DANIEL DÄUBER

GARÇON STUPIDE (LIONEL BAIER)

SELECTION CINEMA

Zwei Männer treffen sich nachts auf einem Parkplatz: ein die Kamera führender Erzähler, den man nur hört, und der junge Loïc. Während der Gefilmte, vertraut mit im Internet angebahnten Dates, gleich zur Sache kommen will, interessiert sich der Filmer für den Menschen, dessen Ziele und Träume, will nicht den schnellen Sex. Zögerlich lässt sich Loïc auf das Experiment ein.

Die Kamera begleitet fortan den jungen, ziellos lebenden Mann. Er stammt aus der Provinz, verdient seine Brötchen in einer Schokoladenfabrik und streift für seine sexuellen Abenteuer in der Grossstadt umher. Wenn er nachts den letzten Zug nach Hause nicht mehr erwischt, kann er bei seiner besten Freundin übernachten. Die Studentin arbeitet im Museum, wo Loïc sie oft besucht. Dort quatschen sie dann, blödeln herum. Obwohl seine Sexbekanntschaften frei von Gefühlen sind, hält er sich für schwul. Diese Überzeugung gerät ins Wanken, als die Freundin mehr Zeit mit einem Studienkollegen verbringt als mit Loïc. Er reagiert eifersüchtig, die Situation spitzt sich dramatisch zu.

Die Schilderung lässt eine klar strukturierte Handlung vermuten. Tatsächlich kann sich der Autor nicht recht entscheiden, wo er den Schwerpunkt setzen will. Während das Gespräch zwischen dem Interviewer und Loïc anfangs viel Raum einnimmt und die Lebenseinstellung des jungen Mannes sowie dessen erotische Anziehungskraft reflektiert, kristallisiert sich nach der Hälfte des Films eher der Konflikt zwischen dem Protagonisten und seiner besten Freundin heraus. Seine sexuelle Identität, seine Pläne – all das wird in Frage gestellt.

Doch als ob Baier nicht ganz auf diese Problematik vertrauen würde, führt er eine weitere Figur ein: einen Fussballspieler. In diesen verknallt sich Loïc, verfolgt ihn fast wie ein Stalker, drängt sich in dessen Leben. Das läuft eigenartigerweise ohne grosse Widerstände von Seiten des Verfolgten ab. Doch die Verbindung findet ein jähes Ende, weil der Fussballer Frau und Kind hat. Am Schluss steht Loïc allein da. Nicht ganz: Da ist noch Lionel, der Erzähler hinter der Kamera, dessen Kopf man nun kurz sieht, während er Loïc auf einem Riesenrad filmt.

Geschickt hält der Regisseur und Autodidakt Baier, der mit La parade (2002) erstmals auf sich aufmerksam machte, die Balance zwischen Fiktion und Realität. Ist es Lionel Baier, der in den jungen Mann verliebt ist, ihn überallhin verfolgt, selbst Intimes filmt? Ist es der Erzähler oder am Ende der Zuschauer?

Die Dialoge von Garçon stupide wirken manchmal etwas improvisiert, eine gewisse Straffung hätte ihnen gut getan. Zudem versucht die Filmmusik zuweilen überdeutlich, die Stimmung zu unterstreichen. Die Explizitheit mancher Szenen wirkt leicht voyeuristisch, wobei aber gerade sie die Unmittelbarkeit des Films und somit die Anlehnung ans «Dokumentarische» unterstreichen. Man könnte sagen, dass Garçon stupide mit seiner leichten Unentschlossenheit einfach konsequent seinen Protagonisten widerspiegelt: Er weiss nicht, was er werden will. Bloss so viel: Ein dummer Junge will er nicht (mehr) sein.

Daniel Däuber
*1966, hat in Zürich Filmwissenschaft studiert, unter anderem für die Schweizer Filmzeitschreiften Zoom und Film geschrieben und arbeitet zurzeit als Filmredaktor beim Schweizer Fernsehen.
(Stand: 2011)
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