Professionelle Sorgfalt: Uli der Knecht (Franz Schnyder, 1954)
Die sieben Gotthelf-Verfilmungen unter der Regie von Franz Schnyder, welche zwischen 1954 und 1964 in die Schweizer Kinos gelangten, waren allesamt grosse Publikumserfolge. Die nachfolgende 68er-Generation hingegen sah in diesen Werken kaum mehr als «rückwärtsgewandte Bauerngeschichten», welche in ihrer Erstarrtheit den Mief der Fünfzigerjahre spiegelten. Mittlerweile hat sich die Situation entspannt, eine freiere Sicht auf die Filme ist möglich geworden. Uli der Knecht, 1954, im Gründungsjahr der Zeitschrift CINEMA, als erster Film der Reihe gedreht, war vor knapp zwei Jahren in einer restaurierten Kopie wieder am Fernsehen zu sehen (mittlerweile ist auch die DVD-Ausgabe erschienen).
Es war nicht allein die Qualität des digital restaurierten Filmbildes, die anlässlich dieser Ausstrahlung faszinierte. Die sorgfältig ausgewählten Schauplätze, die perfekt ausgeleuchteten Dekors, die Schauspielerführung (in den Hauptrollen Hannes Schmidhauser und Lilo Pulver), die Folgerichtigkeit des Drehbuchs, die Präzision und die Schlagfertigkeit der Dialoge waren mehr als nur technische Dreingaben. Und das ganze Werk war eingebettet in eine Harmonie und Weitsicht, wie sie im Film am besten von der «Glungge-Bäuerin» (Hedda Koppé) verkörpert wird. Sie ist es auch, die Vreneli und Ueli, die beiden Jungen, welche permanent mit sich selbst, mit ihrer Umwelt und mit ihrem möglichen Partner hadern, erfolgreich ermahnt: «Dass dir zwöi zäme ghööret, das wüsse si im Himu obe scho lang.»
Der ethnografische Blick: Quand nous étions petits enfants (Henry Brandt, 1961)
Die meisten Filmschaffenden des so genannt Neuen Schweizer Films waren Autodidakten. Henry Brandt hatte in Neuenburg Literaturwissenschaften studiert, danach in La Chaux-de-Fonds als Mittelschullehrer unterrichtet und parallel dazu während der Fünfzigerjahre in Afrika eine Reihe abendfüllender Dokumentarfilme gedreht. 1961 brach er in den Neuenburger Jura auf, ins La-Brévine-Tal, um dort im abgelegenen Weiler Les Taillères mit seiner 16mm-Kamera ein filmisches Porträt der Gesamtschule zu zeichnen.
Quand nous étions petits enfants ist eine ebenso einfühlsame wie nüchterne Langzeitbeobachtung. Es geschieht eigentlich nichts Spektakuläres im Film. Drei Kinder werden neu eingeschult, nach einem fast endlosen Winter spriessen die ersten Pflanzen, einmal kommt der Arzt zu Besuch, einmal der Polizist, später macht eine Hausiererin im Ort Halt. Es gibt ein Dorffest und eine Theateraufführung, und immer wieder bemüht sich der Lehrer Charles Guyot, allen Schülern und Schülerinnen gerecht zu werden. Am Schluss des Films treten vier Jugendliche «ins Leben hinaus». Indem Brandt seine Kamera auf die so genannt kleinen Vorfälle richtete, gelang es ihm, von den grossen Dingen zu berichten. Hier, im unvoreingenommenen Dokumentieren, liegen Anfänge des Neuen Schweizer Films, und diese Qualität hat der einheimische (Dokumentar-)Film seither erfolgreich gepflegt und weiterentwickelt.
Leben als (Kunst-)Revolte: Chicorée (Fredi M. Murer, 1967)
Die ersten Beiträge der Schweizer Filmschaffenden, welche sich seit 1966 alljährlich in Solothurn zu einer Werkschau trafen, standen fast ausnahmslos im Zeichen der 68er-Bewegung. Fredi Murers halbstündiger Experimentalfilm Chicorée setzt sich lustvoll mit kleinbürgerlichen Zwängen auseinander. Mit ironischem Augenzwinkern, in holzschnittartigen, schwarzweissen Familienszenen, werden Sauberkeitswahn, Büroleerlauf oder religiöse Rituale aufs Korn genommen.
