ISOLDE SCHAAD

PIRSCHENDES AUGE – REBELLISCHER KOPF — IN MEMORIAM ISA HESSE-RABINOVITCH, 1917–2003, FILMERIN UND MULTIMEDIA-KÜNSTLERIN DER ERSTEN STUNDE

ESSAY

Sie erschien und verschwand. Sie war keine Vernissagegängerin, diese eigenwillige Fee, und nie sprach sie von sich, schon gar nicht von ihrer Arbeit. Sie war mir schon früh aufgefallen, wenn sie auf- und wieder untertauchte in der Menge, die mir dann wie eine Meute erschien, wenn sie weg war. Sie hinterliess eine Spur, und ich wusste, ich würde die Spur einmal aufnehmen, um ihr in ein verlockendes, phantastisches Reich zu folgen. Es war eine Mädchenhaftigkeit um sie, dazu eine traumwandlerische Absenz, die nicht von dieser Welt war. Als ich sie kennen lernte, nannte ich sie eine Streunerin, was ihr sehr gefiel. Es muss mehr als ein Jahrzehnt her sein, als wir uns in der Tina-Bar am Hirschen in Zürich per Zufall begegneten, uns setzten und zum ersten Mal miteinander sprachen. Ich wusste bereits, dass sie eine sagenumwobene Künstlerin des Hesse-Clans war und als Pionierin des Frauenfilms weit über die Schweizer Grenzen hinaus bekannt. Wie schal, wie programmatisch kommen mir diese Attribute jetzt vor, wie Begriffskrüppel, die abprallen am Fluidum einer schöpferischen Persönlichkeit, als hätten sie nichts begriffen von diesem Werk, das ein Leben ist, und eine in der Schweiz seltene Existenzform, für Frauen dieser Generation nahezu unbekannt.

Da war ein Kind, das wollte spielen in dieser Frau, und so verdanken wir beiden, dem Kind und der Frau, ein blühendes Treibhaus, aus dem heraus Filmgeschichte entstand. Von Spiel ist immer wieder die Rede in diesem fluktuierenden Werk, das zwischen Zeichnung, Text, Fotografie und Film verkehrt wie ein Ausflugsdampfer im Sommer. Alles wirkt leicht in Isa Hesses Schaffen. Und nun wurde das Wort Spiel auch der grossen Monografie überschrieben (Isa Hesse-Rabinovitch: Das Grosse Spiel Film, Benteli, Bern 1998). Hier sieht man, dass es sich um ein ominöses Wort handelt und dass das Leben keineswegs so schwebend war wie ihr Werk: Das grosse Spiel Leben, das ist die Imprimatur einer Hoffnung, die man damals noch Utopie nennen durfte. Ihr Werken war jedoch eine ganz und gar unideologische Sache, atypisch für jene Zeit, und wenn schon, dann steckte ein Zweckoptimimus im Wort Utopie. Eine Fee darf durchaus Prinzipien haben, und sei es das Prinzip Leben an sich. Ich verstehe sie jetzt, viele Jahre später, wenn wir zusammen auf dem Kanapee sitzen, an einem der gemütlichen Orte in Isas Haus, und beide wissen, dass es nicht mehr viele von diesen intensiven Momenten geben wird, wenn wir zusammen in ihren Mappen blättern und eine aussergewöhnliche, eine reichbestückte Biografie an uns vorüberzieht. Ich verstehe die Botschaft vom Spiel: Im Vermächtnis von Isa Hesse-Rabinovitch soll stehen, dass alles viel leichter war, als es in Tat und Wahrheit gewesen ist. Wenn ich diese zierlich-zähe Person betrachte, im Fotoalbum, so sehe ich: Schon Klein-Isa war eine wild Entschlossene, eine furchtlose Traumtänzerin, das liegt in ihrer Geste, in ihrem Blick, und die Phantasie ist in dieser Vita immer stärker gewesen als das tägliche Einerlei. Im Unterschied zu den überlieferten Frauenbildern ist Isa nie das gewesen, was man sich unter einer ‹Frauenrechtlerin› vorstellt, sie hat auch nie dem Klischee einer Feministin entsprochen, obschon sie die Vorstellung eines zur Kunst befreiten Frauenlebens in der Schweiz dieser Generation am unmittelbarsten umgesetzt hat, wenn man ihren Jahrgang bedenkt, 1917! Halt doch Pionierin? Sie liebt dieses Wort nicht besonders. Doch anders ist das Werk einer Selfmade-Frau aus einem Künstlerhaushalt nicht denkbar. Sie besuchte nur rasch die Kunstgewerbeschule in Zürich, die Akademie der angewandten Kunst in Wien, mit Abstechern nach Graz. Das muss ein hastiges Frequentieren gewesen sein, in Zürich und Graz, wo ihre schriftstellernde Mutter Stephanie von Bach herstammt. Damit man so schnell wie möglich zum Eigenen vorstossen kann. Das Eigentliche aber liegt dann wieder näher beim Vater, dem Zeichner Gregor Rabinovitch, berühmter Radierer der antifaschistischen Exilkultur in der Schweiz der Zwanzigerjahre. Von ihm hat sie die Widerspenstigkeit, die pointierte Radikalität, die damals Kopfschütteln auslöste, auch in den vermeintlich fortschrittlichen Kreisen.

