhängigen Filmschaffens sicherte.6 Vor diesem Datum bestand, von wenigen Ausnahmen abgesehen, das gesamte dokumentarische Schaffen aus Filmen, die im Auftrag von Institutionen, Verbänden und Privatfirmen aus Tourismus, Wirtschaft, Industrie und Politik entstanden sind.7
Mit seiner Ablehnung des Auftragsfilms hat der Neue Schweizer Film somit auch die einheimische Geschichte des nichtfiktionalen Films verworfen und stigmatisiert – ein Akt mit Langzeitfolgen für die Filmhistoriografie (nicht nur in der Schweiz), ist doch das Interesse am früheren dokumentarischen Film erst in den Neunzigerjahren erwacht.8 Zudem hat das Autorenkonzept, das den Film ausschliesslich als «Medium persönlicher künstlerischer Aussage und zugleich gesellschaftskritischer Analyse» gelten liess, die eigene Abhängigkeit vom Auftragsfilm verleugnet.9 Damals wie heute bildet dieser aber das Rückgrat der einheimischen Filmbranche, indem er die produktionelle und technische Infrastruktur bereitstellt sowie Kontinuität und damit Qualität sichert.
Das Bedürfnis der neuen Generation nach einem filmischen Neuanfang gipfelte in Ausgrenzung: Der Auftragsfilm wurde 1969 offiziell von den Solothurner Filmtagen ausgeschlossen, weil er als Produkt der Industrie «weder künstlerische noch informative Werte» aufweise.10 Es ist allerdings nicht in erster Linie dem Autorenfilm zu «verdanken», dass der Auftragsfilm im Verlauf der Sechzigerjahre zusehends von der öffentlichen Bildfläche verschwunden ist. Dies hängt vielmehr mit der Abschaffung des Beiprogramms in den Kinos zusammen, wo Auftragsfilme ihren Stammplatz hatten, sowie mit der Etablierung des Fernsehens und schliesslich mit dem Wesen des Auftragsfilms, der häufig für ein spezifisches Publikum realisiert und in nichtkommerziellen Kontexten aufgeführt wird. Dass der Auftragsfilm in Form von Werbefilmen, Clips und Trailern seit 2004 an den Solothurner Filmtagen wieder Teil des offiziellen Programms ist und weder Branche noch Presse den geringsten Anstoss daran genommen haben, ist als Zeichen einer grundlegenden Veränderung der Verhältnisse zu lesen.11
Nach der Anfangseuphorie des Autorenfilms folgte mit der zweiten Generation von unabhängigen Filmemachern in den Achtzigerjahren eine Phase der Ernüchterung, hervorgerufen durch Sachzwänge, die eine historische Rückbesinnung begünstigten und schliesslich zur oben geschilderten Mythisierung Hauflers führten. Man solidarisierte sich mit ihm, weil sein «Scheitern» als exemplarisch für den Schweizer Film empfunden wurde.12 Ein Scheitern, das nach damaliger Auffassung darin bestand, dass Haufler aufgrund von Engherzigkeit und Kurzsichtigkeit der Produzenten nur drei Spielfilme hatte drehen können und sich im Auftragsfilm verdingen musste. Gemäss Martin Schaub verlangte «die Schweiz [...] von ihm Anpassungsleistungen», die man nur «mit einer gewissen Empörung» zur Kenntnis nehmen könne [Hervorhebung im Original].13 Anpassungsleistungen wie etwa Der Geist von Allenwil aus dem Jahr 1950, ein Werbekurzspielfilm auf der Basis des äusserst beliebten Radiohörspiels Polizischt Wäckerli mit Schaggi Streuli, Walburga Gmür und Armin Schweizer, der für die Hausfrauennachmittage