JOHANNES BINOTTO

VIRIDIANA (LUIS BUÑUEL, MEX/E 1961)

MOMENTAUFNAHME

Das Springseil. Unter all den rätselhaften Objekten Buñuels erregt und beunruhigt dieses mich am meisten. Alles scheint an diesem Seil und seinen Holzgriffen zu hängen. Der vergewaltigende Bettler, der es sich als Gurt umgebunden hat, die Erinnerung an die Zitzen der Kuh, welche die Nonne Viridiana nicht berühren mag, das verträumte Spiel des Kindes, die Nekrophilie des Onkels. Dieser lächelt, bevor er sich mit dem Springseil am Baum erhängt. Die Erotik, die von diesem Objekt ausgeht, ist die Erotik des Zusammenbruchs. Wie das Spiel eine nutzlose Vergeudung von Kraft, eine Verschleuderung ist, so ist es auch die Lust, die mit dem Spielzeug zusammenhängt. Eine blasphemische, diabolische Lust der Verschwendung, deren Ziel nicht «la petite ...», sondern «la grande mort» ist. Die Erregung – so meint man gerne – haftet immer nur am Neuen. Doch mit jedem Wiederauftauchen des Springseils, mit jedem Schwung gewinnt es nur an unheimlicher Obszönität. Denn die Lust sucht nicht das Neue, sondern die entkräftende Wiederholung. Vierundzwanzig Mal pro Sekunde.

Johannes Binotto
*1977, Dr. phil., Kulturwissenschaftler, freier Autor und Mitarbeiter am Englischen Seminar der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte sind Filmtechnik und Psychoanalyse, sowie die Schnittstellen zwischen Raumtheorie, Literatur- und Medienwissenschaft. Jüngst erschienen ist die Studie TAT/ORT. Das Unheimliche und sein Raum in der Kultur im Zürich-Berliner Verlag Diaphanes. https://schnittstellen.me
(Stand: 2020)
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