Das Unschweizerische ist Vater und Tochter in die Feder und den Fotoblick gefahren und hat ein Werk jenseits des begabten Durchschnitts hervorgebracht. Isa ist wörtlich auf dem ‹qui vive› mit den Ereignissen der Netzhaut, ganz im Sinne von Novalis, der die Netze auswirft, um zu fangen, um einen Fischzug von Fragmenten einzuholen. So hat es Isa täglich gemacht, zwischen Einkaufen und Windelnwaschen und den sonstigen Hausfrauenpflichten. Wenn mir dazu nun Bertolt Brecht einfällt und sein Gedicht vom Fisch, der Fasch hiess und nichts anderes sein wollte als der Fisch, der Fasch hiess, so ist das ein dummer Zufall, denn dieser Meister und Meisterklauer hat nichts in einer Emanzipation zu suchen, die sich in jener Zeit, da Brecht in Zürich war, eben daran macht, aus dem namensschweren Haus zu gehen, um selber kühn zu werden. Sogar an die Fronten der Weltpolitik ist sie gereist, zur Zeit des Sechstagekriegs zum Beispiel nach Palästina. Isa Hesse hat mit dem Fotoapparat jeden Schauplatz aufgesucht, immer im Alleingang. Geschafft hat sie nämlich wie ein Mann. Dazu verfügt sie über den notorisch weiblichen Instinkt und eine unbezähmbare Neugier. Von Talent ist nie die Rede im Gespräch. Dass das Talent die Voraussetzung ist, das ist für eine Fee so selbstverständlich, dass sie die Feststellung mit einer Handbewegung von sich schnippt. Wie eine Fussel vom Revers. Keine Angst gehabt, das heisst immer Angst gehabt, aber niemals Berührungsangst, sagt sie, wobei ich den letzten Satz im Stillen ergänze. Wie keine andere Schweizer Künstlerin dieser Generation hat Isa Hesse aus der Not der weiblichen Produktionsbedingungen, mit den Kindern und dem Mann an den Rockschössen – oder sagen wir am Hosenbein, da man sich Isa nicht in der Küchenschürze vorstellen kann – die Erfindung des Moments gemacht, das Experiment abgezapft, den Episodenfilm kultiviert, sodass es zuckt, zittert und blitzt in ihrem Werk. Und als eine Tugend hat das damals nicht gegolten in ihrem Fach, als der brave Dokumentarismus im Film vorherrschte, schon gar nicht in den sozial finsteren Jahren für Frauen in der Schweiz. Das war ein Schritt ins Offene, ein Wagnis ohne Rücksicht auf Verluste. Auch das linke Ideal hat sie nicht geschont, es an den real existierenden Verhältnissen überprüft, und ist von einer Reise nach Prag und in den ‹Ostblock› nüchtern heimgekehrt, doch ohne deswegen die Vision einer befreiten Gesellschaft zu opfern. Als Tochter eines jüdischen Intellektuellen ist sie schon früh pragmatisch und praktisch geworden, mit der Weltanschauung. Den Augenblick – klick! – registrieren, gerade dort, wo er stattfindet, die Gegenwart abzapfen, wo immer man sich aufhält, vielleicht mit dem Kinderwagen im Park vor einem Denkmal (Monumento Moritat, 1969). Oder im Postkarten-Dorf Ascona ins Wasser blicken und den Reflex der Häuserfront ablichten (Rot und Blau/Spiegelei, 1969). Oder einen Clochard zoomen, in einem Warenlift von Soho, N.Y. (Sirenen Eiland, 1981). Oder Mario Botta in den Ruinen des Grand Hotel Brissago zu Tische bitten (Geister und Gäste, 1989). Oder mit Gauklerinnen in den Zirkuswagen steigen (Schlangenzauber, 1984). Ein Leben lang Wachheit und Hunger. Hunger nach Sicht, Aussicht, Einsicht. Sehen und dann notieren, skizzieren, zeichnen, dichten, filmen, Arbeit ohne Schielen auf die Ernte, schöpferisch sein wie die Lilie auf dem Felde. Nach einem Lohn für Arbeit hat Isa Hesse nie gefragt.