Diesen Sequenzen stehen innerhalb des Films in poppigen Farben die Aktionen des Künstlers und «Underground-Poeten» Urban Gwerder gegenüber, ein Besuch in einem Spiegellabyrinth, eine verfremdete Tell-Inszenierung oder eine Bildkomposition, die sich alsbald selbst zerstört. Es geht um Autonomie, Freiheit und Anarchismus. Programmatisch verabschiedet sich Fredi Murer von der institutionalisierten Politik, selbst wenn diese für einmal oppositionell daherkommt: Die Manifestanten einer (Friedens?-)Demonstration bewegen sich alle rückwärts, nur der listige Poet schreitet munter voran, schwarzlockig unter dem breiten Filzhut, im blutroten hochgeschlossenen Jackett und ein Transparent mit der Aufschrift «Wollt ihr den totalen Urban?» vor sich hertragend.
Ausbruch aus dem Latschenladen: La salamandre (Alain Tanner, 1971)
Das Drehbuch zu La salamandre, von Alain Tanner zusammen mit John Berger zu einer Zeit verfasst, in der ein engagiert-kritisches Filmschaffen auf ein solidarisches Kinopublikum im In- und Ausland zählen konnte, war brillant. Vordergründig geht es um die Frage, ob Rosemonde mit dem Karabiner auf ihren Onkel geschossen hat. Pierre und Paul, zwei Schreiberlinge (Jean-Luc Bideau, Jacques Denis), rekonstruieren den Fall, der eine als geplante Reportage fürs Fernsehen, der andere als Stoff für ein Buch. Doch die kriminalistische Enquete gerät bald in den Hintergrund zugunsten des Blicks auf die Arbeitsund Lebensbedingungen der jungen Frau. Und Rosemonde (Bulle Ogier) erteilt ihren akademisch-ungelenken Freunden eine Lektion bezüglich Selbstbestimmung. Der ständigen Schikanen überdrüssig, quittiert sie als erstes ihren Job an der Wurstmaschine.
Eine neue Anstellung in einem Schuhgeschäft, dem Latschenladen, wie ihn das Trio nennt, verbessert die Situation nicht wirklich. Die Ladeninhaberin mutmasst, ihr eigener Sohn habe ein Auge auf Rosemonde geworfen. Diese hat mittlerweile zwischen Freunden und Feinden zu unterscheiden gelernt und verabschiedet sich kurz vor Weihnachten von ihren Arbeitgebern: «Au revoir, Monsieur, au revoir, Mademoiselle». Sie tritt auf die Strasse hinaus und schwimmt nun gegen der Strom – frei.
Das Schweigen der Väter: Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. (Richard Dindo/Niklaus Meienberg, 1976)
Ernst S. war der erste von insgesamt 17 Landesverrätern, die im Zweiten Weltkrieg in der Schweiz hingerichtet wurden. Richard Dindo und Niklaus Meienberg zeichneten in ihrem Dokumentarfilm, der auf einer kurz zuvor erschienenen Reportage von Niklaus Meienberg basierte, die Geschichte eines «Verschupften» nach, eines apolitischen Lumpenproletariers, der für eine Spionageangelegenheit schwer zu büssen hatte. Die damals Beteiligten haben das Wort, die Brüder von Ernst S., der Vormund, ein paar Dienstkameraden, die im November 1942 die Exekution durchführen mussten, sowie die Schlummermutter aus St. Gallen (im Bild der «Kasten», die enge Unterkunft von Ernst S.).
Auch mehr als dreissig Jahre nach dem Vorfall stiessen Dindo und Meienberg vielerorts auf eine Mauer des Schweigens. «Lohnt sich das?», fragte beispielsweise der Staatsanwalt, der seinerzeit das Todesurteil gefordert hatte. «Ist der Ernst S. eine derart wichtige Persönlichkeit?» Doch die Filmautoren liessen nicht locker und begingen dabei, wie sich herausstellen sollte, einen Tabubruch: Indem sie in ihrem Film die Verhältnismässigkeit des Todesurteils anzweifelten und zu bedenken gaben, ob es nicht gravierendere Fälle von Landesverrat gegeben habe, überschritten sie den Kanon der 1976 zulässigen Fragestellungen. Allein der Verdacht von Gesinnungsjustiz genügte, um einen Proteststurm gegen den Film auszulösen. Von «Manipulation», «geistigem Terror» und «Hinterhältigkeit» war auf jener Seite die Rede, welche systematisch jegliche Mitwirkung am Film verweigert hatte.
