Die Solothurner Filmtage, der grösste und wichtigste Filmanlass für die schweizerische Filmbranche, entstanden vor vierzig Jahren während eines Wochenendes in Solothurn. Der über tausend Mitglieder zählende Filmklub Filmgilde Solothurn organisierte damals eine Tagung zum Thema «Schweizer Film heute». Im Zentrum der Diskussion stand die Frage nach der Erneuerung des Schweizer Films. Aus England kam das Free Cinema, aus Frankreich die Nouvelle Vague und aus Deutschland der Junge Deutsche Film.
Und in der Schweiz? Die Spielfilmeinfuhren erreichten 1964 mit 99,8 Prozent Spitzenwerte. Die Schweiz war somit ein filmkolonialisiertes Land. Die politische und öffentliche Anerkennung für die einheimische Produktion war höchstens Spielfilmen vorbehalten, die in der Tradition der «geistigen Landesverteidigung» standen. Jüngeres, nichtkonformes und innovatives Filmschaffen fand praktisch keine Beachtung. Die Tagung in Solothurn hatte deshalb zum Ziel, auf dieses Filmschaffen hinzuweisen und gleichzeitig auch den «alten Schweizer Film» definitiv zu entsorgen.
Auslöser für diese radikale Haltung war das Jahr 1964. Henry Brandt stellte an der Expo seine fünf auf die Realität bezogenen Kurzfilme La Suisse s’interroge (Die Schweiz im Spiegel) vor, in denen die intakte helvetische Fassade dementiert und demontiert wird. Im selben Jahr entstanden zudem der Dokumentarfilm Siamo italiani von Alexander J. Seiler in Zusammenarbeit mit June Kovach und Rob Gnant wie auch Les apprentis von Alain Tanner. Diese Filmschaffenden wagten es, die Lebensbedingungen der billigsten Arbeitskräfte in unserem Land ungeschminkt darzustellen. Es kristallisierte sich mit diesen Filmen ein personeller und inhaltlicher, ideologischer und produktionstechnischer Neubeginn des Schweizer Films, der unter dem Markenzeichen Neuer Schweizer Film und dem Produktionssystem Cinéma Copain in Solothurn deklariert, vorgestellt und diskutiert wurde.
Diese Aufbruchstimmung und mit ihr auch die klare ideologische Grundhaltung der Filmschaffenden gegenüber ihrem Werk und dessen gesellschaftlicher Verantwortung war der Grundstein, auf dem das «Filmwunder Schweiz» der Siebzigerjahre baute. Im europäischen Raum feierte der Autorenfilm Erfolge, in der Schweiz aber musste die Anerkennung mühsam errungen werden. Da die Filme in den Kinos kaum ein Publikum erreichten, sprangen Filmclubs in die Bresche und organisierten Vorführungen in Gemeindesälen; die ersten Kellerkinos entstanden. Die Filmtage halfen entscheidend mit, dass die Filmbranche ihr Podium erhielt, um ihre eigenen Angelegenheiten zu diskutieren und auf sie hinzuweisen. Auch die Zusammenarbeit mit dem ebenfalls in diesem Jahr jubilierenden CINEMA begann. Regelmässig auf die Filmtage hin erschienen Texte zur Situation des Neuen Schweizer Films, Bestandesaufnahme und Reflexion zugleich, wichtige Zeitdokumente für die Geschichtsschreibung der Filmkultur in unserem Land.