Sie sieht aus wie das Mädchen aus dem Sterntalermärchen, noch jetzt, mit achtzig Jahren, man glaubt es kaum. Es muss an den Augen liegen, die jenes ungläubige Staunen enthalten, das an gescheiten Kindern im Fragealter entzückt, man ist verblüfft von diesem unglaublichen Blau, das noch immer unter den ein wenig schwer gewordenen, von Krankheit und Sorge verschatteten Lidern leuchtet, und nun einen Zug ins Spöttische hat. Da steht sie, eine zierliche, engelshaarige Lady in Trainerhosen, steht leicht eingeknickt, wie eine ehemalige Tänzerin vor ihrem Lebenswerk, und flucht. Und lacht, und seufzt. Es geht darum, Ordnung zu machen, das Leben aufzuräumen, das einem über den Kopf wuchert. Ihr Haus, ein Blockhaus mit modernem Anbau, erinnert eher an Vermont und amerikanische Künstlerkolonien als an die Bleibe einer Schweizer Filmerin. Es passt nicht ins Konzept der Küsnachter Goldküste, ist eher ein Trapperhaus aus dem künstlerischen Urwald, die Höhle einer Steppenwölfin, die jedoch eine ziemlich ordentliche Hausfrau ist und die Höhle pflegt und bekränzt mit Ideen und Geistesblitzen. An den Wänden hängen Poster, Plakate und prallbunte Blätter. Aquarelle, Zeichnungen, die Jugendwerke: Man erblickt darin das ‹Wunderkind›, dem alles unter der Hand gelingt, fern von dieser schweizerischen Tragik der Kunst, die in Isa Hesses Generation notorisch ist. Einer Erscheinung wie Isa Hesse hätte man in den braven Fünfzigerjahren die Anarchie, den eisernen Willen, das abspenstige Wesen wohl nicht zugetraut; diese Eigenschaften wuchsen lautlos in ihr heran, während sie nach aussen freundlich und bescheiden war, als Gattin, Hausfrau und Mutter. Doch verzog sie sich dann, so oft es ging, ins Treibhaus der Rebellion, wo ihre Ideengebilde wuchsen. Ach ja, der Feminismus! Isa bekommt einen fast mitleidigen Blick. Da stand sie, Mutter von drei Kindern, und wartete und wartete auf ihn, den Feminismus, der sie erlösen sollte, um den Kochlöffel in ihrer Hand mit der Kamera zu vertauschen. Ein leichter Spott liegt auf ihren Lippen, wenn sie mir schildert, wie die Zürcher Künstlerinnen jener Zeit dienstfertige Gattinnen waren, wenn man Gäste hatte, und es keinem Gast in den Sinn kam, die ergeben auftischenden Gattinnen nach Interessen oder Berufsarbeit zu fragen. Obschon die Gesellschaft der bildenden Künstlerinnen GSMBK bereits bestand; die ergebenen Gattinnen waren Mitglieder der ersten Stunde. Eben ist ein Kunstbuch mit Hermann Hesses Aquarellen angekommen, von Sohn Heiner herausgegeben, und Isa ist begeistert; von ihrem Schwiegervater hat sie immer viel gehalten, schon bevor er ihr Schwiegervater wurde. So viel, dass sie ihm als Teenager einen Brief schrieb, nach der Lektüre des Steppenwolfs, eine kritische Würdigung wars. Nun fällt mir das Wort ein, das ich suche, es heisst Unerschrockenheit. Angst vor Prominenz, vor irgendeiner Wichtigkeit berühmter Männer hat Isa Hesse nicht gekannt. Sie lebt ohnehin auf dem Seil, über dem Abgrund, sie ist Bewohnerin einer Zirkusmanege namens Leben, was sie spät im Alter noch aufs Trapez zwingt. Nur von dort oben lässt sich nämlich beurteilen, was gelungen ist, was taugt, um festgehalten zu werden, überliefert aus diesem Labor der bildnerischen, dichterischen Experimente. Alles hat sie gesammelt, von der Geburtsanzeige, dem ersten Brief mit Zeichnung vom ‹Rumpelstilz an den Opapa›, wo man das ‹Drama des begabten Kindes› schon