ILMA RAKUSA

DAS BEGEHREN DES BLICKS — ADRIAN LYNES LOLITA

ESSAY

Eine Szene hat es mir besonders angetan: Als Humbert Humbert (Jeremy Irons) seine Lolita (Dominique Swain) nach Jahren wieder sieht – sie ist verheiratet, schwanger, eine biedere kleine Hausfrau – und in seinem Blick die ganze vergebliche Leidenschaft aufflammt: Freude, Schmerz, Obsession, Trauer. Ein langer Blick durch staunend braune Augen. Bergeversetzend, möchte man sagen, wenn er nicht so unerwidert bliebe. In diesem einen Blick und seinem fehlenden Pendant verrät sich die Tragödie einer verbotenen, unhaltbaren Liebe, die an sich selbst zugrunde geht.

Doch zunächst zur Vorgeschichte. Der Film erzählt sie linear und schlank, nach einem Skript, das Vladimir Nabokovs skandalös-genialen Roman Lolita (1955) auf sein Gerüst reduziert, um Sinnlichkeit und Psychologie ganz den Bildern zu überlassen. Beibehalten ist die Ich-Form des Berichts: Humbert Humbert legt – post festum, für das Gericht, vor dem er sich für den Mord an seinem Rivalen Clare Quilty zu verantworten hat – seine Lebensbeichte ab. Wir erfahren von seiner Jugendliebe zur vierzehnjährigen Annabel, die blutjung an Typhus stirbt und zum Inbild der begehrten Kindfrau wird. Und schliesslich von seiner schicksalhaften Begegnung mit dem Nymphchen Dolores Haze alias Lolita, bei dessen Mutter, in einer amerikanischen Kleinstadt, sich der Literaturprofessor einmietet, um an einem Buch zu schreiben. Es ist Liebe auf den ersten Blick. (Und dieser erste Blick wird von Adrian Lyne ebenso zelebriert wie der letzte, fünf Jahre später.) Humbert kann sein Auge von dem hübschen, frechen Balg nicht abwenden. Die Kleine ihrerseits kokettiert, provoziert, wird zärtlich und draufgängerisch. Er verfällt ihr im Handumdrehen. So sehr, dass er ihre verwitwete Mutter heiratet, nur um in ihrer Nähe bleiben zu können. Charlotte liebt Humbert, Humbert liebt Lolita, Lolita liebt die Verführung. Das kann nur schief gehen. Das erste Opfer lässt nicht auf sich warten: Als Charlotte aus Humberts Tagebuch die Wahrheit erfährt, wirft sie sich unter ein Auto. Humbert wird zum allein erziehenden «Daddy» – und bald schon zum Liebhaber.

Das ungleiche Paar begibt sich auf Reisen. Im geräumigen Auto, in Hotels und Motels entkommt es dem Alltag bürgerlicher Normalität, um sein höllisches Paradies zu leben. Die abenteuerliche Tour endet Monate später im Beardsley College, wo Humbert doziert und Lolita zur Schule geht. Doch die Umgebung wird zur Herausforderung. Lolita emanzipiert sich, knüpft Freundschaften und eine heimliche Beziehung zum Schriftsteller Clare Quilty. Humbert rast vor Eifersucht. Jeder erpresst den andern auf seine Weise: Sex für Geld, Geld für Treue und Verschwiegenheit, ein Duo infernal, fatal aneinander gekettet. Um sich Erleichterung zu verschaffen, reissen sie wieder aus. Diesmal bestimmt Lolita, wohin die Reise geht. Ihre Vorstellungen sind exakt, ihr Timing präzis. Humbert wundert sich und schöpft definitiv Verdacht, als sie von einem Wagen verfolgt werden. Seine Paranoia wächst. Er lässt die Kleine nicht mehr aus den Augen. Einmal entwischt sie ihm, und ihr rot verschmierter Mund bringt ihn zur Weissglut. Er fällt über sie her, weint, schreit: Wer ist es? Sie bleibt stumm und lächelt rätselhaft. Immer schneller wird die Abfolge von Streit und Versöhnung. Bis Lolita sich mit einem Trick aus der Falle befreit. Sie täuscht Krankheit vor, lässt sich hospitalisieren – und ist am nächsten Morgen fort. Verschwunden ist sie, «Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta. – Sie war Lo, einfach Lo am Morgen, wenn sie vier Fuss zehn gross in einem Söckchen dastand. Sie war Lola in Hosen. Sie war Dolly in der Schule. Sie war Dolores auf amtlichen Formularen. In meinen Armen aber war sie immer Lolita.»

Drei Jahre später erreicht ihn ein Brief von ihr. In ungelenker Handschrift und verlegen im Ton. Sie sei verheiratet, sei schwanger, sie brauchten Geld. Anrede: Dear Dad. Unterschrift: Dolly (Mrs. Richard F. Schiller). Datum: 18. September 1952. Er zögert nicht. Setzt sich ins Auto und fährt los. Nicht ohne seinen «kleinen schwarzen Kumpel», einen Revolver, mitzunehmen. Das besagte Industriestädtchen liegt rund achthundert Meilen von New York entfernt. Zur Adresse muss er sich durchfragen. Endlich steht er vor dem Haus und klingelt.