Die kämpferischen Auseinandersetzungen und die publizierten Pamphlete weckten bald das Interesse der Medien, die bereits fünf Jahre später feststellten, dass «die Schweizer Filmer – das haben sie erneut bewiesen – nicht eine Clique halbwüchsiger und fanatischer Trampeltiere im dritten Trotzalter» waren (Der Bund, 26. Januar 1970). Die Filmtage selber aber hatten in Solothurn einen schweren Stand. Zwei Jahre später, bei den 7. Solothurner Filmtagen, wurden in Leserbriefen und Rundschreiben an führende Leute von Erziehung, Politik und Wirtschaft vor den Filmtagen und ihren Gästen gewarnt: «Die Filmtage sind ein Tummelplatz von jugendlichen Erneuern, von linkem, subversivem Gesindel, einer skurrilen Jugend, die sich in ihrer Zielsetzung weitgehend einig war: die Zerstörung unserer Gesellschaft mittels filmischem Einfluss» (Solothurner Zeitung, 31. Januar 1972). Knapp zehn Jahre später qualifizierte ein Polizeileutnant den Anlass als «Aufheizung der Situation, wie sie schlimmer nicht sein könnte» (Solothurner Zeitung, 24. Januar 1981) und in dieser Form würden die Filmtage der Stadt nichts mehr bringen – ausser Ärger. Anlass dieser Äusserung waren die Nachwehen der Zürcher Jugendunruhen. In einer kalten Filmtagenacht wurde die Altstadt flächendeckend mit Sprayereien versorgt. Der Filmkritiker der Solothurner Zeitung notierte: «Nach den Filmtagen machte folgende Frage die Runde: ‹Was ist Mut?› Antwort: ‹Wer jetzt in Solothurn in ein Farbengeschäft geht und eine Spraydose kaufen will.›» (Solothurner Zeitung, 26. Januar 1981) Heute, nach der vor vier Jahren öffentlich gestellten und diskutierten Grundsatzfrage, ob Solothurn für die Filmtage noch der richtige Standort sei, ist das frostige Klima gewichen. Die Filmtage möchte man in der Kulturstadt nicht mehr missen, wohlwissend, dass dies der grösste und bekannteste Anlass der Region ist.
Der lange Atem der Organisatoren hat sich gelohnt. Als sicheren Wert stellten sie den Platz für die «Landsgemeinde» der Filmbranche zur Verfügung. Nebst dem kontinuierlichen Ausbau der Filmtagewoche und der Rückeroberung der lokalen Kinos als offizielle Spielorte zieht dabei auch der Film aus der Schweiz seinen Nutzen. Während einer Woche ist das Filmland Schweiz das bestimmende Thema in den Medien und indirekt auch in der Politik; der Film als Spiegel der Befindlichkeit einer Gesellschaft hat immer auch eine politische Dimension. Obwohl im Vergleich zu den bewegten Jahren das freudige Debattieren in Solothurn an Bedeutung verloren hat, setzen die Filme Lichtpunkte in unser multikulturelles Land. So vielfältig die Kulturen und Ethnien sind, so vielfältig und reich sind auch die Filme, die hier realisiert und von denen eine Auswahl an den Filmtagen im «Forum Schweiz» präsentiert werden. Hier stehen verschiedene Filmgenres gleichberechtigt auf dem Programm, werden Bilder projiziert, die erfreuen, schmerzen, zum Nachdenken und Handeln auffordern. Deshalb, und dies sehr bewusst, haben sich die Filmtage von Anfang an auch für das ausländische Filmschaffen interessiert: Regisseure wurden eingeladen; mit spezifischen Filmgenres wie dem Film für ein junges Publikum, einer Auswahl von internationalen Kurzfilmen oder mit der kürzlich eingeführten «Invitation – ein Filmland stellt sich vor» werden bereichernde Akzente gesetzt. Diese Reihen fördern den Diskurs über unsere Landesgrenze hinaus, öffnen den Blick, stellen unsere Themen in einen weiteren Kontext und ermöglichen den Kulturaustausch. Diese Erweiterung bedeutet nicht, dass sich die Filmtage von ihrem Schwerpunkt, dem Schweizer Filmschaffen, lösen wollen. Im Gegenteil. Wie in den Gründerjahren steht der gesellschaftlich relevante Film im Vordergrund, der Film, der Geschichten erzählt, die mit unserer Wirklichkeit zu tun haben, der Schuldige beim Namen nennt und ruhig auch provozieren darf, ja soll! Das Interesse eines emanzipierten Publikums an solchen Werken, gerade an den Filmtagen, beweist, dass die Zeit dafür nie stillgestanden ist, hingegen aber der Mut bei den Filmschaffenden selber und den Filmförderstellen in der auf kommerziellen Erfolg ausgerichteten Welt nachzulassen scheint.