kommen sieht, doch das Drama blieb dann aus. Ein Naturtalent mit unbeugsamem Willen hat es gezähmt. Man sieht das Naturtalent früh aus der erlernten Disziplin ausbrechen, aus der Schülerinnenschrift fallen, es steckt überall, dieses Naturtalent, es schaut aus frühen Gedichten, Fotos, Reiseberichten, Filmskizzen, Entwürfen hervor. Ein myriadisches Sammelsurium liegt jetzt vor uns ausgebreitet, man denkt an Harald Szeemanns Raritätenkabinett und dessen verschollene SchöpferInnen. Isa Hesse, das intellektuelle Pendant zu Emma Kunz und Armand Schulthess, ein Leben als Gesamtkunstwerk? Doch würde man falsch tippen, wenn man Isa Hesse in den Bereich der Esoterik oder der Art brut ansiedeln würde, dazu kommen ihre Projekte zu sehr aus einem alerten, wendigen, raschen Geist. Auch hätte ohne Planung und ohne Konzept ihr filmisches Werk nicht entstehen können. Aber es ist, als sei das Gehirn direkt in die Schaltstelle der Hand und des Auges gefahren und umgepolt worden, und kein Filter, kein Gelenk da gewesen, um das schöpferische Vorhaben abzurichten, einzudämmen, zu hindern und schliesslich zu schädigen, wie das sonst oft das Problem der Schweizer Kunst ist: Selbstverhinderung einer Begabung, die noch immer von Lehrern abstammt und eine schwache Identität in Skepsis und Selbstzweifel ertränkt. Nicht so bei Isa Hesse, der Unschweizerin. Bei ihr sprüht ungehemmt eine Frische, eine Kühnheit, ein Dynamik, die wir heute an der jungen Generation um Pipilotti Rist bewundern. Und es wäre weder Anmassung noch Entwürdigung, in Isa Hesse die Pionierin der Schweizer Videokunst zu sehen. Vielleicht mag sie sogar die Idee, zur künstlerischen Grossmutter von Pipilotti Rist gekürt zu werden? Doch ich frage nicht, will nicht stören. Die Konzentration, die nun die sprunghafte Isa beim Suchen nach dem richtigen Bild, dem richtigen Text, der richtigen Bildlegende, der richtigen Einstellung erfasst! Eine beseelte Besessenheit, die dann die Selbstvergessenheit als Glücksmoment hervorbringt.

Harald Szeemann müsste entzückt sein, warum ist er nicht da? Frage ich. Wo bleiben die Kunst- und Filmverwalter, die schon längst eine Entdeckung hätten machen können, hätte Isa bloss eine Lobby im Kunstbetrieb gehabt. Ein altes Frauenproblem, seit den ruchbaren Achtundsechzigerjahren, bis heute. Sie galt als unbequem, unstet, kapriziös, das durfte man damals nicht sein. Die Kunstkritiker und die Ausstellungsmacher lieben sie nicht, das weiss sie, denn sie hat nie einen Meister des Urteils anerkennen wollen. Wozu also jetzt noch diese ungeheure Anstrengung? Wenn die Kräfte den Körper verlassen, wenn der Kopf nicht mehr will, wenn man genug hat von der eigenen Hinterlassenschaft, von unausgekosteten Fährten, von allen Anfängen, die ein Ende im Ordner nahmen. Das eigene Leben schon zum Dokument erstarrt, schon erkaltet, hundertmal hat sie es referiert, durchgepaukt, wiedergekäut, nun hat sie genug. Zunächst fällt mir die Grausamkeit meines Gedankens nicht ein; denn das Wozu liegt auf der Hand bei einer, die glaubt, das höchste Gut verloren zuhaben: die Erinnerung. Und seit dem Unfall damals, als Isa Hesse mit dem Auto im Zürichsee gelandet ist, fast ertrunken wäre und durch ein Geschick, eine wunderbare Fügung, dessen Schutzengel sie selbst gewesen sein muss, gerettet wurde, wie so oft geborgen aus Wasser und Flammen. Die wesentlichen Dokumente sind nun gewellte Wasserlilien.

