Ein Dorfplatz in der französischen Provinz. Der langsame Kameraschwenk von der Strasse im Zentrum endet auf einem grossen, blauen Lastwagen. Zweite Einstellung: der Lastwagen von vorne, bildfüllend, der Motor wird mit Getöse gestartet, das sechsachsige Gefährt beginnt sich zu drehen wie ein Tier. Es verlässt das Bild und gibt den Blick auf eine öde Industrielandschaft frei – die Kamera bleibt fix –, der Lastwagen tritt im Hintergrund wieder ins Bild ein. Titeleinblendung Le camion. Blick aus dem Lastwagen auf eine stark befahrene Autostrasse. Die warme, klare Stimme von Marguerite Duras aus dem Off: «Es wäre eine Strasse gewesen, die in der Nähe des Meeres eine grosse Ebene durchquert hätte. Und dann wäre ein Lastwagen angekommen, der ganz langsam durch die Landschaft gefahren wäre. Ein weisser Winterhimmel und ein leichter Nebel, überall gleichmässig verteilt ...». Die Autos gleiten tonlos an den Zuschauern vorüber, eine sanfte Diabelli-Variation ersetzt den Strassenlärm. Der Text spricht von einem ankommenden Lastwagen am Meer, während dieser im Bild erst abfährt; gesprochen wird der Text im Konditional zwei, in der Erzählzeit der Kinder.
Szenenwechsel: Die Autorin sitzt mit Gérard Depardieu an einem runden Tisch in ihrem Haus in Neauphle-le-Château, einem kleinen Dorf südwestlich von Paris; dort, wo viele ihrer Bücher entstanden sind. «Ist das ein Film?», fragt Depardieu zaghaft. Die Regisseurin hält ein Manuskript in den Händen und liest: «Es wäre ein Film gewesen.» Dann schaut sie zu Depardieu auf und bestätigt: «Es ist ein Film.»
Le camion (F 1977) ist bereits Duras’ neunte Filmproduktion und hebt sich von den vorangegangenen insofern ab, als die Regisseurin sich darin um keinerlei Produktionslogik mehr kümmert. Mit ihrer vehementen Ablehnung des kommerziellen Films sowie der geschlossenen Form, deren sich das klassische Erzählkino bedient, fühlt sie sich nur sich selbst verpflichtet. Ihr Ziel ist, das Kino zum Ort ihrer Literatur zu machen. «Man sollte sehen, was ich höre, wenn ich schreibe», erklärt Duras ihre radikale Methode.1 Film und Literatur zusammenbringen, und zwar auf eine bisher unbekannte Art und Weise, jenseits von Erzähltechnik und Psychologie, ganz dem Rhythmus und der Melodie verpflichtet: Dafür vertraute sie ihrer technischen Equipe, die – zu allem bereit – das Innovative von Le camion erst möglich machte. Duras’ Dekonstruktion filmischer Parameter schafft Zeit und Raum für einen Filmessay, in dem das Visuelle und das Akustische zu zwei autonomen Komponenten eines audiovisuellen Ganzen werden. «In Le camion können Bilder und Sprache aufeinander zeigen, weil sie voneinander abgerückt sind», erläutert Frieda Grafe diese neu geschaffene Autonomie von Bild und Ton.2 In den zahlreichen Gesprächen über ihren Film – ein integraler, bereichernder Bestandteil der Regiearbeit von Duras – erwähnt sie das Glücksgefühl, das Glück, mit Le camion Neuland zu betreten auf die Gefahr hin durchzufallen: «Ich habe niemals einen Film in einer so grossen Unsicherheit gemacht [...] Wir wussten nicht, wo wir mit diesem Film hingingen, mit der Virtualität zu Beginn und am Ende dieser Geschichte, die nicht stattfindet», erklärt sie in Le Monde anlässlich der Filmpremiere.3
Le camion evoziert eine ältere Frau, die Autostopp macht, und einen Lastwagenfahrer, der sie mitnimmt. Zu sehen sind abwechslungsweise Duras und Depardieu am Tisch sowie ein blauer Lastwagen, der durch einsame Landschaften Richtung Meer fährt. Erzählt wird im On und Off, mit Pausen, Schweigen und Zwischenfragen von Depardieu, die sich meist auf den zu lesenden Text beziehen, aber sich auch einmal darum drehen, ob jetzt eine Zigarette geraucht werden soll oder nicht. Die zeitliche und narrative Komplexität dieses so simpel anmutenden Stücks lädt unvermittelt dazu ein, sich zurückzulehnen und sich der angenehmen, etwas monotonen, aber äusserst rhythmisch gesetzten Stimme von Duras hinzugeben.