Vor vierzig Jahren wurden in Solothurn noch ein paar «relativ gute Filme aus der kleinen Schweiz» (Peter Bichsel in der Weltwoche, 4. Februar 1966) gefordert. Mit der Demokratisierung der Filmherstellung durch die digitalen Bildträger, ähnlich dem Super-8-mm-Film in den Siebzigerjahren, und mit der systematischen Grundausbildung an Hochschulen für Gestaltung und Kunst entsteht nun jährlich ein Mehrfaches davon. Für einen überzeugten Kämpfer für eine prosperierende Filmkultur in der Schweiz ist es allerdings schmerzhaft, feststellen zu müssen, dass mit dem reichen Filmerbe der vergangenen vierzig Jahre keine vertiefende inhaltliche Auseinandersetzung darüber stattfindet, welche Filme wir in der Schweiz tatsächlich wollen. Filmfinanzierung und Filmwirtschaft bestimmten und bestimmen auch heute noch die Diskussionen – in Solothurn wie auch während dem Jahr.
Die Solothurner Filmtage verstehen sich als Katalysator und Seismograf der Filmproduktion in der Schweiz. So werden seit jeher Themen aufs Tapet gebracht, welche die Gegenwart reflektieren, aber auch die nahe Zukunft umschreiben wollen. Durch die Integrativwirkung des Anlasses – die nationale Branche wie auch die Filmpolitik ist anwesend – werden Projekte und Ideen ausgetauscht, die bei anderen Gelegenheiten vertieft und umgesetzt werden. Die Filmtage als Ort der Begegnung sind ein Schmelztiegel und treten den Beweis an, dass es eine Filmkultur gibt und ihr Forum beliebt und nötig ist.
Es ist bezeichnend, dass sich vor allem kleinere Länder wie die Niederlande, Dänemark, Tschechien, Österreich oder eben die Schweiz «nationale Filmfestivals» gönnen, wohl gerade wegen der überschaubaren und im internationalen Vergleich kleinen Filmproduktion. Die ideelle und kulturelle Wertschöpfung bei den Filmen selber, wie auch bei den jeweiligen Filmfestivals, fällt positiv auf und trägt zu einem «nationalen Selbstbewusstsein» bei, zeigt, dass die Schweiz keine Erfindung einer Werbeagentur ist. Der meist nicht kompetitive Rahmen dieser Festivals, der ungezwungene Kontakt untereinander und zum Publikum machen solche Anlässe zu einem Filmfest. Auffallend ist auch, dass diese Feste nicht in Grossstädten stattfinden, sondern eher in mittleren und kleineren Orten, dort, wo man meint, die Uhren gingen ein bisschen langsamer. Überblickbare Strukturen, motivierte Organisatoren sowie das daraus entstehende familiäre Umfeld sind der Boden für fruchtbare Begegnungen und Diskussionen. Die Dichte der Informationen und der persönliche, bis tief in die Nacht dauernde Austausch darüber öffnen den Sinn, den Geist und auch das Herz, wie die in Solothurn an den Filmtagen entstehenden Liebesgeschichten unübersehbar verraten.
Eine Gesellschaft, die sich stets verändern muss, wenn sie lebendig bleiben will, kann auf diese Filme und auf ihr Podium in Solothurn nicht verzichten. Im Gegenteil. Solothurn hilft mit, dass die Schweiz, das Modell einer Kulturengemeinschaft, den Dialog pflegt. Trotzdem muss sich die Institution Solothurner Filmtage auch programmlich verändern und den Spielraum nutzen können, den sie sich während vier Jahrzehnten erarbeitet hat. Strukturelle Neuerungen, die sich vor allem auf die Abspielstellen und auf interne Geschäfte der Organisation beziehen, wurden in den letzten zwei Jahren vorangetrieben und umgesetzt. Diesen Anpassungen zu Gunsten einer effizienten und fitten Organisation, die auch nach der Reorganisation nur mit grossem Idealismus betrieben werden kann, steht die Frage gegenüber, wie sich die Solothurner Filmtage in programmlicher Hinsicht weiterentwickeln und positionieren wollen.
Diese Debatte steht im Raum und sollte mit Lust und Ideenreichtum geführt werden. Sich selber immer wieder konstruktiv in Frage zu stellen, zeugt vom Willen, sich zu verändern, neue Wege zu suchen. Wohin sich die Solothurner Filmtage entwickeln, ohne zu einem x-beliebigen Filmfestival zu verkommen, bleibt ein Abenteuer.