der Firma Sunlight bestimmt war.14 «Und was machte Haufler mit dem wirklich plumpen [...] Stoff?», fragte Martin Schaub: «Er macht Film, es treibt einem beinahe die Tränen (der Trauer und der Wut) in die Augen. Da gibt es Renoir-Zitate, beinahe expressionistisch anmutende Kameraperspektiven, eine Inszenierung der Landschaft, die einen besseren Stoff verdient hätte.» [Hervorhebung im Original]15 Aus dieser Trauer spricht die Überzeugung, Haufler habe sein Talent im Auftragsfilm verschwendet, ja verschwenden müssen. Und die Wut rührt daher, dass das im «unfreien» Auftragsfilm gegebene Versprechen im «freien» Autorenfilm unerfüllt blieb: Haufler konnte sein letztes Projekt, die Verfilmung des Romans Der Stumme von Otto F. Walter, nicht realisieren. Tatsächlich sind Hauflers Auftragsfilme geprägt von Sorgfalt und einer spürbaren Lust am Filmemachen – von verdrossenem Dienst nach Vorschrift zwecks Nahrungsbeschaffung jedenfalls keine Spur. Dies wird vielleicht am deutlichsten sichtbar in Das Gesetz der Strasse von 1946, einem knapp 20-minütigen Unfallverhütungsfilm im Auftrag der Polizeidirektion des Kantons Zürich. Der Film ist ein Fest der Inszenierung, ein einziges Spektakel von Unfällen in der Stadt und auf dem Land, ein edukativer Actionfilm.16 Otto Ritter, der bei Hauflers Auftragsarbeiten für die Kamera verantwortlich war, bezeugt die Freude, mit der Haufler den «grand metteur en scène» gespielt habe. Gleichzeitig berichtigt Ritter Hauflers Image als unberechenbarer, im Umgang schwieriger Regisseur: «Stets war mit Haufler ein gutes Arbeitsklima vorhanden, weil er es verstand, mit jeder Sorte von Vorgesetzten ein gutes Verhältnis zu schaffen.»17
Die Achtzigerjahre zeichnen sich im Gegensatz zu den Sechzigerjahren durch ein gesteigertes Interesse an der eigenen Filmgeschichte aus. Dabei geriet unweigerlich auch der Auftragsfilm in den Blick, wie u. a. aus der Retrospektive «Vendre la Suisse» am Filmfestival von Nyon 1984 hervorgeht.18 Im Zuge dieser Rückschau wurden Werke und Personen, die Gnade vor der neuen Generation fanden, als filmische «Rosinen» herausgepickt respektive als Autorenfilmer «avant la lettre» geehrt. Geblieben ist, aufgrund der politischen Positionierung der damaligen freien Filmszene, die abschätzige Haltung gegenüber dem Auftragsfilm. So konnte Schaub zwar anerkennen, dass Auftragsfilme keineswegs durchs Band (qualitativ) schlecht waren; (moralisch) böse blieben sie allemal.
In diesem von der Unverträglichkeit von Kunst und Kommerz geprägten Klima musste es geradezu subversiv anmuten, dass Martin Schlappner, der renommierte Kritiker der Neuen Zürcher Zeitung und publizistische «Anwalt» des Alten Schweizer Films, dem Auftragsfilmer Hans Trommer Autorenstatus zusprach und sein dokumentarisches Kurzfilmwerk als «œuvre» betrachtete. Zwar habe er nur einen einzigen Spielfilm drehen können, der ganz «seinem Anspruch als ‹auteur de cinéma›» gerecht wurde19 – Romeo und Julia auf dem Dorfe, 1941 –, doch habe er sich auch im Auftragsfilm als Autor verstanden und sich gegen Auftraggeber und Produzenten durchgesetzt: «Hans Trommers Auftragsfilme [...] sind die Filme eines unverwechselbaren