Seither wird diese ungeheure Anstrengung der Lebensanordnung zu einem täglich überprüften Puzzle, und jedes Teilstück wird gedreht, gewendet und getestet, immer wieder von vorn betrachtet, dieses Lebenskunstbündel. Es ist das Gepäck der letzten Reise und wird, zwischen Buchdeckel versorgt, ihr endgültig gültiges Vermächtnis sein. Es ist schliesslich und schlüssig der Widerruf des Flüchtigen, das ihre Lebenshaltung prägt. Dies ist die faktische Erinnerungsarbeit, sie muss ausgleichen, kompensieren, was nun der Körper ausmerzt, ja, aus der vertrauten Tagesbahn wirft. Nur der Hund blickt sie verständnisvoll an, er bleibt wissend an ihrer Seite. Ein unruhiger Geist hat sie seit jeher an die Arbeit getrieben, zur pausenlosen Beschäftigung, ‹man muss doch etwas machen, immer habe ich etwas machen müssen› ruft sie fast verzweifelt. Im Falle eines Talentes, das zu Gold spinnt, was es anfasst, oder je nach Laune zu Glitter und Tand, wird die Beschäftigung unter der Hand zu Kunst. Sie ist die genialische Autodidaktin, sie hat nie nach einem ‹Sinn› gefragt, und selbst wenn dieses erstaunliche Lebenswerk nichts anderes als eine therapeutische Funktion gehabt haben sollte – und ich frage, welche Kunst hätte das nicht? –, so ist es auch dann noch ein seltenes und unverdientes Geschenk einer Frau, die nie eine Hand frei gehabt hat und mit vollen Händen skizziert, notiert, fotografiert und gefilmt hat. Mit einem, zwei, dann drei Kleinkindern am Hosenbein, einem Hund an der Leine, einem Mann um den Hals, einem Liebhaber im Schrank, einem Helden im Kopf und, man höre gut: immer und selbstverständlich die Frauensolidarität im Köcher. Sie hat das Programm von damals gelebt, es waren die finsteren Fünfzigerjahre und dann die rebellischen Sechziger, worauf die theoriebewehrten Siebziger kamen, sie hat einen Feminismus ohne Federlesens praktiziert. Ohne Wenn und Aber, denn sie hat Frauen schon immer als die interessanteren Berufspartnerinnen empfunden. Der Mann ist der Sohn eines berühmten Vaters, was schon ein Problem an sich darstellt; doch ist er auch als Ehemann Frauenfreund und unterstützt sie durchaus beruflich, sagen nahe Bekannte. Doch Mann ist Mann für Isa Hesse. Der Mann als das ganz Andere, das Exotische, tauglich für die Sinnenfreuden, ein göttlicher Unterhaltungsbeitrag. Männer hat sie immer um sich gehabt, hat ihre Sinnlichkeit, ihre Fremdheit beobachten müssen. In ihren Fotos tauchen sie auf, Muhammed Ali und die Clowns, die Zirkusdirektoren, die Tigerbändiger, der Mann von nebenan. Der Mann, das ist der Körper. Für die Arbeit aber braucht es Frauen. Das Musterbeispiel eines ins Schöpfertum gekippten oder gar ins Himmlische emporgehievten Frauenloses? Nicht umsonst war sie mit Iris von Roten befreundet, die später das berühmte Buch Frauen im Laufgitter schrieb. Zusammen haben sie bei den Pfadfinderinnen die Welt auf den Kopf gestellt. Und gemeinsam haben sie für die SAFFA 58 kühne Pläne geschmiedet. Isa Hesse-Rabinovitch ist an der SAFFA, der ersten nationalen Frauenausstellung, unter anderem auch als Designerin der ersten farbigen Unterwäsche auf den Plan getreten. Auch ‹so etwas› war ihr nicht fremd. ‹Warum muss ein Film immer eine Handlung haben?