DORIS SENN

PAUL S’EN VA (ALAIN TANNER)

SELECTION CINEMA

17 SchülerInnen der Genfer Schauspielschule spielen sich selbst in einem «Stück», dessen Angelpunkt ein verschwundener Philosophieprofessor mit Namen Paul ist. Präsent ist der Alt-68er trotz seiner Abwesenheit mit philosophischen und revolutionären Texten, die seine Schüler und Schülerinnen lesen, diskutieren, rezitieren – und mit einer Reihe emblematischer Aufgaben, die er für sie hinterlassen hat. Was nach spröder Theater-Etüde tönt, entpuppt sich als aussergewöhnlich atmosphärischer Film. Zwar atmet er unmissverständlich den Geist der Siebzigerjahre und erinnert an die Meisterwerke von Alain Tanner und auch Jean-Luc Godard, doch ist weit davon entfernt, als verstaubtes Relikt zu wirken. Im Gegenteil: Die talentierten Schauspiel-Eleven kreieren – mit ungewöhnlich filmischer Präsenz – in ihren Rezitationen von Heidegger bis Brecht, von Pasolini bis Paz und von Artaud bis Rimbaud äusserst intensive Momente.

Gesprochen werden die Texte in Alltagssituationen und -umgebungen: im Bett, beim Frühstück, an der Demo, beim Spazieren, im Schulzimmer. Manchmal sind sie eingebettet in ein kleines fiktionales Szenario, manchmal sind sie direkt an die Kamera gerichtet. Die rezitierten Auszüge haben nichts Papierenes, sondern entwickeln sich – dank der Leistung der DarstellerInnen – wie philosophische Reflexionen in den Raum hinein. Unschwer sind immer wieder Versatzstücke von Tanners früheren Filmen zu erkennen, seien es Plot Points – wie etwa, dass Pauls Verschwinden an Charles mort ou vif? (1969) erinnert –, seien es Charaktere – die TankstellenshopVerkäuferin, die ihren abgebrannten KollegInnen aus der Patsche hilft wie Rosemonde in La salamandre (1971) – oder Drehorte – etwa der Weg entlang der Rhone, den wir aus Fourbi (1996) kennen.

Das Drehbuch stammt von Tanner und Bernard Comment, einem renommierten Schriftsteller, Essayisten und Tabucchi-Übersetzer. Trotz des stark fragmentierten Aufbaus – ein Prolog, vier Kapitel, die alle wiederum nach einzelnen Tagen unterteilt und nach Autoren benannt sind – und der EnsembleStruktur – mehr oder weniger 17 ProtagonistInnen – ergibt sich in einem unbeschwerten Sich-von-Szene-zu-Szene-Tollen ein anregender dramatischer Spannungsbogen. Für die filmische Qualität bürgt die Kamera von Denis Jutzeler, der schon verschiedentlich mit Tanner zusammenarbeitete: Beschwingt bewegt sie sich durch die Szenen, umschmeichelt die Figuren; immer in Bewegung und doch ruhig, schält sie Charaktere heraus, umwirbt sie, um sie dann wieder freizugeben. Die Musik von Michel Wintsch (Violine, Klavier, Cello und Perkussion) schafft dafür den entsprechenden Klangraum.

Bei Tanner kreisen die meisten seiner Filme um die Vermittlung von Wissen, das Weitergeben von Erfahrungen über Generationen hinweg. Und auch in Paul s’en va steht diese Tradierung im Zentrum: Die SchauspielerInnen werden zu buchstäblichen «WortführerInnen» in dieser inspirierten filmischen Umsetzung des Altmeisters, der damit seinerseits der jungen Generation die Hand reicht.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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