FRANCESCO LARATTA

LA DIGA (FULVIO BERNASCONI)

SELECTION CINEMA

Einsam kurvt ein Auto durch die karge Tessiner Berglandschaft. Die Ärztin und alleinerziehende Mutter Elena und ihre achtjährige Tochter Giorgia überbrücken die Fahrt mit unterhaltsamen Ratespielchen. Ziel des kurzen Ausflugs ist die Besichtigung eines Hauses, das ihnen nach Tante Carolinas Tod vermacht wurde. Noch ahnen die zwei nicht, was sie im Bergdorf Bosco Lais erwartet, doch bereits bei der Hinfahrt häufen sich beunruhigende Zeichen. Eine irritierende Begegnung – im Tunnel winkt ihnen vom Strassenrand plötzlich ein eleganter Mann mit kaltem Lächeln zu – wird aber sogleich als flüchtige Sinnesverwirrung abgetan. Weitere Erscheinungen suchen Mutter und Tochter aber mit zunehmender Intensität heim, und selbst dem unaufmerksamen Zuschauer wird schnell klar: In dieser Gegend hat sich in der Vergangenheit etwas Furchterregendes abgespielt. Ob es allenfalls mit der Legende der Teufelsbrücke zusammenhängt, von der Elena ihrer Tochter auf der Hinfahrt erzählt? Der Geschichte nach baute der Teufel höchstpersönlich zum Preis einer Menschenseele eine Brücke. Wer als Erster die Brücke betreten würde, so die Abmachung, verliere seine Seele. Die bauernschlauen Dorfbewohner schickten anstelle eines Menschen einen alten Geissbock und überlisteten so den Teufel.

In der Tat hängen die «Halluzinationen» mit einer ähnlichen Geschichte zusammen, welche den Bau des Staudamms von Bosco Lais, aber auch Elena und Giorgia direkt betrifft. Mit misstrauischen Blicken werden die beiden im Dorf beäugt. Die Leute geben sich zugeknöpft – ganz offensichtlich wird in Bosco Lais ein Geheimnis gehütet. Am Stammtisch wird über die unerwünschten Neuankömmlinge rege disputiert. In der Nacht nach Elenas und Giorgias Ankunft stürzt ein alter Mann von der Brücke, in der darauf folgenden wird ein weiterer Dorfbewohner ertrunken aufgefunden. Die Anspannung steigt, und Elena wird forsch gebeten, Bosco Lais so schnell wie möglich zu verlassen. Schliesslich wird sie sogar mit Gewalt aus ihrem eigenen Haus getrieben. Zu Hilfe kommt ihr der nette Staudammwächter Gabriele, der Elena mehr als ein bisschen Sympathie entgegenbringt. Es stellt sich heraus, dass Giorgia, die Elenas verschollener und vergessener Zwillingsschwester aufs Haar gleicht, der Grund für das seltsame Gebaren der Dorfbewohner ist. Als sie plötzlich verschwindet, muss Elena handeln und der Geheimnistuerei ein Ende setzen.

Der Regisseur Fulvio Bernasconi greift in La diga tief in die Trickkiste des Thrillergenres. Mit viel Suspense, unheimlicher Musik und verstörenden Halluzinationen wird das Lokalmärchen angereichert. Nicht selten aber setzt er sich über das massvolle Spurenlegen hinweg, und spätestens beim weinenden Mariawandbild ist es zu viel des Guten. Das durchaus solide Drehbuch hätte gern auf die ein wenig aufgesetzt wirkende Liebesgeschichte zwischen Elena und Gabriele verzichten können. Lobenswert bleibt das Projekt, einen Schweizer Thriller zu drehen, auf jeden Fall – nicht zuletzt durch die Sequenzen mit gespenstisch schaukelnder Handkamera und dank dem überzeugenden und erfrischend natürlichen Spiel der HauptdarstellerInnen.

Francesco Laratta
geb. 1977, Studium der Publizistik, Italienischen Literaturwissenschaft und Philosophie an der Universität Zürich. Lebt und arbeitet als Kulturjournalist in Zürich.
(Stand: 2006)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]