Abheben: Les petites fugues (Yves Yersin, 1979)
Kühl ist der Empfang, der dem pensionierten Knecht Pipe, bereitet wird. Er, der mehr als drei Jahrzehnte stets zur Stelle war, wenn man ihn rief («J’arrive»), ist an diesem Morgen zum Bahnhof aufgebrochen, um das Moped in Empfang zu nehmen, das er sich mit seiner AHV-Rente erstanden hat. Auf dem traditionellen Bauernhof hat man wenig Verständnis für die Flausen des Alten (Michel Robin), am wenigsten John, der Bauer, und dessen Frau Rose. Aber auch Alain, der Sohn, der den Hof übernehmen soll, und seine Schwester Josiane blicken skeptisch.
Doch das glänzende Fahrzeug von Pipe bringt die Hierarchie des Betriebs aus dem Lot. Mit Hilfe von Luigi, dem italienischen Saisonnier, erlernt Pipe, das Gleichgewicht auf dem Moped zu halten. Bald schon unternimmt er Entdeckungsfahrten in die nähere und weitere Umgebung. Unvergessen ist die Einstellung, in der er eine Waldschneise hinauffährt und unversehens abhebt, über die Wipfel der Bäume hinweg, ins nächste Tal hinüber, wo golden die Sonne und die Weizenfelder leuchten. Später wird sich Pipe einen weiteren Lebenstraum erfüllen: Er fliegt zum Matterhorn. Doch das ist jetzt nur noch Dreingabe: Den verdutzten Helikopterpiloten weist er an, den Flug vorzeitig abzubrechen. Da oben habe es ja bloss Geröll, schiebt er erklärend nach, er, der mittlerweile selber das Fliegen erlernt hat.
Experimentieren mit Video: I’m Not a Girl Who Misses Much (Pipilotti Rist, 1988)
Spätestens seit dem Aufkommen des Videoformats zu Beginn der Achtzigerjahre kann in der Schweiz kaum noch von einer einheitlichen Filmszene gesprochen werden. Pipilotti Rists siebenminütiges Video I’m Not a Girl Who Misses Much variierte eine Zeile aus dem Beatles-Song «Happiness Is a Warm Gun» fast bis zur Unkenntlichkeit. In einem Bild, das mit zwei, drei Ausnahmen unscharf gehalten ist, versucht eine junge Frau in einem tief ausgeschnittenen schwarzen Kleid (die Regisseurin selbst), im Tanz den richtigen Rhythmus zur Musik zu finden.
Doch mit ihren schlaksigen und hampelnden Bewegungen ist sie bald zu schnell, bald zu langsam, sodass das Bild immer wieder verzögert, beschleunigt, zurückgespult oder gänzlich neu gestaltet werden muss. Pipilotti Rist bezog sich auf Werbegrafik und Musikvideos und stellte gleichzeitig die Grenze zwischen Populärkultur und Bildkunst in Frage. Mit ihrer hochindividualistischen Bildsprache und Bildreflexion sprengte sie den Rahmen der Schweizer Filmszene. Ihre Videos sind denn auch weniger in einheimischen Kinos zu sehen, sondern als Installationen in Kunsthäusern von Amsterdam über Trevi oder Odense bis nach São Paulo.
Klanglandschaften: Ur-Musig (Cyrill Schläpfer, 1993)
Menschen, Töne und Melodien im Wechselspiel mit Landschaften und Alltagsverrichtungen. Ur-Musig zerlegt den komplexen Begriff «Volksmusik» in seine Bestandteile und arrangiert die Komponenten neu in unendlichen Kombinationen, und dies mit einem Soundtrack, der süchtig macht. Es ist der Film für die einsame Insel, ein Film, der nichts mehr erklärt, sondern «nur noch» zeigt und akustisch erlebbar macht. Und wir sind eingeladen, die Höhepunkte wie auch die Widersprüche selber zu erspüren, etwa dann, wenn die Kamera in einer Werkstatt beim Soundcheck für ein repariertes Schwyzerörgeli über historische Fotos gleitet, um in der Spraydose beim Insektenbekämpfungsmittel zu landen.