›, reklamiert Isa in einem Statement über ihre Filmarbeit, um gleich die angestammten Regeln überhaupt in Frage zu stellen. Und natürlich versteht man gleich, wenn man die Person zu Gesicht bekommt, dass ein schwerfälliger Realismus nicht ihre Sache sein konnte. Isa ist ein nomadisches, ein polyglottes Naturell. Das hat ihr den Anfang vielleicht erleichtert, aber den Fortbestand ihres Schaffens, die Integration in die angestammte helvetische Filmkultur erschwert. Die Episode, nicht die Erzählung, wirkt stilbildend in Isa Hesses Schaffen, die Spontaneität der Methode. Die französische Leichtigkeit liegen ihr näher als der alemannische Bierernst oder die Tiefe der nordischen Seele. Als hätte Isa das surrealistische Manifest schon avant la lettre unterschrieben, und sei es, um daraus auszubrechen, wie sie aus jedem Programm ausbricht. So bleibt die Überraschung die einzige Gewissheit in ihrem Werk. Die Zeit für Pickelpornos und die Running Gags, wie sie der Videokunstboom nun feiert, war noch nicht reif, als Isa, die Mutter der Pipilottis, zur Kamera griff. Ihr schöpferischer Spontangeist fand zwar internationale Anerkennung (ihre grossen Filme liefen an internationalen Festivals und in New York), doch im Vaterland blieb er allein. Alles, was schön ist, also geliebt wird, muss dem eigenen Reich einverleibt werden. Zumindest muss ein Abguss, ein Stenogramm, ein Steckbrief davon hergestellt werden. Dann wird das Zeugnis des Schönen in der Schatztruhe versorgt, das ist ein Kabinett von organischen Formen. Fast ein antikes Kunstideal schlummert in Isas turbulenter, chaotischer Modernität. Haut und Hände sammeln, oder Augen, Zehen und Nasen dokumentieren. Aus Marmor oder aus Pelz nachgeahmt. Schnecken, Ammoniten, Fetische, Talismane, Schlangenhäute, Wolken, Himmelsbilder, Wasserreflexe, Regenbogen, Spiegelungen. Zweige, Pflanzen, Blattrispen festhalten. Blumendolden, Wäscheleinen, Mandolinen, Masken, Instrumente, Klaviere, Tastaturen, Gebäude, Ruinen, Natur und Kultur: Alles, alles hat ihr unersättlicher Formenhunger angeschafft und verarbeiten wollen. Das ist die Triebkraft gewesen, sagt sie unsentimental, ja, wie überhaupt die Sachlichkeit an dieser Fee zuerst berührt und dann überzeugt, manchmal zu viel Selbstbescheidung, nie ist es Koketterie. Eine wegwerfende Handbewegung. ‹Ich hab’s halt einfach gemacht›. Wie hat sie es denn gemacht? Das möchte man gerne wissen und wird es nie genau erfahren. Da war einmal die Lust an Apparaten, das Pröbeln, das Drehen an Knöpfen und Klappen, schon als Kind war sie von Funktionslust erfüllt. Das Ereignis, wie schwarze Schattenrisse auf dem Bildschirm sich plötzlich in farbige Gesichter verwandeln, das hat sie auf Trab gebracht. Isa ist früh fasziniert gewesen von allen technischen Neuerungen, von den medialen Möglichkeiten. Immer will sie alles ausprobieren, an die Hand nehmen und ‹machen›. Die Theorie ist nicht ihre Sache, oft bricht sie ihre Sätze ab. So viele Gedanken hat sie hinuntergeschluckt. In den Sechzigerjahren, als sie selbständig werden wollte, als sie Geld verdienen musste. Der Mann Heiner – nun schmunzelt sie, er war sehr attraktiv –, der Mann war ebenfalls Künstler und die Kunst damals sprichwörtlich brotlos; er hatte zwar eine Ausbildung als Dekorateur gemacht, doch wer wollte in Kriegs- und Krisenzeiten schon einen Dekorateur? Dann musste der Mann ins Militär; da gab es noch mehr zu schlucken, ja vielleicht ist ihr Werk ein einziger hinuntergeschluckter und ausgespuckter Gedankengang. Das Kleist’sche Muster schrieb sich ihrem Erlebnisdrang ein: Sie ist jemand, dem etwas zustösst, dem ‹etwas passiert›. Sie steht im Kreuzfeuer des glücklich/unglücklichen Zufalls und macht ihn produktiv. Ihre Methode bleibt ihr Geheimnis. Das Praktische muss ihr gegeben sein. Zum Beispiel: Eine Schlangentänzerin wird ermordet auf dem Autositz gefunden. Daraus macht Isa einen Film, dazu spielt Eislers Song So ist das Leben eben. Man muss die Gelegenheit beim Schopf packen und sie schöpferisch