Wer sich auf dieses Spiel einlässt, dem steht eine ebenso geistreiche wie heitere Kinostunde bevor. Immer wieder werde ich als Zuschauerin informiert, wie und worauf die Frau im Film geschaut hätte. Die Frau spricht, der Mann hört zu. Sie fordert ihn zum Sehen auf: «Schauen Sie, das Ende der Welt.» Ein Ende, das eigentlich den Anfang meint. Denn Sehen und Angeschautwerden erfüllen in Duras’ Texten eine zentrale Funktion, die eine erwachsene und eine kindliche Komponente enthält: Wir sitzen im Kino, und eine Frauenstimme erzählt, was jemand gesehen hätte, der nicht sichtbar ist. Das Spezielle in Le camion ist, dass die Stimme dieselbe Distanz hat wie die von ihr evozierte Handlung: Als Zuschauer werden wir so in die Rolle des Kindes versetzt, das ins Gesicht der Mutter blickt, während sie ihm eine Geschichte erzählt. Der Blick als Beziehungsaufnahme zum begehrten Objekt ist auch der Blick des kleinen Kindes, das die Mutter und die Welt entdeckt – ein genuines Kinoerlebnis, das ganz auf die primäre Erfahrungsebene des Publikums verweist. Eine Ebene, die Duras auch durch ihr häufiges Sprechen vom Meer, Homophon von «mère» (Mutter), einbezieht. Es sind die unvermittelten Wechsel von Nähe und Distanz, mit denen Duras die Zuschauer in das Geschehen involviert. Der Wechsel von der intimen häuslichen Atmosphäre, vom Gesicht zur Landschaft, die an uns vorüberzieht und uns alternierend die Perspektive des Kindes und des potenziellen Lastwagenfahrers aufsetzt.
Armes Kino
Nicht der Mühe wert, nach Vancouver oder Melbourne zu reisen, um Melbourne und Vancouver im Film darzustellen, denn «alles ist in allem enthalten», formuliert Marguerite Duras ihr filmisches Credo und wendet sich damit gegen die realistischen Darstellungen so mancher Literaturverfilmungen.4 Auf keinen Fall darf das Kino die Virtualität von Duras’ Texten zerstören. Die Demontage der fiktionalen Illusion ist ihr polemisches Ziel und verleiht ihrem Kino, das mit wenigen visuellen Elementen und vielen Wiederholungen arbeitet, eine spartanische Kargheit. In Le camion spielen Licht und Farbe wichtige Rollen. Und es wird mit einer stark geometrischen Aufteilung des Bildraums gearbeitet. So bleiben die Landschaftseinstellungen konsequent zweigeteilt, gleich viel Himmel wie Erde, könnte man sagen. Nur der Lastwagen ist immer wieder anders verortet in dieser Symmetrie; so markiert er den Horizont oder halbiert die untere Bildhälfte. Nie erscheint der Fahrer des Lastwagens, doch oft nehme ich als Zuschauerin seine Position ein. Im Duras’schen Kino sprechen die Bilder nie für sich. Ihr Realitätsgehalt wird systematisch kommentiert: «Wenn ich Kino mache, schreibe ich, schreibe ich über das Bild, darüber, was es darstellen sollte, über meine Zweifel, was seine Natur angeht.»5 Das Sichtbare bleibt fremd und schafft immer wieder eine Distanz, die ganz der Phantasie des Publikums überlassen wird.
Film und Literatur
In Le camion führt uns die Schriftstellerin vor, wie Literatur und Kino koexistieren können, ohne dass die eine Kunst die andere dominiert. Die Regisseurin baut auf ihre Intuition. Sie geht von einem literarischen Text aus, den sie im Laufe der Dreharbeiten und der Montage immer wieder umschreibt. Den Text nennt sie das Drehbuch, doch bald wird klar, dass das Drehbuch auch ein literarischer Text ist. Denn: Wenn jemand lese, so sei dies schliesslich auch ein Bild. Die Lektüre im Film wird immer wieder unterbrochen vom blauen Lastwagen, der bald stumm, bald mit Musik oder Text unterlegt, karge französische Industrielandschaften und trostlose Vorortssiedlungen passiert; eine faszinierende literarische Metapher: «Im Film transportiert der Camion [...] zweiunddreissig Tonnen Geschriebenes, das gefällt mir. Das ist es, was ich das Bild nenne.»6 Einen kurzen Moment lang gibt ein Travelling den Blick frei auf den Innenraum der Kabine: auf das Lenkrad, die leeren Sitze, jenen des Chauffeurs und jenen der Autostopperin. Der Film beruht auf einer einfachen binären Blickstruktur, die akustisch untermalt ist von den Stimmen, insbesondere jener der Autorin, der Musik (Beethovens Diabelli-Variationen), wenigen Geräuschen – und immer wieder Pausen.