Im Appenzellerland formiert sich eine Kapelle und spielt Streichmusik. Daheim unterrichten die weitgereisten Cracks der Volksmusik ihre Kinder. Res Gwerder, mit seiner unvermeidlichen «Krummen» der heimliche Star des Werks, lauscht aufmerksam den Weisen seines Schwyzerörgelis, eine Einstellung, die in eine Aussenszene übergeht, in der der Musiker und Komponist das Vieh im frühabendlichen Nebel in den Stall geleitet. Ur-Musig ist ein Film über eine Schweiz, wie sie vielleicht nicht mehr lange besteht. Aber, wer weiss: Vielleicht trägt dieser Film etwas zu ihrem Überleben bei?
Film als Vermächtnis: Spuren verschwinden (Walo Deuber, 1998)
Die grösste je da gewesene jüdische Lebenswelt lag bis ins 20. Jahrhundert mitten in Europa. Speziell auf dem Gebiet der heutigen Ukraine waren viele Dörfer und Städte mehrheitlich von Juden bewohnt. Ab Juni 1941, nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion, wurde dieser Kosmos vernichtet. Das Ausmass der Vernichtung hier, wie auch im Baltikum und in Weissrussland, ist erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sichtbar geworden. Erst zu diesem Zeitpunkt konnten die wenigen Überlebenden von ihren Erfahrungen berichten. Walo Deubers Film gab ihnen eine Stimme.
Ein Massengrab im Wald von Drohobycz, etwas ausserhalb von Lemberg, in der Westukraine. Allein hier fanden zwischen 1941 und 1944 über 12 000 jüdische Menschen ein grausames Ende, und der Atem stockt einem noch heute, wenn aus dem Tagebuch des Gestapo-Einsatzleiters zitiert wird. Die wenigen Überlebenden durften in der Sowjetunion während Jahrzehnten nicht über ihre Erfahrungen sprechen. Einsam haben sie ihre Erinnerungen bewahrt. Für sie, die sich nun erstmals mitteilen können, sind die Erinnerungen ein Tor zur Erlösung. Für uns Verschonten oder Nachgeborenen setzen sie einen wichtigen Nachtrag ins Gedächtnis, gerade auch in jenem Moment, wo unweit des Massengrabs von 1941 eine neue Grenze zwischen Westund Osteuropa gezogen wird.
Herzflimmern und Ausblick: Summertime (Anna Luif, 2000)
In einem Land, in dem auch etablierte Filmschaffende Mühe haben, kontinuierlich in der Branche zu arbeiten, sind die Nachrückenden faktisch gezwungen, das Medium Film stets aufs Neue zu erfinden. Dabei entstehen glücklicherweise immer wieder so originelle Werke wie dieser Kurzspielfilm von Anna Luif. Darin muss die 13-jährige Schülerin Nadja (Marina Guerrini) ihre Sommerferien zu Hause in der Zürcher Agglomeration verbringen. Tröge zieht sich die Zeit dahin zwischen Bravo-Lektüre, Badeanstalt und Freundinnenknatsch.
Dann aber verliebt sich Nadja unsterblich in den gut aussehenden Piloten (Samuel Weiss), der im gegenüberliegenden Block wohnt (vom bevorstehenden Swissair-Grounding ahnte das Drehbuch noch nichts). Amüsiert folgen wir den pubertär-mutigen Annäherungsversuchen der Halbwüchsigen an den Angebeteten, ihren heimlichen Fotoaufnahmen und dem kecken Nachspionieren in der fremden Wohnung. Doch die Enttäuschung bleibt nicht aus: Der Pilot trifft sich mit seiner Freundin, ausgerechnet Nadjas (alleinerziehender) Mutter. Ein Hoffnungsschimmer bleibt indes: Der wortkarge, Fussball spielende Junge vom Sportplatz bekommt vielleicht doch noch eine Chance ...
Zehn Momentaufnahmen aus fünf Jahrzehnten zwingen zur Einschränkung. Doch hofft der Autor, mit obiger Darstellung der Vielfalt des Schweizer Filmschaffens seit 1954 gerecht geworden zu sein. Die Zeitschrift CINEMA hat den einheimischen Film in diesem Zeitabschnitt ständig und aus unmittelbarer Nähe begleitet. In diesem Sinne bleibt zu wünschen: Es lebe CINEMA, es leben die nächsten 50 Jahre Schweizer Film!