einspannen, wo immer man kann. Diese Unverblümtheit, zur Kamera zu greifen, ein Filmset zu erstellen in den Hinterhöfen der Welt; im Zwielicht der Demimonde Personen anzusprechen, sie zur Mitarbeit zu bewegen, diese Voraussetzung muss in einer wissbegierigen, kontaktfrohen Natur angelegt sein. Dahinter aber steht die Zweiflerin, die Grüblerin, und schüttelt den Kopf. Ich sehe, wie sie leidet, an diesem Überhang, an ihrem Überborden, an dieser genialisch aufgeladenen Lebensschutthalde. Wozu, frage ich wieder, schon stoisch, und Isa stampft fast hilflos mit dem Fuss auf, ja, man muss das doch in eine Form bringen, verdammt. Gerade weil man die Freiheit geschmeckt hat, das Abenteuer, ohne irgendeinen Massstab schöpferisch zu sein. Diesem Impuls, diesem ungeheuren Versuch muss man doch eine Gestalt geben. Damit dieser Palast der Ideen und Papiere nicht zu einem Kartenhaus wird, der lautlos in sich zusammensinkt. Kein Motiv zu banal, kein Ort zu unspektakulär, um sich in der Bewegung zu kristallisieren, sodass mans direkt fühlt, erfährt, wie das Leben, ja, ins Auge geht, ins Auge gehen könnte – oder schon ins Auge gegangen ist, wenn man den Sinn dieser Redewendung einmal neu interpretiert. Die Netzhaut tritt sichtbar hervor als der sehende Körperteil in ihrem Werk, in den Trailern tritt sie als Sehschlitz in Erscheinung, der sowohl in den Orkus als auch ins Paradies führen kann. Was für Isa ein und dasselbe ist. Das Auge beschwört, es ist mehr als eine Metapher, es ist eine sich verselbstständigende Allegorie, die auch an die Jung’sche Traumsymbolik erinnert. Es ist das Auge vor und hinter den Dingen, das durch das geschlossene Lid sieht. Es öffnet und schliesst sich mechanisch. Das Auge der Diseuse, der Bardame, der Schlangentänzerin, der Akrobatin, der Variétékünstlerin, des traurigen Concierge im Warenlift an der Bowery, es ist die Iris der Schaustellerei und des Zirkus, die Sicht des fahrenden Volkes, die sie in ihrem Werk zu Sprache und Ausdruck bringt. Das steht für das Auge-in-Auge-Sein mit dem gefährlichen Umfeld. Die gesenkten Lider der Darstellerinnen sprechen von den Furchtbarkeiten, aber auch von den Köstlichkeiten, von der Vergänglichkeit. Es sind Augen, die gesehen haben und einen Blick in den Abgrund taten, in diese schreckliche Wundertüte der Welt. In ihrem Kurzfilm über den Vater, den antifaschistischen Zeichner und Radierer, erhält diese Sehschärfe eine genealogische Herkunft. Der Vater sieht alles, er ist ganz Auge, so wie Isa ihn erkennt und filmt, in seinen unerbittlichen Selbstporträts ist der Vater der Blick an sich.

Seine Augen sind Leuchttiere der Dunkelheit; draussen hallt Waffengeklirr durch das Europa der Dreissigerjahre. Die Augen des Vaters sind politische Objektive, die in einer scharfen, an George Grosz erinnernden Schraffur wahrnehmen, was unbequem ist. Sie entwickeln einen Röntgenblick ohne das geringste Selbstmitleid. Sie sind erbarmungslos, die Augen des Vaters, und die Tochter hat sie umgepolt, als sie sich an das kleine Mädchen, den Blondschopf geheftet haben, die Tochter hat die Augen des Vaters gepackt, hat die Pupille umgedreht in der Höhle und für ihre eigenen Sehweise adaptiert. Den Blick des Vaters fortführen, durch das Umkrempeln mit den Mitteln des Films. Bis zum bitteren Ende, ohne Resignation, in letzter Konseqenz das Sehen üben, am Nächsten: Den toten Vater hat Isa, die Tochter, gezeichnet, fortgezeichnet, über den Tod hinaus, wie ein Selbstporträt liegt R. auf seinem Totenbett. Diese Zeichnung erinnert in ihrer Erkenntniskraft an Hodlers Darstellung seiner toten Geliebten Valentine Godet-Darel.