Die beiden realen Figuren: Duras, die im On und Off ihren Text liest, sowie der potenzielle Lastwagenchauffeur (Gérard Depardieu). Dieser sitzt ebenfalls am Tisch, hält den Text in der Hand und stellt ab und zu eine unbeholfene Zwischenfrage, fühlt sich offensichtlich unwohl in einer für ihn ungewohnten Rolle, die ihn zwingt, nicht zu spielen. Denn er hält das Drehbuch zum ersten Mal in der Hand, das ist Teil dieses Spiels. Keine Inszenierung, eine Lektüre mit zaghaften Zwischenfragen. Seine passive Rolle kompensiert Depardieu mit einer unumwundenen Bewunderung für das Tun und Treiben seiner Gegenspielerin. Dies verleiht ihm eine kindlich anmutende Unterwürfigkeit. «Der einzige schauspielerische Akt», so Depardieu, «hatte darin bestanden, mich auf dieses Unterfangen einzulassen.»7 Gérard Depardieu sollte später den Film gar retten, indem er ihn aus der Konkursmasse des Produzenten auslöste.
Le camion ist am Drehort und am Montagetisch entstanden, denn zu Beginn gab es nur einen Text, als vermeintliches Drehbuch. Dass dieser Text dann in Duras’ Haus von ihr selbst im On und Off gelesen wird und dem potenziellen Lastwagenfahrer sein Fahrzeug abhanden kommt, war nicht geplant. Ursprünglich sollte in der Fahrerkabine gedreht werden. Dafür hatte der Kameramann, Bruno Nuytten, die Kamera auf den Kühler des Lasters montiert und die beiden Türen ausgehängt. Bereits nach einem Tag wurde dieses Unterfangen jedoch abgebrochen, denn erstens war es viel zu kalt (Januar), und zweitens behagte die fixe Kamera nicht. Nuytten erinnert sich an die Anweisungen, die Duras am Abend des ersten Drehtages gegeben hat: «‹Gehen wir nach Hause, wir werden uns wohler fühlen bei mir, an der Wärme an einem runden Tisch – so rund wie das Steuer eines Camions. Du [Bruno Nuytten] wirst eine Schiene legen und von Zeit zu Zeit fahren.› So einfach war das, Marguerite duldete keinen Widerspruch.»8
So installierte sich das Team im Haus der Regisseurin in Neauphle-le-Château, dort, wo 1972 bereits Nathalie Granger entstanden war. Der Umzug von der winterlichen Strasse ins behagliche Haus verleiht den Passagen der ImBild-Lektüre eine Intimität, von der mehrheitlich die Autorin profitiert, denn so verschiebt sich die Handlung von der Strasse an den Tisch, der auch ihr Arbeitsplatz sein könnte. Die Idee, das «Drehbuch» vor laufender Kamera zu lesen, ohne auf den Lastwagen zu verzichten, entstand also erst während der Dreharbeiten.
Mit Le camion definiert Duras eine neue Art der Autorschaft. Sie ist nicht nur Texterin, Drehbuchschreiberin, Regisseurin, sondern ebenfalls Akteurin. Als solche stellt sie sich in ihrem Film zur Schau. Denn mit ihren damals 63 Jahren ist sie auch die alte Dame, von der in ihrem vielschichtigen Text die Rede ist. Es ist ihr offensichtlich wohl in ihrer Rolle; schelmisch und neugierig blickt sie zu Depardieu und in die Kamera. Sie kompensiert die im Text beschriebene Unsichtbarkeit der alten Dame, die den Lastwagenchauffeur als sexuelles Subjekt nicht mehr interessiert, die nicht mehr existiert, weil man sie sinnlich nicht mehr wahrnimmt. Der Geschlechterdiskurs, den Duras in Le camion führt, ist eine wesentliche Ebene. Es erstaunt, wie wenig in der Rezeption davon die Rede ist.