Autors.»20 Autorenstatus im Auftragsfilm? Die Autorentheorie Schlappners klopfte Martin Schaub, Kritiker des Tages-Anzeigers und Promotor des Neuen Schweizer Films, aus dem Busch. Schaub gestand Trommer zwar eine Handschrift und seinen Auftragsfilmen einen eigenen Stil zu, eine «verträumte schöne Poesie».21 Doch immer müssten sie sich in den Dienst eines Pflichtenheftes stellen, immer trete das «höhere Interesse» des Auftraggebers zu deutlich in Erscheinung: «Und der Trommersche Pessimismus, seine kleine Musik in Moll bleiben Schmuggelware.»22
Bei diesem Disput stellt sich die Frage, was denn einen Autor ausmacht. Schlappner hielt es mit dem romantischen Autorenkonzept der Cahiers du Cinéma-Kritiker der Fünfzigerjahre, welche Autorschaft auf die filmische Form bezogen und diese erstmals amerikanischen Filmemachern wie Samuel Fuller, Nicholas Ray, Douglas Sirk und Alfred Hitchcock attestierten, die trotz der Einschränkungen des Studiosystems Hollywoods eine eigene Handschrift entwickeln konnten.23 In Analogie zu Hollywood begriff Schlappner den Auftragsfilm als ein geschlossenes Produktionssystem, das gewisse Bedingungen stellt und Sachzwänge schafft, in dessen Rahmen jedoch die Umsetzung gegebener Stoffe in einem eigenen, spezifischen Stil erfolgen kann. Betrachtet man die zwölf Auftragsfilme, die Trommer meist mit Otto Ritter hinter der Kamera zwischen 1943 und 1968 für Pro-Film, Gloria-Film und Heinrich Fueters Condor-Film realisiert hat, aus dieser Perspektive, so ist Schlappner zweifellos zuzustimmen.24 Von Luzern und seine Internationalen Musikfestwochen (1946, im Auftrag der Musikfestwochen) und Sül Bernina (1948, für Pro Telephon) über Das Telephonkabel (1952, im Auftrag der PTT), Auge am Visier (1954, für den Schweizerischen Schützenverein) und Landschaft im Umbruch (1956) bis hin zu Zürcher Impressionen (1960, für den Verkehrsverein Zürich) lässt sich eine distinktive Form erkennen, eine musikalisch-poetische Ästhetik, oder in Schlappners Worten, ein «visuelle[r] Klang des Lyrisch-Epischen».25
Für Martin Schaub hingegen genügte das Kriterium der Form zur Erlangung des Autorenstatus nicht. Er forderte Form und Inhalt, sprich freie Themenwahl (wobei diese in den Achtzigerjahren unter dem Diktum des sozialkritischen und politischen Engagements so frei möglicherweise gar nicht war). Zudem wurde das französische Autorenkonzept der Fünfzigerjahre, das Autorschaft in Abhängigkeit eines Studiosystems als möglich erachtete, vom Neuen Schweizer Film verworfen. Es galt vielmehr das Credo des Autors als Drehbuchschreiber, Realisator und Produzent in Personalunion, um sich erfolgreich den kommerziellen Zielsetzungen und damit der Abhängigkeit von Produktionsgesellschaften zu entziehen und unbeschränkte künstlerische Freiheit zu erlangen. Hier jedoch lässt sich einerseits kritisch anmerken, dass auch im Auftragsfilm der Vierziger- bis Sechzigerjahre die Verfilmung eigener Drehbücher gang und gäbe war. Conrad Arthur Schlaepfer, Besitzer der Produktionsfirma Pro-Film, vereinte gar die Funktionen von Produktion, Buch und Realisation auf sich. Andererseits ist anzufügen, dass es eine absolute Freiheit – zumindest im