FRANCESCO LARATTA

HILDES REISE (CHRISTOF VORSTER)

SELECTION CINEMA

Als Steff aus der Tagespresse vom Tod seines ehemaligen Liebhabers Martin «Hilde» Hilder erfährt, hat er noch keine Ahnung, was durch das Testament des Verstorbenen auf ihn zukommen wird: Der Industriellensohn vermacht ihm eine Wohnung und diverse Bankkonti – mit der Bedingung, seine Asche in den Atlantik zu streuen. Martins Familie stellt sich quer, er soll gefälligst auf das Geld verzichten, und die Urne gehöre ins Familiengrab. Steff lässt sich schliesslich auf einen Deal ein und erhält eine Abfindung. Rex, Martins letzter Liebhaber, reagiert wutentbrannt auf den «Verrat» und bringt die Urne in einer Nacht-und-Nebel-Aktion gewaltsam in seinen Besitz. Bevor er sich in die Bretagne aufmacht – die Urne auf dem Beifahrersitz –, schaut er kurz bei Gina, Martins bester Freundin, vorbei und trifft dort überraschenderweise auf Steff. Dieser sucht nach der Urne, da ihm nun seine Abfindung streitig gemacht wird. Nach der nicht gerade friedlich verlaufenen Begegnung rollt der Wagen weiter in Richtung Frankreich – in ihm sitzen Rex und Steff.

Werden sich der störrische Rex und der eher reservierte, scheinbar gefühlskalte Steff verstehen? Wird Steff möglicherweise versuchen, Rex auszutricksen, um die Urne zu entwenden? Der Drehbuchautor und Regisseur Christof Vorster führt hier zwei Persönlichkeiten zusammen, die auf den ersten Blick äusserst gegensätzlich zu sein scheinen. Doch in einem Punkt sind sie sich ähnlich: Gemeinsam ist ihnen eine triste, durch den schmerzlichen Verlust noch intensivierte Einsamkeit. Während Steff seit der Trennung von Martin jegliches Liebesgefühl im Sog eines anonymen und schnellen Sexlebens ertränkt, quält sich Rex zusehends mit seinem Selbstmitleid und seiner unbändigen Wut, Ausdruck seiner Hilflosigkeit gegenüber der eigenen, unablässig präsenten HIV-Infektion. Hildes Reise entpuppt sich folglich als eine ganz persönliche, nach innen gerichtete Reise der beiden Protagonisten. Es ist kein Zufall, dass Steff und Rex in der ersten Nacht in einem Kloster übernachten. Und obwohl sie die Frage des Mönchs, ob sie Pilger seien, verneinen, ist klar: Um Seelenheil geht es hier allemal.

Eine weitere Station auf ihrer Reise ist der Gay-Club King’s Garden. Einst Steffs und Martins Vergnügungsstätte, ist vom Club nicht mehr viel übrig – vor ihnen liegt eine Ruine. Einzig einige erotische Wandmalereien erinnern an die bewegte Vergangenheit. Diese trostlose Kulisse lässt Steffs Tränen endlich fliessen, sie stehen ebenso für den Verlust einer grossen Liebe als auch für das Aids-Trauma der Schwulenszene. Hildes Reise ist ein berührendes Roadmovie über Vergangenheitsbewältigung, emotionale Selbstfindung und Freundschaft. Die stimmungsvollen Bilder, der gut gewählte Soundtrack und die überzeugende Besetzung garantieren ein Kinoerlebnis mit Tiefgang.

Am Schluss stehen Steff und Rex eng umschlungen und schauen aufs Meer hinaus, zu ihren Füssen liegt die offene Urne. Welle für Welle fliesst die Asche langsam ins Wasser – Hilde ist am Ziel seiner letzten Reise angekommen.

Francesco Laratta
geb. 1977, Studium der Publizistik, Italienischen Literaturwissenschaft und Philosophie an der Universität Zürich. Lebt und arbeitet als Kulturjournalist in Zürich.
(Stand: 2006)
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