Nach der Katastrophe
In all ihren Filmen evoziert Duras eine Welt in Trümmern – nicht nur materielle, sondern in erster Linie zivilisatorische Trümmer, jene des Kolonialismus oder des Faschismus. Diese erzeugen in der Zuschauerin das Gefühl einer Zeit nach der Katastrophe. Julia Kristeva spricht von einer «Rhetorik der Apokalypse» in den Bildern und Texten von Duras.9 «Soll die Welt zugrunde gehen, das ist die einzige Politik», formuliert die Autostopperin ihr politisches Credo. Eine erfolgreiche Provokation: Mit Le camion hat Marguerite Duras 1977 in Cannes einen kleinen Aufstand provoziert. Nachdem India Song (F 1975) nicht in die offizielle Auswahl aufgenommen worden war, hat man ihr für diesen Film grosszügig einen Platz zugewiesen. Der Skandal war programmiert. Auf den Satz vom Untergang der Welt wird Duras 1980 in einem Interview mit der italienischen Zeitung Il Manifesto angesprochen: Ob sie denn – wie Pasolini – überzeugt sei, dass die Hoffnungen auf die Rettung der Welt sehr gering seien, will der Interviewer wissen. Nein, mit Pasolini wolle sie nicht verglichen werden, der habe einen soziologischen Ansatz vertreten, den sie nicht teile. «Ich lasse ihn einfach vor mir ablaufen, den Untergang der Welt, der da ist, vor der Tür, aber ich würde ihn nie theoretisieren. Ich bin mitten drin», situiert sie Ausgangspunkt und Standort ihres Schaffens.10
Doch das Zugrundegehen der Welt, das die Autostopperin dem Lastwagenchauffeur als ihre politische Utopie anpreist, ist nicht als Zerstörung, sondern als eine Möglichkeit des Neubeginns gemeint, als Rückkehr in die frühe Kindheit, eine Zeit jenseits der Traumata – auch das ein Ort von Duras’ Utopie. So verbindet sie das Politische mit dem ganz Privaten. In Le camion rechnet sie mit der kommunistischen Partei ab, aus der sie 1950 ausgeschlossen worden war. Dass sie als Parteimitglied sowohl ihre schriftstellerische Tätigkeit wie auch ihre akademische Bildung verstecken musste und man ihr vorwarf, sich nachts in Bars aufzuhalten, verzeiht sie auch im Nachhinein nicht. Ihre Figur des Lastwagenfahrers ist KPF-Mitglied. Auf die provokative Äusserung der alten Dame: «Karl Marx, das ist vorbei. Wissen Sie das?», antwortet der Fahrer mit der Bemerkung, ob sie vielleicht aus der psychiatrischen Klinik abgehauen sei. Eine Schlussfolgerung, die ebenso an totalitäre Regimes erinnert wie an die patriarchale Gesellschaft, die Künstlerinnen noch bis in die Moderne als Parias behandelte oder sie pathologisierte. Als Frau habe man immer Angst, falsch verstanden zu werden, und für eine Schriftstellerin sei es besser, die Angst vor dem Wahnsinn abzulegen, erklärt Duras in einem Gespräch mit Xavière Gauthier.11 Die Entfremdung der Frau in der männlich dominierten Kultur ist einer der autobiografischen Angelpunkte im Duras’schen Werk. Die Frauen stehen darin dem Wahnsinn näher als die Männer. Duras zählte nicht zu jenen Künstlerinnen, die sich hinter einer männlichen Identität verstecken: «Ich merke, dass ich über eine Frau spreche, wenn ich über mich spreche», sagt sie im bereits zitierten Gespräch. Dieses Bewusstsein machte sie freier im Umgang mit der Sprache – nicht Kohärenz, sondern Brüche, Wiederholungen und «eine heftige Ablehnung der Syntax», die der Leere Raum schafft.12
Auch bei Duras geht die künstlerische Produktivität einher mit einer zunehmenden altersbedingten gesellschaftlichen Unsichtbarkeit, die gewissermassen zum Ansporn wird. Doch Bitterkeit und Psychologie kommen bei ihr nicht vor. Ihre Protagonistin gehört zu jenen, denen das Alter neue Würde und neue Freiheiten verschafft – Autostopp zu machen etwa und zu singen. «Für mich verkörpert die Dame des Camions den Glanz des Alters. [...] Es ist nicht die Nähe des Todes, die sie beeinflusst, es ist die Freiheit, die sich einstellt im Wissen, dass der Tod nicht mehr sehr fern ist. Die Einsicht, dass die Vorsicht, die man ein ganzes Leben lang hat walten lassen, in Bezug auf das Sagen oder eben Nichtsagen von Dingen, die man denkt, definitiv zu nichts getaugt hat.»13