Film, der wohl teuersten aller Ausdrucksformen – letztlich gar nicht gibt. Auch der so genannte unabhängige Film ist abhängig von vielerlei Faktoren wie der Verfügbarkeit von Technik, Know-how und Geldgebern, seien es nun private Stiftungen, sei es die öffentliche Hand. So gesehen ist auch der freie Autorenfilm eine Spielart des Auftragsfilms. Was den einen vom andern unterscheidet, sind einzig die Auftraggeber – und selbst das nicht immer, vergaben und vergeben doch auch staatliche und private Einrichtungen Filmaufträge. Den Autoren- gegen den Auftragsfilm auszuspielen ist in der Theorie eine ebenso vertrackte Sache wie in der historischen Praxis und wenig fruchtbar dazu. Wenn Schaub die Handschrift Trommers als «Schmuggelware» bezeichnet, so weist er ihr die Funktion einer ästhetischen Opposition zu – Stil als subversives Element sozusagen – und dem Auftragsfilm den Status eines Exils für verhinderte Autorenfilmer. Auch diese Auffassung ist nicht neu, nur lautete die Bezeichnung für den Dokumentar- und Auftragsfilm in den Nachwehen der Geistigen Landesverteidigung nach dem Zweiten Weltkrieg noch «Reduit» statt Exil.26
Im kulturell und gesellschaftspolitisch verhärteten Klima der Achtzigerjahre kämpfte der Neue Schweizer Film gegen ein stures, als verkrustet empfundenes Establishment an. Politisch der linken Seite verpflichtet, war die Haltung der Autorenfilmer entsprechend geprägt von einer latenten Wirtschaftsfeindlichkeit, die den Blick auf den Auftragsfilm bestimmte – letztlich aber auch verstellte. Um ihm gerecht zu werden, ist meines Erachtens eine sachbezogene Haltung vonnöten und ein Perspektivenwechsel dazu. Betrachtet man die formale Eigenwilligkeit des Teams Trommer/Ritter nämlich aus der Sicht der Auftraggeber, so handelt es sich bei dieser «Schmuggelware» keineswegs um ein subversives Element, sondern um exakt das, was der Auftraggeber wollte. Für diese These sprechen einerseits die Freiheiten, die sich Trommer in der Formulierung und Umsetzung von Aufträgen erarbeitet hat, andererseits der Erfolg der 1947 gegründeten Condor-Film in den späten Vierziger- und Fünfzigerjahren. Unter ihrem Dach formierte sich mit Regisseur Victor Borel und Kameramann René Boeniger eine zweite Equipe, deren Filme im Vergleich zu Trommer/Ritter etwas sachlicher, nüchterner und weniger verspielt, aber ebenso professionell waren und den Auftraggebern dadurch eine echte Alternative boten.27 Qualität ist Qualität, auch im Auftragsfilm. Dafür gewannen die Condor-Produktionen regelmässig Preise an internationalen Festivals, und dafür wurde Hans Trommer 1958 und 1963 mit dem Filmpreis der Stadt Zürich geehrt. Die zeitgenössische Presse aber echauffierte sich, dass «ein so begabter, ja begnadeter Filmgestalter [...] nicht mit Aufgaben betraut wird, die dem grossen Mass seines Talents entsprechen».28 Für Hanspeter Manz ist «der Fall Hans Trommer» zum «bleibenden Skandal des Schweizer Films» geworden.29 Dass aus dem «Skandal» Trommer kein Märtyrer Trommer wurde, lässt sich einfach erklären: Trommer hat noch gelebt und sich gegen eine Vereinnahmung gewehrt. Haufler war schon tot, als der Neue Schweizer Film sich seiner erinnerte.