Sie öffnet. Das Gesicht ungeschminkt und bebrillt, roter Pferdeschwanz, einfache Hauskleidung, Pantoffeln. Ungläubig sieht sie ihn an, als wäre sie geblendet. Und lächelt kindlich, verlegen. Er schaut nur, schaut (lange Kameraeinstellung, sekundiert vom musikalischen Lolita-Leitmotiv), als könnte er sich an ihr nicht satt sehen. Verschlingt sie mit dem Blick, der langsam zu lächeln beginnt. Jeremy Irons’ gebanntes, verklärtes Schauen treibt Dominique Swains Lolita in die Enge. Sie senkt den Blick auf die über dem vorgewölbten Bauch verschränkten Hände. Und sagt, um das Schweigen zu brechen: «Komm rein.»

Nun stehen sie im billigen Dekor eines kleinen Einfamilienhauses. Dick wisse von nichts, Dick, ihr Mann dort draussen. Und er: Wer der andere gewesen sei. Aber Clare Quilty natürlich, sagt sie mit Unschuldsmiene. Der einzige Mann, nach dem sie verrückt gewesen sei. Pause. «Und ich?», fragt Humbert/ Irons erwartungsvoll. Statt einer Antwort sieht sie ihn nur an. Gleichgültig, verdrossen, unbeteiligt. Mit verwässerter Verwunderung. Swains Blick drückt aus, was Nabokov so beschreibt: «Sie betrachtete mich, als begreife sie auf einmal die unglaubliche – und irgendwie langweilige, verwirrende und unnötige – Tatsache, dass dieser ferne, elegante, schlanke, vierzigjährige, kränkliche Herr in der Samtjacke, der da neben ihr sass, jede Pore und jeden Follikel ihres halbwüchsigen Körpers gekannt und vergöttert hatte. In ihren blassgrauen, fremdartig bebrillten Augen spiegelte sich sekundenlang unsere arme Liebe wieder, wurde abgewogen und verworfen wie eine öde Party, wie ein verregnetes Picknick, zu dem nur die grössten Langweiler gekommen waren, wie eine schale und lästige Übung, wie eine Kruste trockenen Schlamms, der ihrer Kindheit anhaftete.»

That’s it. Humbert/Irons jedoch wird den verklärten Blick des Liebenden nicht los. «Ich konnte mich nicht satt sehen an ihr, und so genau, wie ich wusste, dass ich sterben müsse, wusste ich auch, dass ich sie mehr liebte als alles, was ich auf Erden je gesehen oder mir vorgestellt oder irgendwo erhofft hatte. Sie war nur noch das schwache Echo [...] des Nymphchens, auf dem ich mich früher schreiend gewälzt hatte; [...] aber Gott sei’s gedankt, es war nicht nur dieses Echo, das ich anbetete.»

Die Blicke, die Gefühle der beiden sind inkompatibel, das Missverhältnis ruft nach Missverständnis. Nur mag der Liebende es nicht einsehen. In tollkühner Verkennung der Lage macht er Lolita/Swain den Vorschlag, ihm zum alten Wagen zu folgen und für immer glücklich mit ihm zu sein. Sie schaut entgeistert: «Du bist verrückt.» Bleibt nur noch das Kuvert mit dem Geld; sie nimmt es strahlend. Und endlich begreift er, dass es wirklich vorbei ist und Zeit zu gehen.

Die Abschiedsszene zeigt seine abgrundtiefe Einsamkeit. Durch die Windschutzscheibe des Autos betrachtet er sie, wie sie ihm von der Schwelle aus zuwinkt – diese siebzehnjährige Frau, bieder und brav und dennoch seine Lolita. Wir sehen abwechselnd Irons’ Augen und das Objekt seiner unbezwingbaren Begierde, das sich plötzlich unter seinen Blicken zu verwandeln beginnt. Nicht mehr die schwangere Mrs. Schiller steht da, sondern die zwölfjährige Lo – übermütig, sommersprossig, mit roten Zöpfen und hellblauen Shorts, eine Vision des Glücks.

Das filmische Bild führt die Illusion so glaubwürdig vor, dass das Wissen um den Trugschluss für Momente ausgeblendet scheint. Doch die Tragödie ist längst perfekt, der Nachsatz blosse Zwangsläufigkeit. Humbert wird seinen Rivalen Quilty brutal erschiessen, im Gefängnis landen und dort an Herzversagen sterben. Während sein geliebtes Nymphchen die Geburt des Kindes nicht überleben sollte.

Schwer zu sagen, wo der Wille endet und das Schicksal eingreift, wo die Grenze zwischen Liebe und Perversion, zwischen Prägung und Freiheit, zwischen Phantasma und Realität verläuft. Es gibt Sehnsüchte, die sich gegen jede Evidenz behaupten, und Leidenschaften, die blind machen. Humbert/Irons sieht – auch als das Spiel definitiv verloren ist –, was sein Begehren projiziert. Beseligender Missbrauch des Auges, to say the least.

Ilma Rakusa
geb. 1946, Schriftstellerin, Übersetzerin, Publizistin, Lehrbeauftragte am Slavischen Seminar der Universität Zürich. Zuletzt erschienen von ihr die Bände: Langsamer! (Graz 2005), Durch Schnee. Erzählungen und Prosaminiaturen (Frankfurt a. M. 2006), Zur Sprache gehen. Poetikvorlesungen (Dresden 2006); www.ilmarakusa.info.
(Stand: 2009)
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