Im letzten Kurzfilm von Isa Hesse-Rabinovitch spielt ein blaues Auge die Hautprolle, es sitzt in einer blutunterlaufenen Visage, überblendet vom vertrauten gesunden Gesicht, dem alterslosen Gesicht, und ein märchenhaftes Lächeln spiegelt sich im chronisch referierten Albtraum, der die Geschichte eines Überfalls erzählt, wie er in den Polizeiakten der Metropolen steht, jeden Tag, dutzendfach. Das Schicksal einer alten Frau in Paris, die vor ihrem Hotelzimmer übermannt und geschlagen wird. Man erwartet, dass Isa mit der gewohnt leichten Hand der Betrachterin daraufhin die Türe in ein Panoptikum öffnet, und abfährt, in den Himmel oder die Hölle. Doch diesmal, das letzte Mal, bleibt eine geschlagene Frau auf der Erde, berichtend. Ein resignatives Selbstporträt? Ein Heulen und Wehklagen über das Schicksal der Frau im Patriarchat? Nichts dergleichen, denn Isa wäre nicht Isa, wenn sie selbst der Gewalt gegen Frauen nicht die Kunst entgegensetzte. Dieser Film ist eine Reduktion in letzter Konsequenz und wird darum essenziell. Er ist gleichzeitig Rapport und Parabel. Es ist eine dunkle Erzählung von den letzten Dingen, die sich in finsteren Treppenhäusern der Grosstadt abspielen, im Niemandsland. Man könnte den Film buddhistisch deuten, als die dem Osten abgewonnene Weisheit. Im Falle von Isa ist das nicht nötig, denn diese Künstlerin braucht keine Heilslehre für die Erkenntnis. Sie schmiedet das Blech der ordinären Lebenswelt zu Stoffen, die man anziehen kann oder bewohnen. Und wenn dann Isa persönlich als Silberengel auftritt, um mit dem Warenaufzug ins Nirvana zu fahren, das auch das Nichts ist – und ein wiederkehrendes Motiv des Hesse’schen Kurzfilms –, dann ist sie die Chronistin der Turbulenz mit dem Stilmittel der Ironie. Die Illusion ist alles, bekommt Flügel und lädt dieses irdische Jammertal auf, zu einer von der Muse angestifteten Luftfahrt. So stellt Isa Hesse-Rabinovitch ihre eigenen Votivbilder oder Mandalas her, Lebensbilder, die keine Götter neben sich dulden. Und falls doch, sind es Göttinnen. Das hindert nicht an Amouren mit Männern. Das fügt sie sozusagen in Klammern an. Der Mann als die wichtigste Nebensache der Welt. Isa lacht, sie liebt die Provokation noch immer, gerade im männerbeherrschten Filmbetrieb. Manchmal sind Männer auch Freunde geworden, zum Beispiel Hanns Dieter Hüsch, der Kabarettist, der so schöne Hände hat. Und diese Hände hat sie selbstredend fotografieren müssen und dann bemalen. Avantgarde im Einzelgang, das ist ein lebenslanger Kampf gewesen. Doch Isa wäre nicht Isa, wenn sie dann diese Feststellung nicht wieder wegschnippte, wie eine Fussel vom Revers – so ist das Leben eben.

Isolde Schaad
geb. 1944, Schriftstellerin. Zahlreiche Studienaufenthalte in Nahost, Indien und Ostafrika. 1997 Gastautorin einer amerikanischen Universität und in Ostafrika. Mehrere Bücher im Limmat-Verlag, wovon Küsschentschüss (1989) und die Zürcher Konstipation (1986) zu Bestsellern wurden. Für ihren Roman Keiner wars (2001) erhielt sie den Schillerpreis der ZKB. Im Herbst 2004 erschien Manns genug. Literatur und Geschlecht. Zehn Porträts aus der Gefahrenzone.
(Stand: 2005)
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