Tatsächlich bestand Trommer darauf, stets erfolgreich gegen Konzessionen und Kompromisse gekämpft zu haben – was im Auftragsfilm offenbar sehr viel einfacher zu bewerkstelligen war als im Spielfilm. Jedenfalls bezeichnete er sein zweites und letztes Spielfilm-Engagement, Zum Goldenen Ochsen (1958), als einen «véritable cauchemar», weil «compromis sur toute la ligne», so dass er weitere Spielfilm-Angebote dankend ablehnte.30 Was es mit der Arbeit im Auftragsfilm auf sich hat, beschrieb er wie folgt: «So wie Sie zu einem Zeichner gehen und ihm sagen, sie möchten eine Zeichnung von einem Baum. Wie der aussieht, das ist Ihre Sache. So ist das mit dem Auftragsfilm zu verstehen. Einen freien Film gibt es im Grunde genommen gar nicht. Entweder ich kann etwas aus einer Sache machen, oder ich kann es nicht.»31 Trommers Romeo und Julia auf dem Dorfe galt zusammen mit Hauflers Farinet in den Siebzigerund Achtzigerjahren als «echter Wertmassstab für das schweizerische Filmschaffen» – eine Einschätzung, die u. a. von Roland Cosandey revidiert worden ist. Was aus der damaligen Optik als ein Absinken der beiden verhinderten Autorenfilmer in die Niederungen des Auftragsfilms empfunden wurde, musste zwangsläufig in Reden von brachliegendem Talent und vertaner Chance der einheimischen Filmproduktion münden.32 Otto Ritter, der selber eine Vielzahl von Filmen in eigener Regie herstellte, hielt den Grabenkampf zwischen Autoren- und Auftragsfilm für «Unsinn» und verwahrte sich gegen das ihm verliehene Label des unfreien Filmschaffenden: «Si mir dänn Sklave, Schuelerbuebe gsi?»33 Die Autorenfilmszene bot der alten Generation der Auftragsfilmer nur die Opferrolle an; die Anerkennung für ihre Leistungen, die sie verlangt hätte, blieb ihr verwehrt.
Was der Autorenfilm der Sechzigerbis Achtzigerjahre übersehen hat, vor dem Hintergrund einer ideologisch polarisierten Gesellschaft aufgrund seines kulturellen und politischen Selbstverständnisses hat übersehen müssen, ist, um Martin Schlappner zu zitieren, die «kulturelle Substanz» des Auftragsfilms.34 Im historischen Rückblick sind Auftragsfilme zeittypische Darstellungen von Alltagserfahrungen, Mentalitäten und Realitäten, die Aufschluss geben über wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Befindlichkeiten und somit einen wertvollen Bestandteil des audiovisuellen Erbes der Schweiz bilden.
Die auf verschiedenen Ebenen stattfindenden Entwicklungen seit Mitte der Achtzigerjahre haben zu einer ideologischen Entschärfung unterschiedlicher Auffassungen, einer gegenseitigen Annäherung von Positionen und zu einer partiellen Durchmischung kultureller Milieus geführt. Die heute jüngste Generation freier Filmemacher kennt kaum noch Berührungsängste. Sie ist offen gegenüber der Rückkehr des Produzentenmodells, experimentiert mit diversen Formen von Sponsoring der Privatwirtschaft und feiert den populären Film. Damit knüpft sie einerseits an jenen Faden an, den der Neue Schweizer Film in den Sechzigerjahren durchtrennt hat, und profitiert andererseits von den politischen, institutionellen und strukturellen Errungenschaften des Autorenfilms. Anzeichen einer Synthese von Altem und Neuem Schweizer Film? Jedenfalls ist aus dem Kulturfaktor Film seit Ende der Neunzigerjahre wieder vermehrt ein Wirtschaftsfaktor geworden. Finanzieller Erfolg gilt zunehmend als Massstab, staatlich untermauert durch die Einführung der erfolgsabhängigen Filmförderung 1997 und indirekt unterstrichen durch die Abschaffung der Qualitätsprämien 2003. Im Lauf dieser Entwicklungen ist auch der Graben zum Auftragsfilm weitgehend zugeschüttet worden: Auftragsund freier Film sind verträgliche, durchlässige Produktionsformen geworden. Insgesamt hinterlassen die aus der Perspektive des Auftragsfilms im Überblick betrachteten fünfzig Jahre Schweizer Filmgeschichte den Eindruck, dass sich das Verhältnis des Autorenzum Auftragsfilm in starker Abhängigkeit vom Zeitgeist entwickelt und Rückschlüsse auf die Befindlichkeit des freien Films erlaubt. Der Auftragsfilm, die Gretchenfrage des Autorenfilms.